Neugier kann sehr müßig sein

Jutta Lietsch sprach mit V.S. Naipaul über Indien, lokale Unruhen und die Weltzivilisation  ■ 

taz: In Ihrem neuen Buches über Indien sagen Sie, es sei Ihnen gelungen, Ihre Nervosität vor Indien abzulegen und die Dunkelheit zu überwinden, die Sie von dem Land trennte...

Naipaul: Was habe ich genau gesagt, wo steht das...? Ah, die Dunkelheit. Dunkelheit in einem technischen Sinn. Wenn man ein Immigrant ist, liegt alles vor den unmittelbaren Vorfahren im Dunkeln. Eine historische Dunkelheit, die der Enkel des Einwanderers sieht. Die Vergangenheit ist weggebrochen.

Ihre Perspektive auf Indien ist von drei Welten bestimmt, die Ihr Leben prägen: die Ihrer indischen Vorfahren, Ihres Lebens in Trinidad und später in England...

Das ist zu simpel. Man darf Menschen nicht auf zu simple Dinge reduzieren. Wir sind nicht mehr so einfach, ich nicht, Sie nicht, niemand. Wir alle tragen heutzutage vier, fünf, sechs Identitäten, die bestimmen, wer wir sind. So könnte ich sagen, ich bin Inder, ich bin Hindu, aber ich bin auch geboren in Trinidad, ich habe meine Ausbildung in England erhalten, ich lebe in England, ich bin ein Schriftsteller... Ich habe keine Probleme damit, alle diese Ideen in mir zu tragen.

Aber prägt nicht diese Ihre Vergangenheit und Ihre Kombination von Identitäten eine eigene Perspektive?

Ich kann Ihnen nicht sagen, wie groß die Zahl der Menschen ist, die so sind. Die gesamte neue Welt setzt sich zusammen aus Menschen, die diese verschiedenen Ideen haben. Und die neue Welt umfaßt eine immense Zahl solcher Menschen. Es hört sich sehr schön an, wenn die Leute sagen, sie seien nicht dies, oder sie seien nicht das, weder das eine noch das andere, sondern sie seien gefangen zwischen zwei Kulturen. Das ist doch eigentlich Schaumschlägerei, nicht wahr?

Am Ende Ihres Buches über Indien kommen Sie zu einer Art Schlußfolgerung, in der Sie sagen...

Ich komme zu keiner Schlußfolgerung. Es gibt keine Konklusion. Das Buch ist die Beschreibung einer Zivilisation. Es ist ein enormes Buch. Man kann nicht zu einer Schlußfolgerung in zwei Seiten kommen. Am Ende werden nur gewisse Dinge wiederholt. Das Buch beginnt mit einer Beschreibung einer Gruppe von Menschen in Bombay. Es beginnt mit Menschen, die warten und damit ein politisches Statement machen, ein kulturelles Statement.

...Menschen, die sich in langen Schlangen angestellt haben, um Doktor Ambedkar, dem verstorbenen Führer der „Unberührbaren“, ihre Verehrung zu erweisen. Diese Menschen, Dalits, die Mahatma Gandhi „Harijans“, Kinder Gottes, genannt hatte, zollen ihrem Führer Tribut, sagen Sie, und dadurch zollten sie auch sich Tribut...

Ja, genau. Sie weisen die Zurückweisung zurück.

Als Sie einem Angestellten des Hotels in Bombay, in dem Sie wohnen, von ihrer Beobachtung erzählen, reagiert der gereizt und widerwillig und sagt: „Mit diesem Land wird es immer schlimmer.“ Der Mann, sagen Sie, war mit einer anderen Vorstellung von Indien aufgewachsen und fühlte sich nun fremd und unsicher. Im Zusammenhang mit dieser Beobachtung sprechen Sie von einem ähnlichen Gefühl der Fremdheit, das Sie hatten, als Sie 1962 zum ersten Mal nach Indien kamen...

Nein. Lesen Sie noch einmal den ersten Abschnitt, wo ich darüber spreche, daß die Unabhängigkeit ein Zwischenspiel zu sein scheint für die vielen Dinge, die seitdem geschehen sind. Die vielen Revolutionen innerhalb dieser Revolution. Sehen Sie, das Buch ist die Deskription einer Zivilisation in einem bestimmten Stadium. Menschliche Erfahrung ist nicht definiert durch Theoretisieren über ihre Geschichte. Es handelt sich nicht um eine historische Theorie, die durch die Erfahrungen, die die Menschen mir mitteilen, geschaffen wird. Es ist ein immenses Werk, daher kommt es nicht zu einfachen Schlußfolgerungen. Es gibt keine simplen Konklusionen.

[Er besteht darauf, die englische Version des Buches aus seinem Hotelzimmer zu holen und erklärt:] Sie sehen, was Sie alles schon auf den ersten Seiten nicht verstanden haben. Ich habe mein Buch mit großem Bedacht aufgebaut. Es ist eine große Untersuchung. Das Thema des Buches ist (wie der Untertitel der englischen Version) A million mutinies, eine Million von Aufständen. Sie irren sich, wenn Sie glauben, daß ich ein Buch über das Thema geschrieben habe, nicht zur einen oder anderen Kultur zu gehören.

Sehen Sie, ich schreibe seit langem. Ich bin ein alter Mann. Und ich habe mich nicht 35 Jahre lang hingesetzt und darüber geschrieben, dies oder jenes zu sein. Das Buch ist wichtig, weil es über Indien ist. Es schaut hin.

Ich wollte wissen, wie sich Ihre eigenen Erfahrungen in ihrem Blick auf Indien niederschlagen.

Natürlich. Dies ist kein Reisebuch, wo jemand irgendwohin reist, um einen Text zu schreiben. Man schreibt aus einem Bedürfnis, einer Notwendigkeit heraus. Und dieses Bedürfnis kommt aus den eigenen historischen Bindungen oder Brücken zu diesen Orten. Aber die meisten Bücher werden aus dieser Art von Bedürfnis geschrieben, die meisten wertvollen Bücher jedenfalls. Alles andere sind Werke von Dilettanten oder Spaziergängern, von Leuten, die Sensationen suchen. Ohne Bedeutung.

Und Neugier?

Neugier — das hängt vom Charakter der Neugier ab. Einige Leute sind um der Sensation willen neugierig. Ich glaube, Anteilnahme, Interesse — concern — ist notwendig. [Er unterbricht sich und fragt: Möchten Sie ein schönes Stück Kuchen oder etwas anderes, brauchen Sie etwas?] Es geht um concern. Neugier kann sehr müßig sein. Neugier kann ein junger amerikanischer Student haben, der ein Buch schreiben will. Solche Leute kommen ständig zu mir. Sie haben alle möglichen Ideen für Bücher. Sie wollen zum Beispiel die Recherche mit dem Fahrrad machen oder nur über schwarze Dorfbewohner schreiben. Das ist meistens unwichtig und ohne Konsequenzen.

In Ihrem Buch schildern Sie die Begegnungen mit einer Vielzahl unterschiedlicher Menschen, und es scheint, als wollten Sie sie nicht bewerten.

Doch, in der Beschreibung liegt auch immer Bewertung. Aber wenn die Menschen sich so vollständig öffnen, dann ist es unnötig, am Ende der Beschreibung auf sie einzuschlagen. Aber dadurch, daß der Schriftsteller die Leute dazu gebracht hat, über diese Dinge zu sprechen, hat er bereits eine Bewertung abgegeben. Was die Leute hören wollen, wenn jemand empörende Dinge über andere Gruppen sagt, wenn jemand intolerante Ansichten hat, ist, daß man dann auf ihn einschlägt. Das ist amerikanisch, das ist New Yorker Quatsch.

Sie sprechen von den Exzessen in der indischen Gesellschaft...

Ja, es gibt Exzesse, und die wird es weiter geben, die wird es noch fünzig Jahre lang geben.

Diese Exzesse, sagen Sie, tragen den Keim der Befreiung in sich...

Ja, ganz sicher. Denn sehen Sie, vor 200 oder 100 Jahren gab es dieses intellektuelle Element in der indischen Gesellschaft noch nicht, das sagen konnte: „Aber das geht zu weit, das ist falsch.“ Jetzt gibt es dieses Element, das Exzesse als solche erkennt, und das ist wichtig. Ich glaube, das ist fast so etwas wie ein liberaler Kern Indiens, verstehen Sie?

Das scheint eine sehr hoffnungsvolle Einschätzung zu sein, angesichts der jüngsten Entwicklungen in Indien, zum Beispiel im Punjab. Oder in Kashmir, wo die Hindu- Partei BJP kürzlich zu einem Marsch mit chauvinistischen Parolen gegen die Moslems des Landes aufgerufen hat.

Ja aber diese Probleme gibt es seit fünfzig Jahren. Man kann nicht erwarten, daß sie in zwei Wochen oder zwei Jahren gelöst werden. Im Punjab wird das noch 40 Jahre so gehen, und die Situation muß eingedämmt werden, da darf man nicht nachgeben. Denn sonst entwickelt sich eine Situation, die noch viel mörderischer ist als die in Jugoslawien.

Sie haben in ihrem Buch festgestellt, daß die Idee der indischen Union in den letzten Jahren erstarkt ist. Kann diese Idee tatsächlich diese vielen partikularen Gruppen und Interessen zusammenhalten?

Ja, es gibt eine zentrale Idee. Die Menschen akzeptieren bestimmte Verhaltensweisen. Es gibt jetzt eine Idee der Toleranz, die unter Intellektuellen und ernstzunehmenden Politikern akzeptiert wird. Diese Ideen gab es früher nicht.

Sind sie tatsächlich neu?

Sie sind neu. Ich glaube, das ist ein Ergebnis der britischen Periode. Sie haben sich durch den Kontakt mit Europa durch Großbritannien entwickelt. Das ist Teil des neuen Lernens in Indien, Teil seiner neuen Institutionen, des Rechts.

Ich habe mich gefragt, ob Sie Ihr Buch ebenso beendet hätten, wenn Sie es Ende 1991 geschrieben hätten...

Ich stehe immer zu meinen Büchern. Einige meiner Bücher sind dreißig Jahre alt. Sie sind in Ordnung. Für dieses Buch bin ich 1988 gereist. Und was immer in Indien passiert, es ist in diesem Buch enthalten. Um zu Ihrer Frage von vorhin zurückzukommen: Wenn man das versteht, dann braucht man nicht auf den Menschen einzuschlagen. Das ist nicht der Punkt. Für den

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Schriftsteller ist der Punkt Verständnis.

Sie formulieren eine Idee von einem Konsens, einem Konsens über menschliche Wertvorstellungen.

Ja, und das zieht sich durch das ganze Buch. Jede Gruppe hat dieses gebildete, vernünftige Element. Das ist es, was ich meine, wenn ich von einer zentralen Intelligenz spreche. Ich glaube, das haben Sie verstanden. Wo wir nicht übereinstimmen ist, daß Sie glauben, wir sollten optimistisch oder pessimistisch sein. Ich glaube, wenn man so auf die Grausamkeit menschlicher Handlungen schaut, dann ist es, als würde man die Tatsache, daß sich die Erde dreht, mit Pessimismus oder Optimismus betrachten. Das geht nicht.

Sie haben Ende 1990 einen Artikel über die Notwendigkeit einer universellen Zivilisation geschrieben... (auszugsweise in der taz wiedergegeben, d.Red.)

Nein, nein! Das ist ein profunder Artikel. Ich habe mehrere Monate daran gearbeitet. Es geht nicht darum, das wir sie brauchen. Es heißt „Unsere universelle Zivilisation“. In dem Projekt von Geschichte und Zivilisation geht es darum, daß wir eine gemeinsame Sprache teilen, daß wir über gemeinsame Ideale sprechen können. Wahrheit, Abwesenheit von Grausamkeit, Fairness, Gerechtigkeit — das sind die Dinge, über die wir sprechen. Und ich meine damit nicht die Flachheit der Partikularismen, wenn Menschen ihre lokalen Glaubensinhalte und Überzeugungen ausposaunen. Die ganze Welt wird zum Teil dieser Zivilisation, ob sie es will oder nicht. Und ob sie meint, daß sie es sei, oder nicht.

Sie sprechen von einer universellen Zivilisation. Doch in Indien gibt es auch sehr viel Zorn, nicht nur in Indien, auch in anderen Ländern der Dritten Welt. Vor allem seit dem Golfkrieg im vergangenen Jahr...

Das hat nichts mit der Idee unserer universellen Zivilisation zu tun. Das ist nichts Aufoktroiertes. Jeder lebt darin, sie ist unvermeidbar. Und ich sehe nicht, wie Leute vorgeben können, sie lebten nicht darin. Die Idee von gedruckten Büchern, von Zeitschriften, von Kunst, die Idee einer Öffentlichkeit, Kunst, Kritik, Journalismus — das kommt aus einer bestimmten Art der Zivilisation und hat sich einigermaßen weit verbreitet. Sie ist von einem Ort ausgegangen und nun Teil jedes anderen Ortes geworden, was immer der dortige lokale Glaube sein mag. Zum Beispiel eine pastorale Zivilisation in der Südsee, die drucken keine Lyrik, oder? Welche Art der Gesellschaft produziert gedruckte Lyrik? In der modernen Art und Weise, die wir kennen? Eine industrialisierte Gesellschaft mit Druckmaschinen, mit Papier und mit Buchläden. Und diese Art der Gesellschaft existiert in den meisten Kulturen, unabhängig von ihrer lokalen Ausprägung. So sind die Ideen, die einst auf Europa beschränkt waren, nun adaptiert worden von anderen Völkern.

Sie müssen noch nicht mal aus einer Kultur kommen, in der es so etwas wie Schriftsteller gibt. Es gibt Kulturen, ziemlich zivilisierte Kulturen, wo es keine Schriftsteller gibt. In Java zum Beispiel traf ich einen Mann, der Dichter werden wollte, doch er konnte dies seiner Mutter nicht erklären. Denn für seine Mutter war Poesie bereits geschrieben. Das wäre so, als ob jemand in einer anderen Kultur seiner Mutter sagen möchte, er wollte der Bibel ein weiteres Buch hinzufügen. Also sehen Sie, es gibt verschiedene Kulturen, in denen man nicht Schriftsteller werden konnte. Heute aber kann man es werden. Das ist ein Teil der Universalität der Kultur, in der wir leben. Und dann ist da die Form. Die Menschen schreiben in bemerkenswert ähnlicher Form. Sie haben voneinander geborgt. Zum Beispiel der Roman, die Form des Romans hat lange gebraucht, sich zu entwickeln. Das ist keine natürliche Form, das ist künstlich. Alle literarischen Formen sind künstlich. Verstehen Sie jetzt, was ich meine, wenn ich von der Universalität der Zivilisation spreche?

Hätten Sie meinen Artikel besser gelesen, dann hätten Sie interessantere Fragen stellen können, dann hätten Sie ein interessantes Interview gehabt. Sie zwingen mich in diese Argumentation mit ihren vereinfachenden Fragen, mit Ihren simplifizierenden Ansichten. Dritte-Welt- Probleme und so etwas. Wie spät ist es jetzt?