Die Fraktion der Fraktionslosen wächst

■ In Sachsen-Anhalt wechseln die Landtags-Abgeordneten gerne ihre Partei/ Gewonnen hat dabei die DSU

Magdeburg (taz) — Immer größer wird die Gruppe der fraktionslosen Abgeordneten im Landtag von Sachsen-Anhalt. Vor zwei Tagen stieß aus der SPD-Fraktion die 50jährige Ascherslebener Abgeordnete Bärbel Ballhorn zu den Unorganisierten im Magdeburger Landesparlament. Wegen „schwerer Differenzen zur SPD-Linie in der Asyl-, Rechts- und Innenpolitik“ gab sie Parteibuch und Fraktionsmitgliedschaft zurück. Schon mit dem ehemaligen CDU- Innenminister Wolfgang Braun hatte die Gruppe der Fraktionslosen eine Personenstärke erreicht, die die kleinste Fraktion im Landtag, Bündnis90/Grüne, bequem überflügeln kann. Mit Bärbel Ballhorn gibt es jetzt sieben fraktionslose Abgeordnete, drei weitere genießen bei der CDU-Fraktion lediglich Gaststatus.

Betroffen von dem Exodus sind außer Bündnis90/Grüne mittlerweile alle Fraktionen. Denn mit Hans-Gerd Glück hat mittlerweile auch ein PDS-Abgeordneter seine Fraktion verlassen. Er entdeckte die Segnungen der Marktwirtschaft als alleinseligmachendes Heilmittel für die Probleme des deutschen Ostens und damit unüberbrückbare programmatische Differenzen zu den Genossen in der PDS-Fraktion. Glück will sich zunächst als fraktionsloser Abgeordneter betätigen und ist damit in bester Gesellschaft mit Bärbel Ballhorn. Einen Übertritt in die CDU lehnt die Parlamentarierin kategorisch ab. Sie sei Atheistin, erklärte sie der Magdeburger 'Volksstimme‘, und von daher könne sie in der CDU wohl kaum eine politische Heimat finden. Auch einen Übertritt in die DSU lehnt Bärbel Ballhorn zumindest jetzt noch ab. Schließlich komme sie aus einem antifaschistischen Elternhaus und wolle auf keinen Fall in irgendeine rechte Ecke gestellt werden.

Die DSU ist in Sachsen-Anhalt ein ganz besonderes Phänomen. Bei den Landtagswahlen in den neuen Ländern mit einem katastrophalen Ergebnis abgeschmettert, hat sie inzwischen im Magdeburger Landesparlament zwei Abgeordnete sitzen. Denn nach seinem Auszug aus der CDU und dem Scheitern der Freien Fraktion suchte Joachim Auer bei den Deutsch-Sozialen seine neue politische Heimat. Dorthin zog es auch den Ex-Innenminister Wolfgang Braun, der es seiner CDU übelnahm, daß sie schon ein halbes Jahr nach seiner Demission seine Ministerprivilegien, nämlich Dienstwagen und Bodyguards, streichen wollte.

Auer hofft jetzt, daß Bärbel Ballhorn vielleicht doch noch zu ihm stößt. „Sie hat zwar bis jetzt keinen Aufnahmeantrag gestellt, aber ich schätze sie politisch und menschlich sehr“, sagte Auer, „und sie vertritt konservative Einstellungen wie wir auch.“ Aber die SPD möchte Bärbel Ballhorn gern wiederhaben. „Vielleicht können wir ihr noch klarmachen, daß es in vielen politischen Fragen in unserer Partei durchaus unterschiedliche Meinungen gibt“, sagt SPD-Fraktionssprecher Jürgen Kriesch.

Die Fraktion der Fraktionslosen ist insofern ein bunt zusammengewürfelter Haufen, in dem einige Mitglieder möglichst nichts miteinander zu tun haben wollen. Abgrenzungen gibt es insbesondere gegen Wolfgang Brunner. Der ehemalige Minister für Bundes- und Europa-Angelegenheiten in der Landesregierung mußte seinen Hut nehmen, als seine Stasi-Vergangenheit bekannt wurde. Daß er heute noch im Landtag sitzt, hat er der bürokratischen Gründlichkeit von Landtagspräsident Klaus Keitel (CDU) zu verdanken. Der nahm nämlich Brunners Mandatsverzicht nicht an, weil er nicht notariell beglaubigt war. Brunner fand wohl die Abgeordneten- Diäten lukrativer als das Arbeitslosengeld und verzichtete auf notarielle Dienste.

Der Exodus aus den Fraktionen wird in Magdeburg weitergehen. Bei vielen Abgeordneten ist nach der Wende die Entscheidung über die eigene politische Richtung viel zu schnell gefallen, findet SPD-Fraktionssprecher Kriesch. Er kann sich durchaus vorstellen, bald CDU- und FDP- Abgeordnete in den eigenen Reihen zu haben. Allerdings will Kriesch auch nicht völlig ausschließen, daß sich irgendwann einmal auch sozialdemokratische Abgeordnete fehl am Platze fühlen könnten. Eberhard Löblich