Einschnitte

Ulrich Görlich und Olaf Metzel sägen vereint am Braunschweiger Kunstverein „Salve Hospes“  ■ Von Jochen Becker

Was ist eine „Braunschweiger Tapete“? Zunächst eimal ein durch direkte Belichtung der Wand angefertigtes, schwarzweißes Großfoto. Ulrich Görlich übertrug — bei seiner nächtlichen Dunkelkammerarbeit mit einer Gasmaske gegen die auch jetzt noch stinkenden Chemikalien geschützt — das naheliegende Panorama von der sechsspurig umtosten Fußgängerbrücke zwischen Bahnhof und Massenhotel auf zwei gegenüberliegende, halbrunde Wände des Kunstvereins „Salve Hospes“. So steht man auf dem Parkettboden der 1808 erbauten klassizistischen Villa und zugeich auf einem Betonsteg zwischen Bausünde, Verkehrstodesstreifen und Plattenbau-Ästhetik. Olaf Metzel setzte auf Görlichs Foto- Tapete die Fräse an und schnitt soweit in die Wand hinein, daß an einigen Stellen das Stroh unterm Putz hervorquillt. Seine geometrischen Eingriffe spiegeln das Rautenmuster des Parkettbodens wider; mit etwas Mühe kann man aber auch die quadratische Verplattung des Bahnhofsvorplatzes wiedererkennen.

„Die zerstörerische Aggressivität erreicht die Grenze dessen, was in einem Gebäude wie diesem eigentlich schon kaum mehr zulässig ist“, bekundete der Hausherr Reinhold Happel in seiner Eröffnungsrede, und meint damit nicht die Bahnhofsgegend, sondern den Kunstverein. Das besagt doch dreierlei: Einmal stellte die konzertierte Aktion von Görlich und Metzel die Hausverwaltung ganz sicher vor denkmalrechtliche Probleme. Zum zweiten zeigt sich hierbei der Widerspruch, daß angesichts brutaler Bauwut, welche dauerhafte Fakten in die Stadtlandschaft setzt, ausgerechnet das reversible Kratzen am Putz Entsetzen hervorruft. Und drittens spricht Happel hier die Frage an, inwieweit Künstler eingreifen dürfen — also nicht nur mit physischer Gewalt gegenüber dem Ausstellungsgebäude, sondern auch als Außenstehende, die sich in die inneren Angelegenheiten der Stadtpolitik einmischen.

Die Installation im zweiten runden und fensterlosen Raum heißt Vernissage und besteht aus einem wiederum beinahe wandfüllenden Panoramabild. Es zeigt Gäste einer vorangegangenen Ausstellungseröffnung, wobei die Kunstwerke nicht weiter ins Auge fallen. Auch hier gibt es wieder gezielte Einschnitte, außerdem ist an einigen Stellen die Tapete heruntergerissen, so wie man es von Abbruchhäusern her kennt. Durch das unübliche Belichtungsverfahren wirken die Bilder stellenweise vergilbt, fleckig und altertümlich. Aus einer vergangenen Zeit scheint auch das Motiv der Installation Fensterschnitt zu stammen. Doch was auf den ersten Blick wie eine Industriellenvilla der Jahrhundertwende wirkt — Kronleuchter und Flügel weisen darauf hin — entpuppt sich beim Weitergehen als der Vortragssaal am anderen Ende des Ausstellungsgebäudes. In die Fensterfront des Abbildes, etwa an die Stelle eines dort hängenden Spiegels, schnitt Metzel ein Loch hinein. Er machte sich dabei eine falsche Wand zunutze, die über ein Vierteljahrhundert das Fenster zum Garten verdeckte. Durch die abfotografierte und angesägte Fensterfront hindurch ist nun wieder der Blick frei aufs Grün hinter der Villa.

Nach der vorgangegangenen Hermann-Pitz-Retrospektive — hier zog sich der Leiter des Kunstvereins von seiner angestammten Funktion als Arrangeur der Exponate zurück — hat Reinhold Happel sich nunmehr in die Rolle des Vermittlers zwischen Denkmalbehörde, erregten Besuchern und dem demonstrativen Anliegen seiner Gäste drängen lassen. Sein Braunschweiger Konzept, „neue Positionen raum- und ortsbezogener Skulpturen“ zu präsentieren, geht gerade deshalb auf, weil er sich nicht scheut, für bildhauerische Arbeiten zeitweilig seinen Aufgabenbereich und das Haus zu opfern. Denn statt Stein, Bronze oder Holz bearbeiten Görlich und Metzel Wände und Mauerwerk als ihr Rohmaterial. Im Unterschied zu Gordon Matta-Clark, der seine Löcher in Abbruchhäuser hineinsägte, soll die Villa jedoch auch nach der Bearbeitung als Ausstellungsgebäude nutzbar bleiben.

Mit einer Geste zwischen Kraftmeierei, Aggressivität und Ungeduld verabschiedet sich das ungleiche Duo von einer Kunst, die in ihrer Selbstbezüglichkeit einzig um ihre Ausdrucksmittel kreist, oder — die konzeptuell-modernere Variante — sich ausschließlich auf die vorhandene Ausstellungssituation beschränkt. Die beiden aus Berlin stammenden, vierzigjährigen Künstlerkollegen finden sich nicht ab mit dem Gegebenen: Vielmehr nutzen sie den denkmalgeschützten und kunstvollen Rahmen, um mittels der Multiplikatorfunktion eines Ausstellungsinstituts ihr Entsetzen publik zu machen. Was Tausende Reisende, Autofahrer und Hotelgäste ungerührt verdrängen, soll zumindest in einer durch den Kunstbetrieb bereitgestellten und somit begrenzten Öffentlichkeit nicht zu übersehen sein. Symbolisch legten Görich und Metzel Hand an das Bahnhofsviertel; im Unterschied zur Stadtplanung meiden sie den irreversiblen und rücksichtslosen Vollzug. Möglicherweise reißen durch die Schnitte der Gäste die Wunden der exzessiven Stadt-Versiegelung frisch auf.

Ganz von der falschen Wand befreiten sie den ersten Raum ihrer insgesamt siebenteiligen Arbeit. Um die Verbindungstür des nunmehr lichterfüllten Raums herum hängen plastisch übereindergestapelte und zersägte Styroporplatten, auf denen per Siebdruck Hamburger, Fritten, Pizzen und Hot Dogs prangen. Als Mayo haben die beiden gelblichen Montageschaum darübergeschmiert. Dem ReliefImbißbude steht einige Räume weiter das Kulturdenkmal Plattenschrank gegenüber. Dort befindet sich, wie in den Jugendzimmern der kunststoffbegeisterten siebziger Jahre, ein aberwitzig zusammengefügtes Acrylplatten-Konstrukt. Auf den nunmehr unmodischen Schrillfarben kleben Siebdruck-LP-Cover; darauf und zersplittert drumherum liegen oder klemmen zahlreiche hüllenlose Langspielplatten und mit psychodelischen Mustern versehene Picturediscs. Baukunst und Musikhören, Ausstellungswesen und Mahlzeiten sind für die beiden im „Salve Hospes“ Wütenden zur raschen Bedürfnisbefriedigung verkommen. Doch während sie für die Bausünden entsprechende und deutliche Gesten finden, wirkt ihr bürgerliches Mäkeln an der Fast-Food-Kultur ziemlich snobistisch.

Noch bis zum 8.März; eine Dokumentation erscheint in Kürze.