Das schöne Gefühl, voll informiert zu sein

Seit drei Monaten sendet das private Info-Radio 101 in Berlin  ■ Von Achim Baum

Das Radio gehört zu den unentbehrlichen Kulissen des Alltags. Leise, aber zuverlässig vermittelt es uns die Gewißheit, daß die Welt sich weiterdreht — auch wenn wir gerade etwas Wichtigeres zu tun haben. Ohne Radio hätten wir nicht selten das Gefühl, einsam zu sein. Und diejenigen, die Radio machen, wissen das. Darum geht es stets leicht und flockig zu auf dem Äther. Hauptsache, es rieselt etwas aus den Boxen.

Wie kaum irgendwo anders kann man diesen Funktionswandel des Radiohörens besser studieren als hier in Berlin. Das Radio als „Musikmaschine“. Reportagen, Berichte und Features, Interviews, Gespräche und Diskussionen, Hörspiele, Glossen, Kommentare, eben all die sprachlichen Darstellungsformen, die einmal den Hörfunkjournalismus ausgemacht haben, sind in den populären Programmen rar geworden. Geblieben sind allenfalls journalistische „Beiträge“, wie sie im Jargon der Macher heißen, inhaltlich beliebige Stückchen von höchstens anderthalb Minuten Länge, die selten mehr als einen Gedanken transportieren. Und dann die stündlichen Nachrichten: eilig verlesene Mitteilungen, an die sich beim Wetterbericht schon keiner mehr erinnert, und die — wie die Rundfunkanstalten selber erforscht haben — sowieso nur jeder vierte Zuhörer für wahr hält.

Info-Radio 101, seit drei Monaten als reines Informationsprogramm in Berlin zu empfangen, widersetzt sich 24 Stunden täglich diesem Image- Verlust des Hörfunks. Auf den ersten Blick könnte die neue Nachrichtenstation denn auch tatsächlich wie ein Wasserhahn in der Radio-Wüste erscheinen. Und genau das wollen die Verantwortlichen: eine Hörerschaft, die so lange am Info-Hahn dreht, bis der Durst gelöscht ist. „Nachrichten, wann immer sie wollen“, so lautet das ständig wiederkehrende Motto. Aber mit zunehmender Professionalität entpuppt sich Info-Radio 101 immer deutlicher als Fata Morgana.

In den ersten Wochen konnte man beim regelmäßigen Reinhören wenigstens noch einigen Spaß haben: Die hörbare Überforderung des jugendlich flotten ModeratorInnen- Teams, Pannen am laufenden Band, die kaum ausbleiben, wenn man vom Mischpult aus die Nachrichten auswählen, redigieren und selber sprechen muß, weckten eine vage Hoffnung, daß es nur besser werden könnte. Da wurden zu Beginn reihenweise die Regler falsch gezogen, Günther de Bruyn wurde in de Brühn umgetauft, Daniel Barenboim hieß plötzlich Barenbohm, und aus dem Stasi-Beauftragten Joachim Gauck wurde ein gewisser Jürgen Gauck. Jede zweite Moderation begann mit der Floskel: „Und jetzt...“. Ende Dezember muß es jemandem im Studio aufgefallen sein, denn ab dem 2.Januar hieß es nur noch: „Und dann...“

Nach drei Monaten ist das Selbstvertrauen gewachsen, die Moderationen sind glatter geworden, bunte Themen hinzugekommen (nicht zuletzt dank Olympia und Berlinale). Aber Hörfunk-Journalismus wird beim Info-Radio nach wie vor nicht betrieben. Das stramme Programm- Raster läßt freilich auch wenig Platz dafür: Kurze Schlagzeilen gibt es alle fünfzehn, Wetterbericht und Verkehrsmeldungen alle zehn Minuten. Dazu erfährt man regelmäßig etwas vom Sport und aus der Wirtschaft. Aufgefüllt wird das Ganze mit Rubriken wie „Neu aus dem Ticker“ und „Info-Report“. Inhaltlich allerdings kann man sich daran nur grob orientieren. Denn eine deutsche Medaille ist jederzeit eine Nachrichtenmeldung wert, und wenn Info-Radio Berlin einen O-Ton des Finanzministers in Bonn aufschnappt, kann wer will immer dieselben Sätze Theo Waigels mehrmals in einer Stunde hören. Aktualität mit Prominenz zu verwechseln, ist allerdings alles andere als journalistisch.

Irgenwann beginnt Info-Radio 101 den Hörnerv zu töten — auch dann, wenn man nach jeweils einer halben Stunde den Kanal verläßt (was den Vorstellungen der Info- Produzenten durchaus entspricht). Die Philosophie des Nachrichtensenders, die einem nicht nur während des Zuhörens in ständigen Jingles eingehämmert wird, sondern auch auf Werbeplakaten an den Bushaltestellen Berlins und in manchen Anzeigenkampagnen nachzulesen ist, spekuliert nämlich mit einem nur konstruierten Informationsbedürfnis des Publikums.

Die Eigenwerbung des Info-Radios zielt vor allem auf unsere Furcht, etwas zu verpassen. Und das journalistische Defizit der etablierten Programme tut den Rest dazu. So wirbt der Nachrichtenkanal nach dem immer gleichen Muster für sich: „Für einen normalen Sender“, heißt es da, passiere zu viel in Berlin, „macht Berlin zu viel Theater“, „ändern sich die Zeiten zu schnell.“ Wer das Info-Radio aber regelmäßig konsumiert, stellt bald fest, daß auch nach etlichen Stunden die Opfer eines Flugzeugabsturzes immer noch tot sind, während Genschers Maschine aus Tokio, die beim Frühstück schon abgehoben hatte, offenbar immer noch startet, wenn es wieder dunkel wird.

Irgendwann drängt sich der Verdacht auf, daß man überhaupt nichts verpaßt. Wenn „Beiträge“ aus dem Roten Rathaus und aus Hotels in Zagreb oder Washington telefonisch überspielt werden, mag das authentisch wirken — in Wahrheit ist es das nicht. Zwischendurch hat man freilich immer wieder die „Info-Zeit“, das „Info-Wetter“, „Info-Geld“ ebenso gehört wie die Werbebotschaft eines gewissen „D+W Katalogs für Autozubehör“, der Spoiler und Rallyestreifen mit Hilfe von „sexy boys and girls“ anpreist. Aus der Hörerschaft ist heimlich eine Kundschaft geworden.

Als unlängst in Berlin der Strom ausfiel, muß Info-Radio 101 jedoch seine große Stunde gehabt haben. Schade, daß es kaum jemand hören konnte. Bis auf den Kritiker des 'Tagesspiegel‘ allerdings. Und weil das Blatt zu vierzig Prozent am Kapital von Info-Radio beteiligt ist und weil in dessen Redaktionsräumen offenbar ein Transistorempfänger steht, konnte man „zufällig“ das Info-Radio mit dem SFB vergleichen. Zu wessen Gunsten dieses einsame Hörerlebnis ausfiel, braucht wohl nicht ausdrücklich erwähnt zu werden. In der späteren Lobeshymne einer katholischen Medienzeitschrift, die der 'Tagesspiegel‘-„Kritik“ nur allzu ähnlich war, brachte der Autor es noch einmal auf den Punkt. Info-Radio 101, hieß es dort, habe „das oberste Primat“ erfüllt: „Der Hörer hat nach zwanzig bis dreißig Minuten das Gefühl, umfassend informiert zu sein.“ Ob als Musik- oder als Info- Maschine — das Radiohören scheint endgültig zur Gefühlssache geworden zu sein. Hauptsache, es rieselt.