DEBATTE
: „Differenzierung tut not“

■ Die Chance der Deutschen zu selbstbestimmt-selbstkritischem Umgang mit der eigenen Geschichte ist bereits hochgradig gefährdet

Sind wir an eine Wegscheide gelangt, an der wir zu entscheiden haben, welchen Weg wir Ost- West-Deutschen künftig gehen wollen, um der bitteren DDR-Geschichte zu begegnen — oder ihr auszuweichen?

Die Indizien dafür häufen sich. Überraschende, befremdliche Koalitionen sind entstanden zwischen moralischen Eiferern und kühlen Strategen, zwischen Wahrheitssuchern und journalistischen Geschäftemachern. Die Ziele, die Motive sind durchaus verschieden, aber die Wirkungen könnten fatal einheitlich und für einen selbstbestimmten, kritisch-differenzierten Umgang mit der Geschichte zerstörerisch sein. Der Chance für ein solch befreiendes, weil wahrhaftiges Verhältnis zur eigenen Geschichte und Biographie beraubt zu werden, diese Gefahr nimmt zu — durch das gegenwärtige Klima der Verdächtigungen, Vorverurteilungen, Pauschalurteile. Ein Klima, das medial erzeugt, mindestens verstärkt wird — vielleicht nicht einmal in jedem Fall absichtsvoll. (Ich weiß, Medienschelte ist mißlich, aber warum eigentlich ist nichts so tabuisiert wie Kritik an Journalisten? Ängste vor ihrer „Rache“?)

Insistierende, peinigende Fragen an die Vergangenheit und ihre Akteure — ja und ja! Sie ängstigen mich nicht. Aber die allzu forschen, kräftigen, „klaren“ Antworten, die „klarer“, eindeutiger und einfacher sind als die damalige Wirklichkeit — die ängstigen mich schon. Denn was erleben wir? Die Vermarktung der DDR-Geschichte zu Skandalgeschichten, die Konkurrenz von Enthüllungsjournalismus, der sich „der Akten“ bedient. Aber natürlich auch wirkliche journalistische Aufklärungsbemühung, die es sich nicht leicht und billig machen will. So ganz widerspruchslos ist auch die journalistische Welt nicht, zum Glück. Wir verdanken ihr manche notwendige hilfreich-schmerzliche Entdeckung. Trotzdem: Die Tendenz zur Vergröberung, zum Grellen und Bunten, zum Schwarzweißurteil (das die langweiligen Grautöne übertüncht), zum undifferenzierten Pauschalurteil überwiegt. Hinzu kommt die politische Instrumentierung der Vergangenheit zu sehr gegenwärtigen Zwecken: im Versuch, Personen des Übergangs und des Neuanfangs moralisch zu diskreditieren, in einer Strategie der generellen Verdächtigung einer Politik der Anerkennung von Realitäten, um diese zu ändern; einer Politik der kleinen Schritte, der Entspannung, die auf der Einsicht beruhte — die wir doch mehr oder minder alle, in Ost und West, Politiker und Nicht-Politiker, geteilt haben—, daß der revolutionäre Umsturz nicht bevorstand, daß also vielmehr in einem mühseligen Prozeß den Mächtigen mähliche Veränderungen, Erleichterungen, Vermenschlichungen, Freiheitsräume abgetrotzt, abgehandelt werden mußten.

Selbstverständlich ist, daß auch diese Politik kritische historisch-politische Analyse und Bewertung ertragen muß. Es geht unübersehbar um die Restaurierung eines — längst für obsolet gehaltenen — dummen Antikommunismus, der von einem intelligenten, erfahrungsbestätigten Antikommunismus z.B. eines Manès Sperber oder Vaclav Havel wohl zu unterscheiden ist; es geht um die Herstellung eines ideologischen Klimas, im dem die Brüche und das Scheitern eines Konservativismus verschwinden und der Eindruck eines ungebrochenen Siegeszuges und Rechthabens konservativer Politik entsteht. Wer alles — wissentlich oder absichtslos — daran mitzuwirken bereit ist, läßt mich erschrecken.

Vor allem aber: Die Wirkungen von Vermarktung und Instrumentierung sind verheerend. Die Pauschalurteile nehmen vernichtende Qualität an. Der Eindruck wird erzeugt, daß dieses „DDR-Volk“ ein Spitzel- Volk gewesen sei, daß unser aller Leben ins Zwielicht der Kollaboration getaucht ist. Nicht mehr zählt der mühselige, brüchige, sicherlich ganz und gar nicht strahlende Versuch, den eigenen Maßstäben von Anstand und Vernunft zu folgen, sie noch im fatalen Lebenskompromiß, in der Suche nach einem überlebensfähigen Modus vivendi nicht ganz zu verraten. Wir haben uns wahrhaftig viel zu fragen. Daß wir — vielleicht, hoffentlich — zur Scham fähig sind, könnte ein Moment unserer durchgehaltenen oder wiedergewonnenen Würde sein. Aber muß ich mich dafür entschuldigen, daß ich — biographischer Zufall — bis zum Ende der DDR ihr Bürger war, ohne Ausreiseantrag oder Gefängnisaufenthalt, also ohne Held oder Märtyrer gewesen zu sein?

Ich befürchte, der Rigorismus der Anklagen, die Pauschalität der Urteile, die Massivität der Vorwürfe, die mediale Allgegenwart des Themas erzeugen Überdruß und Abwehr, verstärken den Verdrängungswillen — zusätzlich bestärkt durch politische Interessen, die empfehlen, wir sollten die DDR-Vergangenheit ebenso „kommunikativ beschweigen“ (Hermann Lübke), wie es die (West-)Deutschen nach 1945 taten. Die Chance zum selbstbestimmt- selbstkritischen Umgang mit der eigenen Geschichte ist bereits hochgradig gefährdet. Der CDU-Politiker Heiner Geißler hat schon die Schließung der Gauck-Behörde gefordert.

Der traurige Tod des Bundestagsabgeordneten Gerhard Riege ist ein furchtbares Indiz für eine Atmosphäre, in der einer wie er — doppelt stigmatisiert als IM und als PDS- Mitglied — nicht mehr meinte sich erklären und verständlich machen und damit den Rest seiner Würde verteidigen zu können. Darin — und nur darin, aber darin gewiß — ist sein Selbstmord ein Menetekel. Ihn zum Anlaß zu nehmen, die Akten schließen zu wollen, diese ganze, so wenig steuerbare Begegnung mit der eigenen erbärmlichen DDR- und Stasi- Geschichte abbrechen zu wollen, die Betroffenheit zu einem Entlastungsversuch zu benutzen, dazu — bitte Herr Gysi! — sollte niemand den Tod von Gerhard Riege mißbrauchen!

Nein, wir sollten der Versuchung, der Überredung, die Stasi-Akten wieder zu schließen, nicht nachgeben — aus immer noch demselben Grund: um der Opfer und um der Chance einer Gerechtigkeit für sie willen, die ihnen keine Strafjustiz gewähren kann. Der Chance zur (Wieder-)Aneignung der eigenen Biographie.

Ich teile nicht die Ansicht von Andrzej Szczypiorskij, dem großen polnischen Autor, daß die deutsche Art der Vergangenheitsbewältigung ein großer Fehler sei und daß wir eine riesige Dummheit begingen. Aber ist es ganz falsch, wenn er sagt: „Die Stasi entwickelt sich jetzt zur höchsten politischen und moralischen Instanz für die deutsche Gesellschaft. Was die Stasi sagt, ist wahr.“? Also versuchen wir genauere Maßstäbe der Bewertung zu gewinnen — es ist an der Zeit, nach zwei Jahren und zwei Monaten der Enthüllungen, Entdeckungen, Erschütterungen. Differenzierung tut not.

Wolfgang Thierse

Der Autor ist SPD-Bundestagsabgeordneter.