»Hurricans nur über dem jüdischen Friedhof«

■ Premiere einer vierstündigen Busreise des »Kulturkontors« zum Thema »Juden in Berlin«: Grabverwüstungen waren keine Naturkatastrophen

Wenn man den zeitlichen Ursprüngen des Berliner Judentums hinterherfahren wollte, müßte man sich eigentlich nach Spandau begeben. Dort, in der Spandauer Zitadelle, wurde ein Grabstein aus dem Jahre 1242 gefunden, der also nur fünf Jahre jünger ist als die erste urkundliche Erwähnung der Doppelstadt Berlin-Cölln. Wieder ein Beweis dafür, wie sehr Berlin mit der jüdischen Kultur verwoben ist. Doch Spandau lag zu sehr abseits für das »Kulturkontor«, das im Rahmenprogramm der Ausstellung Jüdische Lebenswelten und in Zusammenarbeit mit der Jüdischen Gemeinde und der Jüdischen Volkshochschule kulturhistorische Busfahrten und Spaziergänge anbietet.

Also fuhr man bei der sonntäglichen vierstündigen Premiere zum Thema Juden in Berlin lieber die ehemaligen Zentren jüdischen Lebens ab: die Spandauer Vorstadt, in der sich die armen Juden aus den östlichen preußischen Provinzen, aus Polen und Zaren-Rußland niederließen, und den »neuen Westen« in Charlottenburg und Wilmersdorf, wo diejenigen später hinzogen, die zu Reichtum gekommen waren. In Berlin, so Reiseleiterin Ute Werner, sind »Ostjuden« und »Westjuden« weniger geographische denn »zeitliche Begriffe«.

Aber auch die Geschichte der Verfolgung zieht sich durch die Jahrhunderte. Im historischen Zentrum Berlins fährt der Bus des Kulturkontors langsam an der Marienkirche am Alex vorbei. Hier wurden im Jahre 1510 neununddreißig Juden wegen angeblicher »Hostienschändung« und wegen »Ritualmord« bei lebendigem Leibe verbrannt. Danach wurden die Juden aus der Mark Brandenburg vertrieben. Erst der »Große Kurfürst« erlaubte in einem Erlaß von 1671 die Wiederansiedlung weniger Wiener Familien als »Schutzjuden«; eine Vielzahl diskriminierender Bestimmungen blieb jedoch bestehen, auch als Friedrich Wilhelm III. im »Emanzipationsedikt« von 1812 die Juden zu preußischen Staatsbürgern erklärte.

Erst 1850 beziehungsweise in der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 erhielten sie eine Form von Gleichberechtigung, die dieses Wort halbwegs verdiente. Kurz darauf begann sich allerdings schon der moderne Antisemitismus zu regen: Im Jahre 1879 machte ihn Professor Heinrich Treischke mit dem Ausspruch »Die Juden sind unser Unglück« beim Bürgertum hoffähig.

Dennoch siedelten sich immer mehr »Ostjuden« in Berlin an. Vor allem in der Spandauer Vorstadt rund um die Almstadtstraße, die ehemalige Grenadierstraße. Der Alltag dort erinnerte an ein osteuropäisches »Schtedl«, die Umgangssprache war jiddisch. Heute sind die Zeichen jüdischen Lebens getilgt, nicht zuletzt durch die häßliche »Restaurierung« der Straße, die die SED zur 750-Jahre-Feier von Berlin befahl.

In der Tucholskystraße, der ehemaligen Artilleriestraße, finden sich jedoch noch Spuren: unter anderem die alte Synagoge der heute 250 Familien umfassenden orthodoxen Gemeinde Adass Jisroel im Hinterhof der Nummer 40; im Vorderhaus befindet sich ihr koscheres »Beth Cafe« (»Kaffeehaus«). Das Gegenstück war die 1872 in derselben Straße gegründete liberale »Hochschule für die Wissenschaft des Judentums«. Der Glaubenskrieg veranlaßte Spötter zu der Bemerkung, hier in der Artilleriestraße werde mit »leichter« und mit »schwerer Artillerie« gegeneinander gekämpft.

In der nahegelegenen Großen Hamburger Straße erinnert eine kleine Plastik an das dort früher stehende jüdische Altersheim, das die Nazis 1942 in ein Sammellager verwandelten. Hier mußten Tausende von Juden auf ihre Deportation in die Vernichtungslager warten.

Direkt daneben sind die spärlichen Überreste des ersten jüdischen Friedhofs innerhalb der Stadtmauern zu besichtigen, der dort von 1672 bis 1827 existierte. Auf einem symbolischen Grabstein für den großen Berliner Aufklärer Moses Mendelssohn (1729-1786) liegen kleine Steinchen — Mitbringsel von Besuchern, die damit an den alttestamentarischen Zug des israelischen Volkes durch die Wüste erinnern. Die frühere Plastik von Mendelssohn wurde 1941 von den Nazis zerstört, die auch die 3.000 Grabsteine kaputt schlugen und 1943 zum Teil sogar für Panzersperren verwendeten.

Bewußt begingen sie damit das größte Sakrileg. Denn ein jüdischer Friedhof ist, anders als ein christlicher, für die Ewigkeit bestimmt. Dennoch war dieser Friedhof der einzige in Berlin, der schon von den Nationalsozialisten und nicht erst später zerstört wurde.

Auch der Friedhof in der Schönhauser Allee außerhalb der früheren Stadtmauern, der von 1827 bis 1880 benutzt wurde, blieb von antisemitischen Aktionen nicht verschont. »70 Prozent der kaputten Steine«, erläuterte Herr Münz vom Centrum Judaicum mit sarkastischem Unterton der Besuchergruppe, »sind nach der damaligen DDR-Presse das Ergebnis mehrerer Hurrikans und Unwetterkatastrophen, die ausschließlich auf diesem Friedhof stattgefunden haben.« Und direkt unter den Augen der angrenzenden Polizeidirektion Prenzlauer Berg geschah es, daß Ende 1987 und Anfang 1988 angeblich nur fünf Jugendliche insgesamt 192 Grabsteine umwerfen konnten. Der penetrante Uringeruch zeigt, daß die Stätte bis heute nicht in Ruhe gelassen wird, auf der unter anderem der Komponist Giacomo Meyerbeer, der Maler Max Liebermann und die »Märzgefallenen« begraben sind — jene einundzwanzig Juden, die in der vergeblichen Revolution im März 1848 ihr Leben ließen.

Auch die liberal-konservative Synagoge in der nahegelegenen Rykestraße wurde entweiht und von der Wehrmacht ab 1939 als Pferdestall genutzt. Danach aber ließ man ihr Inneres mitsamt dem prächtigen Altar restaurieren, so daß sie als einzige Ostberliner Synagoge wieder benutzbar war.

Nun geht die Busfahrt Richtung »neuer Westen«. Der Einkaufsmeile in der Leipziger Straße ist nicht mehr anzusehen, daß hier einmal die großen Warenhäuser der jüdischen Kaufleute Leonhard und Hermann Tietz standen. Die Kaufhauskette wurde im Zuge der Nazi-Arisierung nach den Anfangsbuchstaben des ehemaligen Besitzers in »Hertie« umbenannt.

Auch das heutige Zeitungsviertel rund um die Kreuzberger Kochstraße baut auf ehemals jüdischem Grund: Das VEB Druckkombinat gehörte früher dem Verleger Rudolf Mosse, der 1871 das linksliberale 'Berliner Tageblatt‘ gründete; der Springer Verlag siedelt auf Boden von August Scherr, dem Gründer des 'Berliner Lokalanzeigers‘. Nur an den Papierhändler Leopold Ullstein, der 1877 das 'Neue Berliner Tageblatt‘ aufbaute, erinnert noch der Name »Ullstein Verlag«.

Die Namen wurden manchmal weiterbenutzt, die Menschen aber wurden enteignet, verfolgt, vertrieben. Albert Einstein brachte es schon vor der Nazizeit für sich auf den Punkt: »Wenn die Relativitätstheorie sich bewährt, werden mich die Deutschen zu den ihren zählen, wenn nicht, dann zu den Juden.« Der Physiker, der ebenfalls emigrieren mußte, lebte wie viele andere arrivierte Juden im »neuen Westen«, in der heutigen Nördlinger Straße 5 im »Bayrischen Viertel« rund um den Bayrischen Platz. Auch hier sind die Spuren fast ausgelöscht. Ute Scheub

Weitere Termine der Stadtrundfahrt »Juden in Berlin«: 23.2., 8.3., 5.4. Auskunft bei Kulturkontor Tel.: (West) 310888.