Kiel nach dem Barschel-Bonus

Noch scheint der SPD bei den schleswig-holsteinischen Landtagswahlen im April der Sieg sicher.  ■ VON JÜRGEN OETTING

Auch nach seinem Coming- out als sozialdemokratischer Kanzlerkandidat- Kandidat steht Björn Engholm im Zentrum personalpolitischer Spekulationen — zumindest in Schleswig-Holstein. Dort wird am 5. April ein neuer Landtag gewählt. Es gilt als sicher, daß die SPD stärkste Partei bleibt und ihr Spitzenkandidat Ministerpräsident. Wer aber wird sein Nachfolger, wenn er 1994 nach Bonn geht? Das ist derzeit die meistgestellte Frage im beginnenden Wahlkampf, landespolitische Sachthemen spielen nur eine untergeordnete Rolle.

Nach der überraschenden Bereitschaftserklärung des Lübecker Zauderers gab die oppositionelle CDU unverzüglich Flugblätter in Druck: „Wer nun SPD?“ Eine Antwort dürfte sie während des Wahlkampfes wohl kaum bekommen, denn Schleswig-Holsteins Spitzensozis sind ein verschworener Haufen. Sie haben sich gegenseitig die strenge Auflage verpaßt: Wer sich selbst als Engholm-Nachfolger ins Gespräch bringt, wird's nicht! Das öffentliche Interesse soll während der Vorwahlwochen nicht vom norddeutschen SPD-Star abgelenkt werden. Immerhin wirbt die Regierungspartei mit großen Engholm-Porträts und dem Spruch „Einer von uns“ um Wählerstimmen.

Trotzdem wird natürlich munter weiterspekuliert. Nur zwei Kabinettsmitgliedern werden echte Chancen auf künftige Ministerpräsidentenehren eingeräumt: Heide Simonis und Günther Jansen. Nach wie vor genießt der langjährige SPD-Landesvorsitzende und jetzige Superminister für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Energie genießt innerparteilich sehr hohes Ansehen. Er gilt als die große Integrationsfigur der schleswig-holsteinischen Sozialdemokratie. Außerhalb der SPD-Familie ist Jansens politischer Stern hingegen gesunken, muß er sich mit dem Image des „Ankündigungsministers“ herumschlagen.

Spekulationen um die Engholm-Nachfolge

Diesen Ruf zog sich Atomkraftgegner Jansen zu, weil er in den zwei vorigen Landtagswahlkämpfen vollmundig einen zügigen Ausstieg versprochen hatte. Doch immer noch sind alle drei schleswig-holsteinischen Kernreaktoren am Netz: das veraltete AKW Brunsbüttel, das einst umkämpfte AKW Brokdorf und das durch eine Häufung von Leukämiefällen in seiner Umgebung ins Gerede gekommene AKW Krümmel. Inzwischen hat das aus den vergangenen Wahlkämpfen bekannte Ankündigungsspielchen zwischen Jansen und Engholm wieder begonnen: Der eine verspricht, der andere wiegelt ab. In der Januarsitzung des Landtages verkündete der Energieminister, der Ausstieg sei bis 1996 geschafft. Sein Chef hatte wenige Tage zuvor in einem Zeitungsinterview erklärt, man sei 1987/88 wohl zu voreilig gewesen, als man glaubte, es ließe sich innerhalb zweier Legislaturperioden aussteigen. Aber nicht nur als Energie-, sondern auch als Sozialminister machte Günther Jansen nicht immer eine gute Figur. Im Zusammenhang mit den Asylbewerbern, die schon seit Monaten schleswig-holsteinische Kirchen besetzen, weil sie nicht über ostdeutsche Unterkünfte „verteilt“ werden wollten, erklärte er sich frühzeitig für nicht zuständig und überließ die Last der Betreuung den Kirchengemeinden und privaten Unterstützern.

Derartige Negativschlagzeilen machte Heide Simonis nicht. Doch die durchsetzungsfähige und schlagfertige Finanzministerin konnte ihre politischen Talente als „Sparkommissarin“, die den strapazierten Landeshaushalt unter Kontrolle halten muß, nur wenig werbewirksam nutzen. Trotzdem wird der langjährigen Bundestagsabgeordneten gemeinhin zugetraut, sie könne eine eventuelle Engholm-Lücke schließen. Und da die schleswig-holsteinische SPD seit Jahrzehnten zu symbolisch-fortschrittlichen Handlungen neigt, stehen ihre Chancen, erste Ministerpräsidentin in der Geschichte der Bundesrepublik zu werden, nicht schlecht. Vorausgesetzt, Engholm geht wirklich nach Bonn.

Um seinen Anspruch auf die sozialdemokratische Kanzlerkandidatur zu untermauern, muß er am 5. April ein Wahlergebnis abliefern, das dem der schleswig-holsteinischen Erdrutschwahl vom Mai 1988 nahe kommt. Damals erhielt die SPD 54,8 Prozent und schob die fast zwei Jahrzehnte regierende CDU ins Ein-Drittel-Abseits (33,3 Prozent). Wenn Engholm als Hoffnungsträger im Gespräch bleiben will, muß die SPD in zwei Monaten ihre absolute Mehrheit verteidigen und zumindest nur ganz knapp unter 50 Prozent bleiben.

Das dürfte schwer werden. Erstens fehlt diesmal der Barschel-Affären-Bonus, der Engholm nach dem Patt der Herbstwahlen von 1987 (bei dem die CDU noch stärkste Partei war) erst zum großen Sieg verhalf. Zweitens haben die Genossen aus dem benachbarten Hamburg ihren nordelbischen Parteifreunden mit dem Diätenskandal ein stinkend faules Ei ins Wahlkampfnest gelegt. Und drittens ist nach knapp vierjähriger SPD-Regierung zwischen Nord- und Ostsee Ernüchterung eingekehrt. Die großen Reformen blieben aus. Die Sozialdemokraten haben keine bemerkenswerten landespolitischen Veränderungen zustande gebracht.

Ruckartige Innovationen sind nicht nach dem Geschmack des Kieler Ministerpräsidenten. In der ersten Hälfte seiner Amtszeit sang der Kabinettschef auf einer Pressekonferenz ganz ungefragt das Lob der Langsamkeit. Seitdem behauptet die CDU-Opposition, Engholm habe die Langsamkeit zum Regierungsprinzip erhoben.

Doch kein Mensch im nördlichsten Bundesland erwartet, daß ihm die immer noch affärengebeutelte Christenunion Beine macht. Mit diesem Vorsatz sind zwei (noch) kleinere Parteien angetreten, die beide nicht im Landesparlament vertreten sind: FDP und Grüne. Beide wollen die landespolitische Reformgeschwindigkeit von der Regierungsbank aus beschleunigen. Zwar halten die Liberalen die Entscheidung für einen späteren Koalitionspartner offiziell offen — realpolitisch aber kommt zwischen den Deichen nur die SPD in Frage. Doch vor dem rot- gelben Kabinett steht erst einmal die Rückkehr der FDP in den Kieler Landtag. Ein Selbstgänger wird das nicht, die Gelben stehen ohne Profil und als Ein-Mann-Partei da.

Die Kleinen wollen der SPD Beine machen

Der eine Mann heißt Wolfgang Kubicki, ist Rechtsanwalt in Kiel, Bundestagsabgeordneter in Bonn, Parteivorsitzender und Spitzenkandidat in Schleswig-Holstein sowie Selbstdarsteller in allen erreichbaren Medien. Er ganz allein hebt die Flachlandliberalen gelegentlich in die Zeitungen, hinter ihm tut sich gähnende Leere auf. Nach dem 4,4-Prozent- Mißerfolg des Jahres 1988 zog sich eine ganze Reihe mittelalterlicher Leistungsträger aus den vorderen Reihen der FDP-Landespolitik zurück. Die Nachfolger sind noch nicht ganz vorne angekommen, außer Kubicki natürlich. Der legt sich am liebsten mit Bundesgrößen wie Lambsdorf und Genscher an, fliegt dabei auch schon mal gewaltig auf die Nase — wie jüngst bei seiner Erfurter Abwahl aus dem Bundesvorstand. Sein Bekanntsheitsgrad steigt jedoch. Ob das aber zur Rückkehr in Landeshaus an der Förde reicht, ist fraglich.

Auf der programmatischen Ebene konnten die Freidemokraten bislang nicht vermitteln, weshalb es sinnvoll sein könnte, das „langsame“ Engholm-Kabinett um ein paar Liberale zu ergänzen. Denn genau auf den wirtschaftsliberalen Themenfeldern ist die SPD-Regierung durchaus umtriebig. Um die Ansiedlung von Industrie und Handel in der ökonomischen Randlage zwischen Jütland und Hamburg mühen sich die Sozialdemokraten auch allein händeringend. An der Infrastruktur wird heftig gewerkelt. So will die SPD unbedingt eine vierte Elbtunnelröhre durchsetzen (im Schulterschluß mit den Hamburger Sozis) und den Bau einer Ostseeautobahn von Lübeck nach Mecklenburg hält Engholm gar für eine „historische“ Aufgabe.

Allein die Grünen wenden sich gegen diese verkehrspolitischen Großprojekte. Nur ist das noch nicht bis in eine breitere Öffentlichkeit vorgedrungen. Allererste Aufgabe der Grünen im Wahlkampf ist, nachzuweisen, daß es sie noch gibt. Sie müssen ihr Image als ewige Verlierer ablegen — bereits vier Mal kandidierten sie erfolglos für den Landtag und erlebten 1988 mit 2,9 Prozent ein Desaster. Den Imagewandel müssen sie — anders als die FDP — ohne politischen Alleinunterhalter zustande bringen. Denn in ihrer 13jährigen Geschichte (sie kandidierten erstmals 1979 für den Landtag, unter dem Namen „Grüne Liste Schleswig-Holstein“) brachten sie es nur zu einem einzigen Promi, dem Parteifossil Baldur Springmann, der den Grünen schon seit einem Jahrzehnt nicht mehr angehört. Und mit der Abspaltung der Ökosozialisten im Mai 1990 verloren sie auch die meisten ihrer Halbpromis.

Doch der Weggang der leidlich bekannten Fundis ist andererseits auch das Pfund, mit dem sie nun wuchern können. Erstmals seit seiner Gründung ist der Landesverband nicht strömungskampfgeschädigt — kann also ungestört politisch gearbeitet werden. Und erstmals entwickeln die Grünen ein eigenes Profil und verstehen sich nicht mehr als Filiale ökosozialistischer Großstadtpolitik aus Hamburg.

Der jetzt stramm ausgerichtete Landesverband legte sich schon im Frühsommer des vorigen Jahres auf eine Koalitionsaussage zugunsten der SPD fest. Noch vor den Sommerferien wurde die Landesliste aufgestellt. Sie wird von der Husumer Pädagogin Irene Fröhlich angeführt. Frau Fröhlich ist außerhalb der „grauen Stadt am Meer“ weitgehend unbekannt. Das soll mit Hilfe einer Kölner Werbeagentur geändert werden, die der grünen Spitzenkandidaten einen „Sympathieträger“ an die Seite gestellt hat: den possierlichen Hasen „Lütt Matten“. Der grinst inzwischen von jedem grünen Faltbalt herunter. Manchen Parteimitgliedern ist der Wahlkampf deshalb schon allzu putzig.

Doch die Grünen bieten auch Inhaltliches. Für März ist in Kiel eine große Ostseekonferenz geplant, an der Vertreter von Ökoparteien aus dem gesamten baltischen Raum teilnehmen werden. Und gerade stand eine Hamburger Umlandkonferenz auf dem Programm, bei der gemeinsam mit hochkarätigen Fachleuten und der erfolgreichen GAL über Probleme des sogenannten „Speckgürtels“ debattiert wurde. Dieser Gürtel, das nördliche Hamburger Umland, ist die am stärksten besiedelte Region Schleswig-Holsteins. Hier können Wahlen entschieden werden. Und erstmals haben die Grünen eine wirkliche Chance, in das Kieler Landeshaus einzuziehen.

Sie müssen im Potential der SPD fischen. Für den 5. April gilt das alte Standardargument der Sozialdemokraten gegen Grüne nicht mehr. In früheren Wahlkämpfen hatte es stets geheißen, man dürfe einen Regierungswechsel nicht durch eine verschenkte Stimme an die Grünen gefährden (Splitting ist nicht möglich, im Norden hat jeder Wähler nur eine Stimme). Aber bei der komfortablen Engholm-Mehrheit gilt diese Blockade für unzufriedenen SPD-Wähler nicht mehr. Und selbst Engholm spekulierte bereits über eine grüne Regierungsbeteiligung, als er — für den Bund — eine Ampelkoalition nicht ausschloß. Was aber der Parteivorsitzende sich für Bonn vorstellen kann, dürfte er für Kiel nicht ausschließen.

Nicht nur den Grünen fehlen bekannte Namen

Und wer soll für den Fall entsprechender Mehrheiten grüner Minister werden? Namen aus Schleswig-Holstein drängen sich nicht gerade auf. Der Landesvorstand bemüht sich derzeit, eine „Unterstützergruppe“ für den Wahlkampf zu rekrutieren. Sie soll sich aus namhaften Parteimitgliedern der ganzen Republik zusammensetzen.

Über künftige Kabinettsmitglieder braucht sich in der CDU niemand ernsthafte Gedanken zu machen. Die Christdemokraten müssen sich mit zwei Ex-Ministern aus der Barschel- Ära trösten, die auch im nächsten Landtag sitzen werden — mit großer Wahrscheinlichkeit wieder auf den Oppositionsbänken. Doch an diese Rolle haben sich die CDU-Politiker immer noch nicht gewöhnt. In der auslaufenden Legislaturperiode war von parlamentarischer Gegenkraft so wenig zu spüren, daß SPD-Fraktionschef Gert Börnsen die Union gelegentlich an ihre Oppositionsaufgaben erinnern mußte. Meist war die CDU mit sich selbst beschäftigt. Sogar der Spitzenkandidat der Union, Ottfried Hennig, ist im Lande nicht viel bekannter als die Listenführerin der Grünen. Der parlamentarische Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium wirkt, als liefe er an der langen Leine seine Ministers. Gerhardt Stoltenberg selbst wird selten im Norden gesehen, gilt aber immer noch als graue Eminenz des Landesverbandes — immerhin war er viele Jahre Ministerpräsident und Landesvorsitzender.

Wie groß schließlich die CDU- Einbußen an ihrem rechten Rand werden, ist höchst schleierhaft. Die „Deutsche Volksunion“ (DVU) wählte vor Monaten in einem Landgasthof Kandidaten und wird wohl zur Wahl antreten. Und die zerstrittenen Republikaner veröffentlichen derzeit Zeitungsanzeigen, in denen es heißt: „Wir geben bekannt!!! Trotz anders lautender Behauptungen treten wir in allen 45 Wahlkreisen an.“