Trügerische Wahlfreiheit

■ Das frauenpolitische Engagement gerät zunehmend in die Defensive: Sozialpolitische Errungenschaften manipulieren die Wahlfreiheit zugunsten traditioneller Frauenrollen. Die deutsch-deutsche Einheit hat dieses...

Das frauenpolitische Engagement gerät zunehmend in die Defensive: Sozialpolitische Errungenschaften manipulieren die Wahlfreiheit zugunsten traditioneller Frauenrollen. Die deutsch-deutsche Einheit hat dieses Probleme verschärft. Ein Essay VON UTE GERHARD

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ach wie vor ist die Rede von der Gleichstellung der Frauen, von Frauenförderplänen und Entwürfen für notwendige und verbesserte Gleichberechtigungsgesetze (vgl. die neuesten Vorschläge von Bundesfrauenministerin Angela Merkel und von der hessischen Frauen- und Arbeitsministerin Heide Pfarr zur Frauenförderung im öffentlichen Dienst). Auffällig und bemerkenswert ist die Diskrepanz zwischen den üblich gewordenen Lippenbekenntnissen zur Gleichstellung und der ungleichen Lebenswirklichkeit von Frauen. So hat zum Beispiel die progressive Rhetorik mancher, hart erkämpfter Stellenausschreibungen an den Universitäten, bei gleicher Qualifikation bevorzugt Frauen einzustellen, schon zu dem verbreiteten Gerücht geführt, daß mittlerweile kein Mann mehr berufen würde.

Eine nachgerade absurde Befürchtung, wenn gleichzeitig festzustellen ist, daß der Anteil an Frauen in den höheren Positionen in Politik, Wirtschaft und an den Universitäten in den letzten zehn Jahren trotz vieler Frauenförderpläne um kein Zehntel hinter dem Komma gestiegen ist. In der politischen Öffentlichkeit wird uns alltäglich die Vorherrschaft und die Gewichtigkeit der Mannspersonen vor Augen geführt. Dies wurde auch für CDU-Politikerinnen wie Rita Süssmuth zum Thema. Eine Recherche des Frauenministeriums über die Beteiligung von Frauen in den politischen Gremien zeigt, daß der Frauenanteil in mehr als 1.000 untersuchten Gremien im Geschäftsbereich der Bundesregierung durchschnittlich nur 7,2Prozent beträgt, in mehr als der Hälfte dieser Gremien war überhaupt keine Frau beteiligt. Ist dies die staatsbürgerliche Gleichheit, die uns seit 1919 — mit der weitreichenden Unterbrechung in der Zeit des Nationalsozialismus — in Deutschland in der Verfassung zugesichert wird?

Inwieweit hat die deutsche Vereinigung die Situation verändert?

Theoretisch haben Frauenforscherinnen es längst gewußt, daß sich die Geschlechterprobleme weder im „real existierenden Sozialismus“ noch im Kapitalismus lediglich als Nebenwidersprüche oder vormoderne Überbleibsel erklären ließen. Sie sind einer Herrschaftsform geschuldet, die selbst des Feminismus unverdächtige Soziologen wie Max Weber als Patriarchalismus kennzeichnete. Trotzdem war es mehr als ein empirisches Aha-Erlebnis, erst nach der Vereinigung erfahren zu müssen, wie sehr sich trotz der gegensätzlichen Gesellschaftssysteme die geschlechtstypischen Strukturen der Ungleichheit in der alten BRD und DDR ähnelten: Zum Beispiel in bezug auf die Lohnungleichheit, den Dreh- und Angelpunkt der Diskriminierung von Frauen in der westlichen „Arbeitsgesellschaft“. Auch in der DDR erhielten Frauen trotz staatlicher Lenkung und angeblich verwirklichter Gleichberechtigungspolitik in allen Wirtschaftsbereichen durchgängig in vergleichbarer Stellung doch bis zu 30Prozent weniger Lohn. Und trotz vielfältiger staatlicher Förderungsmaßnahmen, trotz eines hohen Potentials qualifizierter Frauen mit Hoch- und Fachhochschulabschluß, war und ist das weibliche Geschlecht in Leitungs- und Spitzenpositionen wie in der BRD gleichermaßen unterrepräsentiert, richtiger wohl: ausgeschaltet.

Die Vereinigung der Ungleichheiten hat kein Mehr an Gleichberechtigung gebracht (minus*minus ergab kein Plus). Sie hat die Frauenprobleme in Ost und West noch verschärft. Insbesondere auf dem Arbeitsmarkt sind Frauen wiederum die Hauptverliererinnen und hier vor allem die „älteren“ Arbeitnehmerinnen — das sind in Wirklichkeit die Frauen im mittleren Lebensalter, die unter DDR-Verhältnissen noch mindestens mit 20 Berufsjahren hätten rechnen können. Von ihnen sind mittlerweile zwei Drittel arbeitslos. Nicht nur die Gesetze des freien Marktes geben hier den Ausschlag über Sein oder Nichtsein, auch die in der alten Bundesrepublik aus Frauensicht seit mehr als 20 Jahren vergeblich kritisierte Rechtsordnung des AFG (das Arbeits„förderungs“recht) kommt hier zum Zuge. Frauen, die Kinder erziehen oder für andere Personen sorgen, gelten als „dem Arbeitsmarkt nicht verfügbar“. Sie haben somit keine Rechtsansprüche, weder auf Arbeitslosengeld noch auf andere arbeitsfördernde Maßnahmen. Sie werden auch nicht darüber aufgeklärt, daß sie sich trotz allem arbeitslos zu melden haben, um wenigstens ihre Rentenansprüche in dieser Zeit aufzubessern. Ganz abgesehen von dem tief sitzenden patriarchalischen Vorurteil, das nun wieder salonfähig wird, wonach Frauen ohnehin besser zu Hause aufgehoben seien.

Aus diesem Grund ist auch der Zusammenbruch der gesamten DDR-Infrastruktur zur Kinderbetreuung unter westdeutscher Prioritätensetzung kaum beklagenswert. Im Gegenteil. Hier wird ökonomisch begründet eine Weltordnung wiederhergestellt, die für die Familienpolitik der BRD schon immer ein Essentiel war: Die Familie nicht nur als „Kinderstube des Menschengeschlechts“, sondern als Grundpfeiler und Institution des Staates.

Welche Zielsetzung hat Frauenpolitik in der BRD?

„Die Interessen des Staates an der Familie sind nicht die Interessen der Frauen“, lautete zu Beginn der 80er Jahre das Resümee von Frauenforscherinnen in ihrer selbstbewußt gewordenen Kritik am 3.Familienbericht von 1979. Bei der ersten gesamtdeutschen Regierungsbildung nun wurden erstmalig die Ressorts geteilt, die Trennung zwischen Familien- und Frauenpolitik somit auch institutionell vollzogen. Was ist damit erreicht?

Der 3.Familienbericht markiert die Wende nach einer Phase sozialistischer Reformen unter der vorrangigen Zielsetzung Gleichberechtigung durch Erwerbstätigkeit. Zu diesen Reformen gehörten wichtige, aber auch steckengebliebene Gleichstellungsgesetze zur Bildungs- und Ausbildungsförderung (Bafög), programmatisch auch das Arbeitsförderungsgesetz (AFG), schließlich die Reform des Unehelichen- und des Ehe- und Familienrechts mit Unterhaltsansprüchen des ökonomisch schwächeren Teils und der Einführung des Versorgungsausgleichs. Seit dem Beginn der 90er Jahre werden die Prioritäten politisch umgedreht. Unter der trügerischen Leitnorm „Wahlfreiheit“ und „Partnerschaft“ werden Familientätigkeiten beredt aufgewertet. Traditionell weibliche Werte wie „Mütterlichkeit“ werden in eine neues neues Gewand gesteckt — das nur auf den ersten Blick einige Muster feministischer Gesellschaftskritik zu kopieren scheint, in Wirklichkeit verfälscht. Denn alle sozialpolitischen und frauenspezifischen Errungenschaften — von der für Väter zu geringfügigen Bezahlung eines Erziehungsjahres anstelle des Mutterschaftsurlaubsgeldes für Arbeitnehmerinnen über die Anerkennung der Kindererziehungszeiten für die Rente, das Beschäftigungsförderungsgesetz zur Flexibilisierung weiblicher Arbeitskraft und so weiter — dienen dem Ziel, die Wahlfreiheit zugunsten der Familie zu fingieren. Die Hausfrau und Mutter bekommt ein Trostpflaster für ihre Aufopferung verpaßt. Hinzu kommen massive materielle und psychische Barrieren gegen die gleichberechtigte Berufstätigkeit von Ehefrauen.

Die symbolische Aufwertung der Mutterrolle bleibt ein Trugschluß, um nicht zu sagen, ein Betrug: Auch in Zukunft werden hauptsächlich die Frauen, die sich auf ein Leben in der Familie eingerichtet und Kompromisse zugunsten ihrer Kinder geschlossen haben, mit dem Risiko der Altersarmut leben müssen. Das Ende der lange diskutierten Rentenreform, das seit 1.Januar 1992 gültige Rentenreformgesetz (RRG), hat trotz der nur drei Babyjahre die systematische Benachteiligung der Frauen, die im strikten Lohnbezug und der sogenannten Beitragsgerechtigkeit angelegt ist, nicht behoben. Die dramatische Verschlechterung der Rentnerinnen aus der DDR ist vorläufig durch Sozialabschläge bis 1995 verschleiert. Und doch hat das für die DDR-Renten diskutierte Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) wenigstens das Problembewußtsein in einer Hinsicht geschärft: Es soll wenigstens noch einmal über die im DDR- Recht übliche zusätzliche Anrechnung der Kindererziehung zu den Rentenansprüchen aus Erwerbstätigkeit nachgedacht werden. Dieses wäre ein nicht unwesentlicher neuer Ansatzpunkt, den Stillstand in der Sozialpolitik im Interesse von Frauen und nicht nur der Familie zu überwinden.

Rolle der Frauenbewegung in diesem politischen Spiel

Erst allmählich lernen die westdeutschen Feministinnen ihre Enttäuschung darüber zu bearbeiten, daß es für die ostdeutschen Schwestern zur Zeit anscheinend Wichtigeres gibt als weibliche Sprachformen, oder ernsthaft: daß die in der DDR erprobte Gleichberechtigung dem Feminismus westlicher Prägung keine neue Schubkraft verleiht. Denn dem westlichen Feminismus geht es vorrangig um Selbstbestimmung, sexuelle Selbstbestimmung und Befreiung aus Bevormundung. Er ging damit in seiner Zielsetzung von Anbeginn über die formale Gleichberechtigung und Partizipation hinaus. Darum ist die Frage der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs keine Nebensächlichkeit, an der der Einigungsvertrag beinahe gescheitert wäre, sondern ein Seismograph für die Stellung der Frauen und Frauenbewegung im zukünftigen Deutschland. Die Frauenmeinung und Fraueninteressen in diesem zentralen Punkt zu übergehen, wäre ein schlechter Einstieg in eine gemeinsame Frauenpolitik.

Ute Gerhard ist Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Frauenforschung an der Universität Frankfurt/Main.