AKW Stade spielt Super-GAU

■ 195 Behördenvertreter probten den überschaubaren Ernstfall

Das einzige, was die Öffentlichkeit zu sehen bekam, waren die Männer vom Strahlenspürtrupp in ihren orangefarbenen Schutzanzügen. Sie schwirrten frühmorgens mit Meßwagen und Geigerzähler aus, um in unmittelbarer Nähe des Atomkraftwerks Stade vermeintlich erhöhte Radioaktivität auszumachen. Ansonsten spielte sich die Katastrophe im Saale ab. Ein „schwerer nuklearer Unfall“ der Katagerie S — Sofortmeldung erforderlich — war die Ausgangslage für die Übung „Stade 92“ gestern im Kreishaus von Stade. 195 Behördenfachleute aus Niedersachsen, Hamburg und Schleswig-Holstein probten den Ernstfall und ließen sich dabei nicht aus der Ruhe bringen.

Seit 1981 war dies die erste große Übung in der Umgebung des Kernkraftwerks Stade — vermutlich auch die letzte. Die rotgrüne Koalition in Hannover arbeitet derzeit mit Hochdruck an ihrem Ziel, den ungeliebten Reaktor an der Unterelbe 1993 stillzulegen. Gerüchte aus der Landeshauptstadt, wonach es Verhandlungen über eine einvernehmliche Lösung zwischen der Regierung Schröder und der Betreiberin Preußen-Elektra gebe, wurden jetzt von einer Sprecherin des Umweltministeriums bestätigt. Als Ersatz für Stade ist ein Gaskraftwerk im Gespräch.

Das Kernkraftwerk Stade an der Elbe ist der älteste kommerziell genutzte Atommeiler der Bundesrepublik. Der 640-Megawatt-Druckwasserreaktor, der damals 360 Millionen Mark gekostet hatte, ging im Januar 1972 ans Netz. Das Sicherheitssystem des Atomkraftwerkes geriet in den letzten Jahren immer wieder in Verruf. Das niedersächsische Umweltministerium verpflich

Prosteste gegen das AKW Stadt gingen auch von Bremen ausFoto: Katja Heddinga, Archiv

tete im vergangenen Jahr die Betreibergesellschaften, die Sicherheitsventile an dem Atomkraftwerk umzubauen. Nach insgesamt fast einjährigem Stillstand ging das Kraftwerk im Dezember 1991 wieder ans Netz.

Nach Ansicht des Umweltministeriums in Hannover hat das Kraftwerk vor allen folgenden Mangel: Bei dem Druckbehälter bestehe der Verdacht, daß das Material spröde sei. Exakte Ergebnisse eines Gutachtens zu diesem Verdacht werden aber erst Ende 1993 vorliegen.

Jetzt soll die Umgebung des ältesten deutschen Kernkraftwerkes auf Krebsgefahren durch radioaktive Niederigstrahlung untersucht werden. Anlaß dafür ist die auffällig hohe Zahl von Leukämie-Erkrankungen in der Elbmarsch. Zwei Kinder sind daran schon gestorben.

Wieweit im Ernstfall die Bedrohung reicht, war eine der

Kernfragen des Planspiels der Katastrophenschützer. „Viel hängt von den meteorologischen Verhältnissen zum Zeitpunkt des Unglücks ab“, hieß es. Fürs erste begnügte man sich damit, das gefährdete Gebiet in drei Zonen einzuteilen: In die Kernzone mit einem Umkreis von zwei Kilometern um das Kraftwerk, in die Mittelzone mit einem Radius von zehn Kilometern und in die Außenzone mit 25 km Umfang.

Das „Drehbuch“ für den simulierten Nuklearunfall war von Fachleuten des niedersächsischen Wirtschafts-und Umweltministeriums erarbeitet worden. Die 300 Atomkraftwerksmitarbeiter spielten nur eine Gastrolle; der Reaktor selbst blieb vom Übungskonzept von vornherein ausgespart. Um die Bevölkerung nicht zu verunsichern, wurden Evakuierungs-und Absprerrmaßnahmen nur auf dem Papier festgelegt. Wann und wo Jodtabletten

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zu verteilen, Schulen zu schließen und überhaupt die Bürger zu informieren sind, blieb Gegenstand von Aktennotizen. Katastrophenschutzpläne sollten überprüft und Stabsmitarbeiter geschult werden.

„Die Übung war zwangsläufig auf ein Szenario zugeschnitten, bei dem der Austritt von Radioaktivität binnen kurzer Zeit gestoppt werden kann“, betonte der Staatssekretär im niedersächsischen Umweltministerium, Jan-Henrik Horn, den Spielcharakter der Übung. Ebenso wie der Stader Oberkreisdirektor Karsten Ebel sprach Horn dem Unternehmen „Stade 92“ einen begrenzten Wahrheitsgehalt zu. Sie habe nur einen kleinen Teil des tatsächlichen Risikopotentials bei einem Störfall abgedeckt. Die Gefahren, die mit der Nutzung der Atomenergie einhergingen, ließen sich nicht beherrschen. Jörn Freyenhagen, dpa