Der Ritt auf zwei Tigern

Vietnams Außenpolitik zu Beginn der neunziger Jahre: Die Sozialistische Machtelite zwischen Systemerhaltung und der Notwendigkeit der West-Öffnung.  ■ VON GERHARD WILL

Befragt nach der außenpolitischen Strategie seines Landes hatte Nguyen Co Thach, damals stellvertretender Außenminister Vietnams, noch 1978 geantwortet: „Wir reiten auf zwei Tigern.“ Thach wollte damit sagen, daß Vietnam sowohl die Hilfe der sozialistischen Bruderländer als auch der westlich orientierten Industrienationen sowie der internationalen Finanzierungsorganisationen (zum Beispiel die Weltbank und der Internationale Währungsfonds) in Anspruch nehmen werde, um über einen möglichst großen außenpolitischen Handlungsspielraum verfügen zu können. Schon ein Jahr später war offensichtlich, daß dieses Konzept einer „diversifizierten Außenpolitik“ gescheitert war. Die militärische Besetzung Kambodschas, der angestrebte Zusammenschluß eines von Hanoi geführten Indochina hatten Vietnam nicht nur in eine kräftezehrende Auseinandersetzung mit der VR China verwickelt, sondern dieses Land auch international weitgehend isoliert. Statt auf ein dichtes Netz außenpolitischer Kontakte konnte Hanoi nur auf die politische und materielle Unterstützung der Sowjetunion und ihrer osteuropäischen Verbündeten bauen. Als Gegenleistung mußten der Sowjetunion militärische Stützpunktrechte in Vietnam eingeräumt werden, die das ohnehin vorhandene Feindbild eines „Handlangers sowjetischer Interessen“, eines „Kubas in Südostasien“ weiter bestärkten.

Außenpolitische Neuorientierung

Je länger der Krieg in Kambodscha dauerte, desto deutlicher zeichnete sich ab, daß die ursprüngliche Strategie Hanois durch einen schnellen militärischen Schlag irreversible Fakten zu schaffen, nicht aufgegangen war. Weder gelang es, die militärische Situation in Kambodscha unter Kontrolle zu bringen, noch der Regierung in Phnom Penh internationale Anerkennung zu verschaffen. Statt dessen zehrte der in Kambodscha geführte Krieg an der ohnehin nur schwachen Wirtschaftskraft Vietnams.

Hinzu kam, daß Präsident Gorbatschow bereits in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft klar zu verstehen gegeben hatte, daß er den Expansionskurs Breschnews in der Dritten Welt nicht fortsetzen, sondern einen aktiven Beitrag der UdSSR zur friedlichen Beilegung von Regionalkonflikten in der Dritten Welt leisten und auch in der Außenpolitik ein strikteres Kosten-Nutzen-Denken, eine „Ökonomisierung der Außenpolitik“ anstreben werde. Immer dringlicher wurden daher die Forderungen an die vietnamesischen Genossen, die sowjetischen Lieferungen mit entsprechenden Gegenlieferungen zu honorieren und nicht mit einer immer weiteren Aufstockung der sowjetischen Hilfe zu rechnen. Aufgrund der eigenen ökonomischen Schwäche sah sich die Sowjetunion schließlich dazu veranlaßt, ihre Hilfeleistungen an Vietnam drastisch zu kürzen und 1991 den bilateralen Handel auf Verrechnung in Devisen umzustellen.

Entspannungs- bemühungen

Die vietnamesische Führung war sich dieser Herausforderungen sehr wohl bewußt, und sie hatte sich auch ab 1987/88 bemüht, wieder an jene Konzeption einer „diversifizierten Außenpolitik“ anzuknüpfen, die sie 1979 nolens volens über Bord geworfen hatte. Erste Ansatzpunkte hierfür ergaben sich in Südostasien. Obwohl die ASEAN-Staaten es immer wieder verstanden hatten, nach außen hin eine geschlossene Haltung in der Kambodschafrage zu dokumentieren, gaben führende Vertreter Malaysias und Indonesiens schon zu Beginn der achtziger Jahre zu verstehen, daß man zwar Vietnams Hegemoniepolitik in Indochina nicht hinnehmen werde, aber nicht nur in Vietnam, sondern auch in der VR China eine Bedrohung der Stabilität und Unabhängigkeit der Region sehe. Im Juli 1987 war daher der damalige indonesische Außenminister Mochtar nach Vietnam gereist und hatte dort mit seinem vietnamesischen Amtskollegen eine gemeinsame Erklärung ausgearbeitet, in der ein „informelles Treffen“ der vier kambodschanischen Konfliktparteien vorgeschlagen wurde, zu dem später auch die Vertreter der mittelbar am Konflikt beteiligten Länder hinzugezogen werden sollten. Während der folgenden Jahre richtete Indonesien mehrere solcher „Informal Meetings“ aus, die wichtige Meilensteine in dem langwierigen Prozeß einer friedlichen Beilegung des Kambodschakonflikts darstellten.

Thailand, das 1979 zum „Frontstaat“ im Kambodschakonflikt geworden war, hatte die indonesischen Friedensbemühungen zunächst mit großem Mißtrauen verfolgt. Dies änderte sich jedoch fast schlagartig, nachdem im Sommer 1988 Chatichai Choonavan das Amt des Ministerpräsidenten übernommen hatte. Seine Parole „Das Schlachtfeld Indochina muß in einen Markt verwandelt werden!“ faßte sehr griffig die Wünsche der thailändischen Wirtschaft zusammen, die in den vergangenen Jahren einen ungeheuren Boom erlebt hatte, der aber nur dann mit dem bisherigen Tempo fortgesetzt werden konnte, wenn neue Absatzmärkte und Rohstofflieferanten zur Verfügung standen. Der vietnamesischen Führung, die auf dem 6.Parteitag im Dezember 1986 konsequent eine außenwirtschaftliche Öffnungspolitik propagiert hatte, kam dies nur entgegen, und so entwickelte sich während der folgenden Jahre ein dichtes Netz von politischen und wirtschaftlichen Kontakten zwischen jenen beiden Ländern, die sich lange Zeit als Antipoden in Südostasien gegenübergestanden hatten.

Rückkehr des zweiten Tigers

Will Vietnam nicht zum Mezzogiorno Südostasiens werden, braucht es Investitionen und technisches Know-how moderner Industriegesellschaften. Schon aus geographischen Gründen nimmt Japan hier eine Schlüsselrolle ein. Tokio hatte zwar 1979 mit dem politischen Westen gemeinsame Linie bezogen und alle Entwicklungshilfeleistungen an Vietnam storniert, war aber frühzeitig von dieser Politik abgerückt. Um die geforderte Solidarität nicht offen zu verletzen, gewährte es ab Januar 1982 humanitäre Hilfe. Doch auch der bilaterale Handel erhöhte sich Mitte der achtziger Jahre sehr rasch. Die japanischen Großhandelshäuser eröffneten eigene Vertretungen in Hanoi und gewährten großzügige Zahlungsbedingungen. Die japanische Regierung sah derartige Aktivitäten offensichtlich nicht ungern, erwiderte aber auf Kritik aus dem Ausland, daß sie kein Wirtschaftsembargo verfügt habe und japanische Firmen daher das verfassungsmäßige Recht auf freien Handel hätten. Nachdem Vietnam im September 1989 seine Truppen aus Kambodscha abgezogen hatte, ging auch das japanische Außenministerium in die Offensive. Im August 1991 stattete schließlich Japans Außenminister Vietnam einen offiziellen Besuch ab, bei dem auch über die Wiederaufnahme der staatlichen Entwicklungshilfe gesprochen wurde.

Ebenso führte der Truppenabzug aus Kambodscha zu einem Stimmungsumschwung in Westeuropa. Italien und Frankreich entsandten ihre Außenminister nach Vietnam. Die Bundesregierung empfing im Mai 1990 den vietnamesischen Außenminister und sicherte ihm die Bereitschaft zu, die von der DDR eingegangenen Verpflichtungen so weit wie irgend möglich zu übernehmen. Im Oktober beschlossen die EG- Außenminister, volle diplomatische Beziehungen zwischen der EG und Vietnam herzustellen. Betrachtet man die Zahlen über ausländische Direktinvestitionen, so führen sogar eine Reihe westeuropäischer Länder die Tabelle an, während Japan erst an fünfter Stelle kommt. Aber die massiven Vorarbeiten, die japanische Firmen seit 1986 betrieben haben, werden sich zweifellos längerfristig auszahlen.

Weniger Erfolg war bislang den Bemühungen Hanois beschieden, das Verhältnis zu den USA zu normalisieren, obgleich es bereits 1987 ermutigende Hoffnungssignale gegeben hatte. General Vessey hatte damals als Sonderbotschafter Präsident Reagans in Hanoi eine gemeinsame Vereinbarung unterzeichnet, in der Vietnam zusagte, die Suche nach den sterblichen Überresten der in Vietnam vermißten GIs zu intensivieren, während die USA versprachen, medizinische Hilfe zur Rehabilitation der Kriegsopfer zu gewähren. Weitere Fortschritte machte Washington indes von Zugeständnissen Hanois in der Kambodschafrage abhängig. Nachdem im Spätherbst 1990 direkte Gespräche zwischen Washington und Hanoi über dieses Thema aufgenommen worden waren, zeigte die amerikanische Regierung im Frühjahr 1991 erstes Entgegenkommen. Sie gab bekannt, daß sie im IWF kein Veto mehr gegen Kredite an Vietnam aussprechen werde und legte einen Vier-Phasen-Plan für eine vollständige Normalisierung der Beziehungen vor, in dem genau aufgelistet war, welche Schritte Washington von Hanoi forderte und welche Gegenleistungen es jeweils dafür zu bringen bereit war. Wenig später wurde die Errichtung eines amerikanischen Verbindungsbüros in Hanoi vereinbart, das sich speziell um die Vermißtenfrage kümmern sollte. Die USA sind damit in Hanoi präsent, und amerikanische Unternehmen drängen angesichts der massiven Konkurrenz aus Japan, Europa und Südostasien stärker denn je auf eine Aufhebung des Embargos. Daß man sich in Washington zu diesem Schritt durchringen wird, ist in nächster Zukunft zu erwarten.

Aussöhnung mit der VR China

Daß es der vietnamesischen Außenpolitik seit geraumer Zeit nicht an Flexibilität mangelt, zeigt ihr beharrliches Zugehen auf die VR China, die fast zehn Jahre lang alle Entspannungsbemühungen Hanois abgeblockt hatte. Erst im Verlauf des Jahres 1990 gelangen Hanoi entscheidende Durchbrüche. Drei Gründe waren hierfür vor allem maßgeblich. Erstens hatte Peking offensichtlich eingesehen, daß der Abzug der vietnamesischen Truppen aus Kambodscha kein „großangelegtes Täuschungsmanöver“ war, sondern eine wirkliche Positionsveränderung Hanois in der Kambodschafrage widerspiegelte. Zweitens fiel mit dem Abbau der sowjetischen Militärpräsenz in Vietnam und der Auflösung der sowjetisch-vietnamesischen Allianz eine wesentliche Ursache des vietnamesich-chinesischen Konfliktes weg, und die drastische Kürzung der sowjetischen Hilfe motivierte Hanoi noch stärker, einen Ausgleich mit der VR China zu suchen, von der man ja schon während des nationalen Befreiungskampfes immense Unterstützung bekommen hatte. Darüber hinaus führte der Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa und in der Sowjetunion zu neuen ideologischen Gemeinsamkeiten zwischen Hanoi und Peking.

Angesichts so weitgehender Übereinstimmung war es dann auch relativ leicht, zu einem für beide Seiten akzeptablen Konsenz in der Kambodschafrage zu kommen. In mehreren geheimgehaltenen Treffen zwischen führenden Vertretern der chinesischen und vietnamesischen KP wurden die wichtigsten Punkte eines entsprechenden Kompromisses ausgearbeitet. Peking erklärte sich mit der Bildung eines „Obersten Nationalrates“ (ONR) für Kambodscha einverstanden, in dem die Widerstandskoalition und die Phnom Penher Seite je sechs Sitze einnehmen sollten, während es früher immer auf einer gleichstarken Vertretung aller vier kambodschanischen Parteien bestanden hatte. Im Gegenzug erhoben Hanoi und nach einigem Zögern auch Phnom Penh keine Einwände mehr gegen die Übernahme des Vorsitzes im ONR durch Prinz Sihanouk und verzichteten auf ihre Forderung, die Führung der Roten Khmer wegen Völkermords vor Gericht zu stellen. Auf dieser Basis fanden dann auch die vier kambodschanischen Parteien im Sommer 1991 auf ihren Treffen in Pattaya und Peking zu einer kaum mehr für möglich gehaltenen Übereinstimmung.

Als im September 1991 der neue vietnamesische Außenminister Nguyen Man Cam nach Peking reiste, um einen förmlichen Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen und ein Treffen der Parteivorsitzenden beider Länder im Spätherbst vorzubereiten, erging sich denn auch die vietnamesische Parteizeitung in nostalgischen Verklärungen des oft so spannungsreichen Verhältnisses zwischen beiden Ländern:

„China und Vietnam sind Nachbarländer, die Berge und Flüsse teilen. Die Völker beider Länder sind durch traditionelle Freundschaft verbunden und haben sich im Kampf für nationale Befreiung und beim sozialistischen Aufbau unterstützt und geholfen.“

Bilanz

Der vietnamesischen Diplomatie ist es während der vergangenen vier Jahre zweifellos gelungen, sich aus jener Isolation zu befreien, in die Vietnam Ende der siebziger Jahre geraten ist. Selbst mit der ungeheuren Herausforderung, die die drastische Kürzung der sowjetischen Hilfe und der totale Wegfall der Hilfe der osteuropäischen Länder darstellen, ist Vietnam bislang erstaunlich gut zurecht gekommen. Nach wie vor ist zwar das amerikanische Embargo noch nicht beseitigt, aber der außenpolitische Handlungsspielraum Hanois wird dadurch nicht mehr entscheidend eingegrenzt. Hanoi konnte die Konfrontation mit der VR China und den südostasiatischen Nachbarländern überwinden und mit den westlich orientierten Industriestaaten entwicklungsfähige wirtschaftliche und politische Beziehungen aufbauen.

Allerdings zeichnet sich damit ein neues Dilemma ab. Das enge Verhältnis zwischen der VR China und Vietnam weckt in Südostasien eher Ängste vor einem übermächtigen sino-vietnamesischen Block als Bereitschaft zur Kooperation. Ebenso führt ein solches Zusammengehen der orthodoxen kommunistischen Staaten in Asien bei allen potentiellen Investoren und Geschäftspartnern in westlich orientierten Ländern eher zur Zurückhaltung als zur Entscheidung für ein Engagement. Der Versuch, enge Beziehungen zur VR China wie zum politischen Westen zu unterhalten beziehungsweise den privaten Wirtschaftssektor zu entwickeln, aber gleichzeitig kompromißlos an den leninistischen Prinzipien festzuhalten, erinnert an den eingangs zitierten Ausspruch: „Wir reiten auf zwei Tigern.“ Ein sehr schwieriges Unterfangen, vor allem wenn die zwei Tiger in verschiedene Richtungen rennen.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BIOST in Köln. Aus 'Südostasien-Informationen‘ 4/91.