Binnenmarkt der Armen

Südamerikanische Staaten bilden Freihandelszonen nach EG-Vorbild/ Chile schielt nach Norden  ■ Von Astrid Prange

Rio de Janeiro (taz) — Das Beispiel macht Schule. Während die Europäische Gemeinschaft die Einführung der „Ecu“ feiert, wachsen auch in Lateinamerika neue Wirtschaftsblöcke heran. Drei Freihandelsabkommen traten zu Jahresbeginn in Kraft: „Mercosur“, der „Andenpakt“ und der gemeinsame Markt zwischen den USA, Kanada und Mexiko. Die Euphorie ist groß: „Das Mißtrauen ist trotz der schwierigen Wirtschaftslage verflogen“, erklärt Alberto Sagre, Direktor der argentinischen Bank „Banco de La Nacion“ in Sao Paulo. Seit am 29. November 1991 das Freihandelsabkommen „Mercosur“ zwischen Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay in Kraft trat, boomt der Handel zwischen Brasilien und Argentinien. Die Börsen in Rio, Sao Paulo und Buenos Aires verzeichnen Rekordgewinne.

Das im März vergangenen Jahres in der Hauptstadt Paraguays, Asuncion, unterzeichnete Abkommen sieht die Schaffung einer Freihandelszone zwischen den vier Ländern Südamerikas vor. Schrittweise sollen in dem Wirtschaftsraum mit einem Bruttosozialprodukt (BSP) von 480 Milliarden Dollar und 200 Millionen EinwohnerInnen bis zum 1. Januar 1995 alle Zollschranken abgebaut werden. Brasilien stellt mit seinem Nationalprodukt von 340 Milliarden Dollar und 150 Millionen EinwohnerInnen den Löwenanteil. Die Ministaaten Paraguay (4,2 Millionen EinwohnerInnen, BSP: 6,7 Milliarden Dollar) und Uruguay (drei Millionen EinwohnerInnen, BSP: sechs Milliarden Dollar) fürchten nicht zu Unrecht, von den NachbarInnen geschluckt zu werden.

Die fünf Andenländer Bolivien, Venezuela, Ekuador, Kolumbien und Peru bilden seit 1.1.1992 ebenfalls einen einheitlichen Wirtschaftsraum. Der im Dezember 1991 in der kolumbianischen Stadt Cartagena vereinbarte Andenpakt sieht je nach Produkt in den fünf Ländern einheitliche Zölle zwischen 5 und 20 Prozent vor. Zwar ist das Handelsvolumen zwischen den Andenstaaten mit 2,4 Milliarden Mark im Vergleich zum Warenaustausch zwischen den „Mercosur“-Staaten (8,8 Milliarden Mark) klein, doch es ist immerhin ein Schritt zur Wirtschaftsintegration.

Ginge es nach dem venezuelanischen Präsidenten Carlos Andrés Perez, so wäre Lateinamerika bereits heute ein zollfreies Gebiet, samt der karibischen Handelsvereinigung „Caricom“. Doch Mexiko kehrt seinen armen südamerikanischen NachbarInnen zur Zeit den Rücken zu und bereitet sich statt dessen darauf vor, mit den USA und Kanada einen gigantischen Markt zu gründen. Die Freihandelszone mit 360 Millionen EinwohnerInnen und einem Bruttosozialprodukt von sechs Billionen Dollar will sogar die EG überflügeln. Chile möchte von seinen krisengeschüttelten Nachbarstaaten ebenfalls wenig wissen und strebt danach, der Vierte im Bunde zu werden. Als Vorbereitung für den Eintritt in den nordamerikanischen Markt unterzeichnete es am 2. Januar ein Handelsabkommen mit Mexiko, wonach bis 1996 alle Einfuhrzölle beseitigt werden sollen.

Um im Konkurrenzkampf mit den „asiatischen Tigern“, den USA und der EG bestehen zu können, bleibt auch den traditionell protektionistischen Ländern Lateinamerikas nichts anderes übrig, als sich größere Märkte zu erschließen. Große Unternehmen haben sich bereits auf diese Entwicklung eingestellt. Lateinamerikas größter Autoteilehersteller, die Firma „Cofap“ aus Sao Paulo, hat sich mit dem argentinischen Marktführer „Indufrem“ zusammengeschlossen. Der in Argentinien angesiedelte französische Autoproduzent „Renault“ will in diesem Jahr drei seiner Modelle über „General Motors“ in Brasilien vertreiben lassen. Der brasilianische Haushaltsgerätehersteller „Brasmotor“ kaufte in Argentinien kurzerhand eine Fabrik von Philips auf, um dort Kühlschränke, Waschmaschinen und Mikrowellenherde für den gigantischen Binnenmarkt zu produzieren.

Gerade jedoch an dem lateinamerikanischen Wirtschaftsriesen Brasilien könnte die Verwirklichung des „Mercosur“-Paktes noch scheitern. Im Gegensatz zu den Nachbarländern hat Brasilien seine Inflation nicht in den Griff bekommen. Während Argentinien im Dezember 1991 eine hauchdünne Rate von 0,8 Prozent feierte, kämpft Brasilien mit 23 Prozent Entwertung im Monat. In Peru sackte die Geldentwertung im selben Zeitraum auf 3,7 Prozent und in Chile sogar auf 1,2 Prozent ab. Paraguay brachte es im ganzen Jahr 1991 auf 11,8 Prozent Inflation.

Auch das Wirtschaftswachstum ist innerhalb Lateinamerikas unterschiedlich. Während Argentinien, Chile, Venezuela, Paraguay und Bolivien jährliche Wachstumsraten von drei bis acht Prozent verzeichnen, steckt Brasilien noch immer in einer Rezession. Die Aussichten sind alles andere als rosig, denn die vom Weltwährungsfonds verordnete Schrumpfkur sieht selbst für 1992 eine Teuerungsrate von 20 Prozent vor. Alle Länder der Region drücken die Last wachsender Auslandsschulden, hohe Einkommenskonzentrationen, Bürokratie und Kartellwirtschaft. Bis die lateinamerikanische „Ecu“ in den Anden zirkuliert, wird es wohl noch einige Zeit dauern.