Wenn Kinder zu Objekten werden

„Willie“ heißt Edson, ist ein siebenjähriger philippinischer Junge und kein Einzelfall. Verkauft von einem berüchtigten deutschen Kinder- und Organhändler. Festgehalten von seinen Kaufeltern, die die erstandene Ware nicht wieder hergeben wollen. Ein Bericht über private Kindesmißhandlung und die Notwendigkeit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention.  ■ VON ROLF P. BACH

So hätte Elisabeth Rohr ihren Artikel in der taz am 12.12.1991 wahrheitsgemäß einleiten müssen. Die Formulierungen, die sie gewählt hat, sind eine bewußte Verschleierung der tatsächlichen Hintergründe des Falles. Eher unbewußt aber hat sie eine völlig richtige Überschrift gewählt. Der „vierjährige Willie“, der in Wahrheit der „siebenjährige Edson“ ist, ist in der Tat zum kindlichen Objekt brutaler Raffgier eines Kinderhändlers und unreflektierten Besitzdenkens eines Ehepaares geworden, das ihn für 25.000 DM auf dem Kindermarkt erstanden hat.

Das Rührstück, das die Autorin auftischt, enthält an mancher Stelle durchaus Nachdenkenswertes. Es abstrahiert nur leider nahezu vollständig von den zugrundeliegenden Fakten. Deshalb seien die — in aller Kürze — nachgereicht:

Die jetzt 32jährige Mutter des Jungen, Suzette A. Gonocruz, ist am 24. Dezember 1988 zusammen mit Edson und seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Christian Rei auf dem Frankfurter Flughafen angekommen. Angelockt wurde sie durch eine Annonce in einer lokalen Zeitung der philippinischen Hauptstadt Manila, in der „alleinstehenden Müttern ein neues Leben in Deutschland“ versprochen wurde. Auftraggeberin dieser Anzeige war eine Verwandte des seit Anfang der achtziger Jahre in der Bundesrepublik und angrenzenden europäischen Staaten aktiven Kinder- und Organhändlers Adelmann. Diese Frau, die mittlerweile auf den Philippinen für lange Jahre hinter Gitter geschickt worden ist, hat den Transfer in die Bundesrepublik organisiert und finanziert. In Frankfurt hat dann Adelmann selbst die Angelegenheit in die Hand genommen.

Schon wenige Tage nach Ankunft Suzette Gonocruz' und ihrer Kinder hat Adelmann die Frau massiv mit der Drohung unter Druck gesetzt, sie den deutschen Behörden „auszuliefern“, wenn sie nicht umgehend die Kosten für Flug und Aufenthalt begleiche, ersatzweise ihm ihre beiden kleinen Söhne überlasse, für die er bereits kapitalkräftige Abnehmer in der Schweiz und eben in Frankfurt vorrätig hatte. Suzette Gonocruz hat dem Druck nachgegeben und entsprechende Erklärungen unterschrieben. Die moralische Bewertung ihres Tuns mag denen überlassen bleiben, die, sich auf die gut gefüllte Brieftasche klopfend, nicht zu Unrecht fragen: „Wie kann eine Mutter nur ihre eigenen Kinder hergeben?“

Den „Kaufeltern“ ausgehändigt

Am 5. und 6. Januar 1989 sind die beiden Kinder ihren „Kaufeltern“ in der Schweiz und in Frankfurt übergeben worden. Im März 1989 packte Susette Gonocruz die Reue, und sie ging zur Polizei. Seither versucht sie verzweifelt, ihre Söhne, mit denen sie vier und zweieinhalb Jahre, wenn auch unter schwierigen wirtschaftlichen Umständen, in Manila zusammengelebt hatte, zurückzukriegen. Im Mai 1989 konnte sie Herausgabebeschlüsse für die beiden Kinder bei einem Amtsgericht in Karlsruhe erwirken, dem Ort, wo sie inzwischen mit Hilfe der katholischen Wohlfahrtsorganisation Caritas untergekommen war.

Suzette Gonocruz schaltete eine Vielzahl deutscher Behörden und Gerichte ein, bat die philippinische Botschaft in Bonn um Mithilfe und versuchte schließlich auch über die bundesdeutschen Medien, den Aufenthaltsort ihrer Kinder zu ermitteln. Gegen Adelmann wurde von seiten der Staatsanwaltschaft in Karlsruhe Anklage wegen Freiheitsberaubung und Kindesentziehung erhoben und ein Haftbefehl erlassen. Der setzte sich nach Südfrankreich ab, wurde dort aufgespürt, verhaftet und in Montpellier in Auslieferungshaft genommen.

Daraufhin ließ er Ende 1989 über einen Anwalt die Adressen der Kaufeltern mitteilen. Der internationale Haftbefehl wurde ausgesetzt. Seit zwei Jahren prozessiert Frau Gonocruz in Frankfurt und in einer schweizerischen Kleinstadt im Kanton Uri um die Herausgabe ihrer Kinder. Beide Kaufelternpaare wehren sich mit Händen und Füßen dagegen — bisher mit Erfolg.

Dies alles hat Elisabeth Rohr in ihrem Artikel unterschlagen, obwohl es ihr mit Sicherheit bekannt gewesen ist.

Hätte sie darauf hingewiesen, hätte sie sich wohl oder übel mit dem Phänomen des weltweiten Handels mit Adoptivkindern auseinandersetzen und sich Gedanken über die fehlgeleitete Psyche von Eltern machen müssen, die — koste es, was es wolle— bereit sind, sich mit einem kriminellen Psychopathen einzulassen, diesem Zigtausende für seine Dienste zu bezahlen, um, wie ExpertInnen es nennen, ihren „überwertigen Kinderwunsch“ zu befriedigen. So aber konnte sie sich darauf konzentrieren, der gerichtlichen Sachverständigen, dem Amtsrichter, dem Jugendamt und nicht zuletzt der Mutter der Kinder Inkompetenz, Inhumanität und Vorurteile anzulasten. Sie läßt ihr „Herz sprechen“ und serviert den LeserInnen die einseitige und interessengeleitete Version der Kaufeltern, argumentiert mit gewachsenen Bindungen und Kaufelternliebe. Daß Edson „Willie“ vier Jahre mit seiner Mutter gelebt hat, unterschlägt sie dabei wohlweislich. Die Rolle des Grafen Adelmann ist ihr ebenfalls nur einen Halbsatz wert. Dabei verfügt dieser doch über eine interessante kriminelle Biographie.

Nachdem ihm Anfang der achtziger Jahre in Bayern die Zulassung als Rechtsanwalt entzogen worden ist, hat er sich in vielfältiger Weise auf der anderen Seite des Rechts betätigt: als Erbschleicher, als Gründer und Betreiber eines Abmahnverfahrens, als Werber und Vermittler von deutschen Söldnern für außereuropäische Bürgerkriegsregionen, als Einschleuser von AsylbewerberInnen, die er, nachdem er von ihnen einige hundert Dollar Honorar kassiert hatte, ihrem weiteren Schicksal überließ, als Händler von Adoptivkindern aus der sogenannten Dritten Welt und schließlich als europäischer Organhändler, der anhand der Schuldenregister von Amtsgerichten mittellose Opfer ausfindig machte, die bereit waren, zwecks Abdeckung ihrer Schulden einen Teil ihres Körpers zu verkaufen. Nicht unerwähnt soll auch eine Vielzahl von Betrugsverfahren und Verurteilungen wegen — antisemitischer — Volksverhetzung im gesamten Bundesgebiet bleiben. Wes Ungeistes Kind dieser Mann ist, mag ein Auszug aus einem seiner Werbebriefe für Kaufeltern deutlich machen:

„Mit den Preisen von damals ist nichts mehr zu machen. Die Kinderaufkäufer, die jetzt zwölf Jahre Knast riskieren, verlangen Unsummen. Unter 5.000 US-Dollar arbeiten die Leute nicht mehr. Ein Kind aus einem Elendsland kostet heute einfach 30.000. Es ist schon fast besser, unsere guten deutschen Kinder zu adoptieren, die auch nicht teurer sind... Meine neuen Mitarbeiter stellen sich auf den Standpunkt, daß es sich hier bei unserem Geschäft — bei richtiger Würdigung der Umstände — nicht um einen Kinderkaufvertrag handeln kann, [...] sondern um einen ordentlichen Dienstvertrag. Sind die Gelder verbraucht, eben durch solche Pleiten wie Verhaftungen und Versagen von Eingeborenen-Kollaborateuren, sind sie eben verloren. Einen Anspruch auf Schadensersatz gibt es nicht. [...] Ich arbeite an den Sachen und das Risiko des Geschäftes ergibt sich schon daraus, daß unsere Regierung einschließlich der Affenstaaten in konzentrierter Aktion alles unternehmen, um die Abwicklung zu unterbinden... Ich organisiere meinerseits — ungeniert und unerschreckbar — meinen Teil des Kinderhandels weiter. Dieser Teil stellt nur die Organisation und die Vertretung des Kinderverbrauchers dar. [...] Aktuelle Preise für Kinder:

—Deutschland 60.000 DM

—Indien (nur Mädchen) ab Madras 15.000 US-Dollar, frei Düsseldorf 50.000 DM

—Thailand frei Düsseldorf 40.000DM

—Manila (momentan Sendepause) voraussichtlich ab Herbst wieder 35.000 DM...“

Pathologischer Kinderwunsch

Für die rechtliche, sozialpädagogische und psychologische Beurteilung der Fälle der beiden verkauften Söhne der Suzette Gonocruz ist es sicherlich auch interessant zu wissen, daß sowohl die deutsche als auch die schweizerische Kaufmutter schon seit langem die Altersgrenze überschritten haben, die die Aufnahme eines Adoptiv- oder Pflegekindes im Kleinkindalter noch gerade vertretbar erscheinen läßt. Beide Familien sind typische europäische AdoptionsbewerberInnen, die im eigenen Land keinerlei Chance mehr haben, ein Kind vermittelt zu erhalten, weil sie aus der großen Zahl von AdoptionsbewerberInnen — in Deutschland wie in der Schweiz — als absolut ungeeignet aussortiert worden wären. Beide Familien haben sich damit offenbar nicht abfinden können und deshalb neben ihrem Herzen auch ihr Bankkonto weit geöffnet. Ihr Kinderwunsch ist so dominierend — wenn nicht gar im medizinischen Sinne pathologisch — geworden, daß sie bereit waren, jegliche moralische Hemmschwellen zu ignorieren. Wer glaubt, daß alles im Leben machbar, jedenfalls aber käuflich sei, der wird sich auch durch Gesetze, schon gar nicht durch sozialpädagogische oder psychologische Erkenntnisse von einem solchen Vorhaben abbringen lassen. Die Verdinglichung und Kommerzialisierung aller Lebensbereiche bei uns schlägt sich auch hier nieder. Die Kreditkarte kann so ihren Einzug auch in intimste menschliche Beziehungen wie die zwischen Eltern und Kind feiern. Daß das kleine Plastikkärtchen ebenfalls im Verhältnis zwischen finanzkräftigen Auftraggebern und psychologischen Gutachtern in vormundschaftsgerichtlichen Verfahren eine Rolle spielt, ist hingegen weniger neu.

Gegen Ende ihrer „Schutzschrift für Kinderkäufer“ titelt der Artikel: „Willie — kein Einzelfall“. Wie wahr! Tausende von Adoptivkindern werden schon seit längerem jedes Jahr aus den unterentwickelten Staaten Südamerikas und Asiens, zunehmend aber auch aus den südost- und osteuropäischen Staaten des ehemals kommunistischen Machtbereichs an Kinderlose und Kinderwütige in den angeblich so zivilisierten Staaten Europas und Nordamerikas verschachert. So sind beispielsweise aus dem desolaten Rumänien in weniger als eineinhalb Jahren über 11.000 Adoptivkinder ins Ausland transferiert worden. Die — selbst im Vergleich zu den Staaten der sogenannten Dritten Welt — moderaten Preise dort haben es möglich gemacht. Mittlerweile bieten Kinderhandelsagenturen ihre Dienste auch aus Ungarn und Bulgarien an. Am nicht allzu fernen Horizont tun sich für diese sauberen Geschäftemacher unerschöpfliche Quellen in der auseinanderfallenden Sowjetunion auf. Das „ungetrübte Glück“, das Elisabeth Rohr ihren Kaufeltern wenigstens für ein Jahr attestieren konnte, steht also noch vielen Gleichgesinnten offen, die keineswegs verzweifeln müssen, weil ihr gräflicher Kindergroßhändler mittlerweile aus dem Verkehr gezogen worden ist. Nachfolger stehen Schlange.

Warum sich Rohr allerdings ausgerechnet auf die UN-Kinderrechtskonvention glaubt berufen zu können, kann nur mit mangelndem Leseeifer erklärt werden. Zweifellos hat sie recht, es sei allerhöchste Zeit, daß endlich auch die Bundesrepublik Deutschland dieses Vertragswerk ratifiziert. Aber die bisherige Bonner Weigerung, das zu tun, ist ein Skandal für sich und hat mit einer etwaigen Billigung des weltweiten Kinderklaus auf kommerzieller Basis nicht das Geringste zu tun. Zumindest insoweit hat Elisabeth Rohr die richtigen Stichworte geliefert. Hätte sie aber diese Konvention wenigstens einmal gelesen, so wäre ihr— hoffentlich — nicht entgangen, daß darin handfeste Regelungen für interstaatliche Adoptionen enthalten sind, die den Fall ihrer Protegés als geradezu klassisches Beispiel für das Gegenteil des von der Konvention Gewollten erscheinen lassen.

Zur Aufklärung der taz-Autorin und Leserinnen und Lesern sei auszugsweise aus dieser Konvention zitiert: „Einem Kind, das vorübergehend oder dauerhaft von seiner Familie getrennt ist oder das in seinem Interesse nicht in der Familie bleiben soll, soll Schutz und Hilfe des Staates gewährt werden. [...] Solche Hilfe kann unter anderem auch [...] die Adoption des Kindes beinhalten. Wenn eine derartige Lösung ins Auge gefaßt wird, soll der wünschenswerten Kontinuität im Hinblick auf die Herkunft des Kindes und seinem ethnischen, religiösen, kulturellen und sprachlichen Hintergrund die notwendige Aufmerksamkeit gewidmet werden. [...] Staaten, die das Rechtsinstitut der Adoption anerkennen und erlauben, sollen sicherstellen, daß eine Adoption nur aus Gründen des Kinderwohls erfolgt. [...] Die Staaten sollen sicherstellen, daß eine Adoption nur durch kompetente Stellen durchgeführt werden darf [...], daß interstaatliche Adoptionen als eine alternative Hilfsmaßnahme für ein Kind nur dann anerkannt werden können, wenn dem Kind nicht auf andere Weise wirksam in seinem Heimatland geholfen werden kann [...], daß ein ausländisches Adoptivkind dieselben Schutzmaßnahmen genießt wie ein inländisches [..], daß eine interstaatliche Adoption nicht aufgrund illegaler finanzieller Gewinne zustande kommt. [...] Die Staaten sollen alle notwendigen nationalen, bilateralen und multilateralen Maßnahmen ergreifen, um die Entführung, den Verkauf oder den Handel mit Kindern zu jedem Zweck und in jeder Form zu verhindern.“

Der Autor ist Leiter der Gemeinsamen Zentralen Adoptionsstelle der vier norddeutschen Länder in Hamburg.