Eine Alternative zur Heimerziehung

■ Im »Kreuzwerk« in Kreuzberg werden Jugendliche ausgebildet, die ansonsten keine Chance hätten/ Wohnraummangel und Konflikte mit Jugendämtern wegen der hohen Abbruchquote bereiten dem Schonraum Kreuzwerk Schwierigkeiten

Kreuzberg. Auf den ersten Blick sieht es aus wie in einem ganz normalen Malerbetrieb. Lösungsmittel und Lacke; Leitern und Werkbänke, Schleifmaschinen und Türen stehen wild durcheinander. Nur aus den Boxen des Ghetto-Blasters dröhnt ungewöhnlich laute Musik. Im Hinterzimmer sitzen sieben Jugendliche und quatschen. Einer zeichnet. Hanne Theurich, Sozialpädagogin, versucht, den Geräuschpegel zumindest so erträglich zu gestalten, daß wir miteinander reden können. Denn dies ist keine gewöhnliche Malerei und die Jugendlichen sind jedenfalls ungewöhnlicher als jene, die von der Werbung für Handwerksberufe vorgestellt werden.

Die Werkstatt in der Adalbertstraße ist eine von vier »Kreuzwerk«- Werkstätten in SO 36. Hier werden Jugendliche ausgebildet, die in den seltensten Fällen einen Schulabschluß und noch seltener ein intaktes Zuhause haben. Die meisten kommen aus dem Heim oder von der Straße; viele haben mehr als vereinzelte Erfahrungen mit Drogen unterschiedlichster Art hinter sich. Kreuzwerk e.V. bietet 48 Jungen und Mädchen ab 16 Jahren sowohl eine Ausbildung als auch eine Wohnung.

Entstanden ist die »Alternative zur Heimerziehung durch dezentrales Wohnen im eigenen Kiez« aus der HausbesetzerInnenbewegung vor zehn Jahren. Als SO 36 mit seinem hohen Altbauanteil dank gesetzlicher Abschreibungsmöglichkeiten zur Spielwiese von Abriß- und Leerstandsspekulation wurde, stieg wegen der Abwanderung zahlreicher Handwerksbetriebe und Kleingewerbler die Zahl jugendlicher Arbeitsloser im Kiez rapide an. In Selbsthilfe räumten die Kreuzwerk- Initiatoren den Schrott aus den leerstehenden Häusern, setzten sie wieder instand und errichteten die ersten Werkstätten. Im September 1982 begannen die ersten 48 Jugendlichen mit der Ausbildung als Maler, Tischler, Dachdecker oder Zentralheizungslüftungsbauer.

Finanziert wird das Projekt mit Mitteln der Jugendhilfe. Inzwischen arbeiten 28 SozialarbeiterInnen, AusbilderInnen, und Bürokräfte in basisdemokratischer Selbstverwaltung hier zusammen.

»Ich würde Magengeschwüre kriegen, wenn ich Hannes Job machen müßte.« Die 20jährige »Spoki« schüttelt den Kopf über ihre Sozialarbeiterin. »Ne, echt, lauter so Leute wie mich, und das acht Stunden am Tag — nicht mit mir.« Und Spoki gehört zu den vielversprechenderen Malerlehrlingen: In einem halben Jahr wird sie vermutlich ihren Gesellenbrief bekommen — zwei von drei Kreuzwerk-Azubis kommen nie so weit. Sie landen als Junkies wieder auf der Straße oder sehen sich im besseren Fall nach anderen Jobs um.

Spoki ist 1989 über einen Kumpel zum Kreuzwerk gekommen. Vorzuweisen hatte die 17jährige nicht viel. Um die Schule ist sie »immer nur außen rumgegangen.« Bis zur siebten Klasse hat sie das Schulamt noch geholt, danach war Schluß. Heute weiß sie, daß sie keine andere Chance hat, als die Lehre fertig zu machen. »Mit den Zeugnissen, was soll ich denn sonst machen? Zu Hause ist doch eh alles im Eimer.« Ein Jahr lang hat Spoki in der Werkstatt mit niemandem geredet, auch nicht mit Hanne. Bei einem gemeinsamen Urlaub sei dann der Knoten geplatzt, erzählt Hanne. »Die Zeit davor werde ich auch nie vergessen. Spoki war ein ganz harter Fall.«

»Fast alle kommen aus kaputten Elternhäusern«, sagt Hanne. »Erst mal haben sie überhaupt kein Vertrauen.« Oft hilft nur die Zeit. Jeder Sozialarbeiter hat einmal in der Woche einen Abend für jeden Schützling reserviert — anfangs öfter. Das mangelnde Schulwissen wird durch speziellen Förderunterricht nachgeholt und der Acht-Stunden-Tag langsam eingeführt. »Wer direkt von der Straße kommt, kann nicht plötzlich acht Stunden arbeiten und wer nie an der Schule war, kann auch mit Quadratmeterzahlen nichts anfangen«, sagt Hanne.

»Ich habe schon einige kommen und gehen sehen«, erzählt der 19jährige Daniel. Vor allem mit Drogen gäbe es immer öfter Trouble. »Je länger man auf der Straße lebt, desto mehr kommt man damit in Kontakt. Hier in Kreuzberg muß man sich ja schon fast dagegen wehren, das Zeug zu bekommen.« Daniel selbst ist in letzter Sekunde von dem Zug in den körperlichen Verfall abgesprungen — durch einen Selbstentzug, der in den seltensten Fällen klappt. Ansonsten gleicht sein Lebenslauf dem der meisten anderen hier: Elternhaus, Schläge, ab ins Heim, dann auf die Straße.

Schwierigkeiten bereitet dem Kreuzwerk nicht nur die steigende Wohnraumknappheit, sondern auch Konflikte mit den Jugendämtern wegen der hohen Abbruchquote. Rein rechnerisch ist Kreuzwerk kein wirtschaftliches Unternehmen. Allerdings läßt die Statistik außer acht, wo die Leute herkommen, die hier arbeiten und wo ihre Alternativen zu diesem »Schonraum« lägen.

Wie in allen basisdemokratischen Projekten gibt es auch bei Kreuzwerk Konflikte — um Hierarchien, Konkurrenz, Machtausübung und Umverteilung der Gehälter. Auch die Arbeitsteilung ist in den vergangenen Jahren immer stärker geworden. Die obligatorischen Plena wurden weitgehend durch zwei Arbeitsgruppen ersetzt, die Arbeitgeberfunktionen ausüben. Ein Gesamtplenum findet nur noch vierzehntägig statt.

Von 28 Mitarbeitern bei Kreuzwerk sind 13 Frauen. Das ändert allerdings nichts an einer typischen Rollenverteilung: Bis auf eine sind alle Ausbilder- und Handwerkerstellen männlich besetzt; von elf BetreuerInnen hingegen sind sieben weiblich. Auch im Kreuzwerk spiegeln sich gesellschaftliche Realitäten wieder, die hätten durchbrochen werden sollen. Hanne Theurich bringt die Rollenverteilung in einer Dokumentation auf den Punkt. »Die Männer bringen das Geld nach Hause, die Frauen kümmern sich um den Zusammenhalt der Familie und die psychische Versorgung. Die gesellschaftliche Anerkennung der jeweiligen Rolle dürfte wohl jeder bekannt sein.« Jeannette Goddar