Film sehen so, wie man ein Buch liest

■ Klaus Wildenhahn über „Noch einmal HH 4: Reeperbahn nebenan“, Sa., 22.05 Uhr, N3

St. Pauli, Februar bis Juli 1991. Die Kamera sucht öffentliche Orte auf: ein Eiscafé, eine Kneipe, ein Friseur, den Hafen, die Volxküche der Hafenstraße, den Fanladen, den Fußballplatz. So entsteht das Porträt eines Stadtteils. Eingeschoben sind knappe Texte, subjektive Erinnerungen an Hamburg vor dreißig Jahren. Ein unauffälliger Film mit genauen Beobachtungen, einem scharfen Blick für Veränderungen. Stefan Reinecke sprach mit dem NDR-Redakteur und Dokumentarfilmer Klaus Wildenhahn.

Stefan Reinecke: Die Produktion von „HH 4“ ist etwas ungewöhnlich. Der Film besteht unter anderem aus Material, das Sie schon für das NDR-Regionalmagazin „DAS“ verwendeten. Hat sich das im Laufe dieser Arbeit ergeben?

Klaus Wildenhahn: Nein, das war von Beginn an geplant. Die kurze Form hat mich gereizt, zum einen, weil die Leute meinen, daß ich unter zwei Stunden nichts mehr zustande bringe, zum anderen wurde hier beim NDR dieses Magazin neu eingerichtet. In solchen Anfangssituationen gibt es die Möglichkeit zu experimentieren.

Sie haben auch in der Hafenstraße gedreht. War das schwierig?

Ach nein. Zum einen hat mich Christian Arndt begleitet, ein Pastor, den ich schon lange kenne und der für die Hafenstraße so etwas wie ein Schutzengel und Anwalt ist. Zum anderen kannten die Leute dort Filme von mir. Das war unkompliziert.

Schön an dem Film ist, daß er die Hafenstraße zeigt, ohne etwas beweisen zu wollen und ohne sie in eine Mythologie einzuordnen.

Das war unsere Absicht: die Hafenstraße als Teil einer normalen Nachbarschaft darzustellen.

Es gibt in dem Film eine Szene, in der jemand erzählt, daß es am Hafen früher Kneipen gab und er dort nach der Arbeit getrunken und Tischfußball gespielt hat. Und daß es dort heute keine Kneipen mehr gibt. Dieses Moment, das Verschwinden von öffentlichen Orten, leuchtet in dem Film immer mal wieder auf.

Heute stehen dort Bürohäuser. Früher war der Hafen der größte Arbeitgeber in Hamburg, durch die Rationalisierungen sind es nun weniger Arbeitsstellen geworden. Und die Arbeiter leben nicht mehr in den hafennahen Gebieten, weil sie mit dem Auto anreisen können. Außerdem ist St. Pauli der Innenstadt zugeschlagen worden. Daß es das alte postalische HH 4 nicht mehr gibt, könnte man also metaphorisch verstehen: HH 4 gehört zu HH 36, zur attraktiven Innenstadt, wo mit Grund und Boden spekuliert wird. Damit geht die langsame Veränderung des Stadtteils zum Wohngebiet für den gehobenen Mittelstand einher.

Der Film ist fast ausschließlich in Schwarzweiß gedreht. Darin liegt immer die Neigung, eine künstliche Patina zu erzeugen, die sich über die Dinge legt.

Ja, objektivierend könnte ich sagen, daß Schwarzweiß die Farbe ausspart und so das Auge des Betrachters anregt, die Farbe wieder mit hineinzusehen. Aber wichtiger sind vielleicht subjektive Gründe: Ich habe mit Schwarzweiß angefangen, dann bin ich auf Farbe umgestiegen, und zwar genau aus diesem Grund, um diesen Patina-Effekt zu vermeiden. Ich habe jahrelang in Farbe gedreht, jetzt kehre ich zu Schwarzweiß zurück, weil es mir besser gefällt. Auch weil es ästhetisch anregend ist, wenn man so etwas wie einen poetischen Dokumentarfilm drehen will.

Eine Ebene des Films sind Texte von Ihnen, Erinnerungen, wie Sie 1958 aus London, wo Sie gelebt haben, nach Hamburg zurückkehrten.

Ja, in meiner Generation gab es das oft: Der Drang, aus Deutschland wegzugehen, war nach dem Krieg sehr stark. Dann kam man wieder, vielleicht mit ein paar Gedichten im Koffer, zurück in dieses Adenauerland, mit herabhängenden Lippen. Das ist im Film eine Ausgangsposition, dann folgt eine Bewegung: vom Ich zum Er, vom Ich zu anderen Personen. Die Texte sind wie Schaltstellen, durch die ein Strom läuft, der sich verwandelt, der in ein anderes Material hineinfließt. Ich versuche immer ein Nebeneinander in den Filmen herzustellen, damit die Szenen einen Nachhall haben...

...ein Nebeneinander wie bei Mosaiksteinen?

Ja, vielleicht. John Cage, mit dem ich einmal gearbeitet habe, hat einmal am Beispiel der Malerei jemandem widersprochen, der gesagt hatte: Also, ich stehe auf den Schultern von..., also einer Auffassung widersprochen, in der erst Michelangelo kommt, dann die Holländer und sich so ein Genie auf das nächste türmt. Cage antwortete, das sei eine sehr europäische, sehr elitäre Auffassung, und es wäre doch eher so, daß wir uns in einem Nebeneinander, in einem Feld bewegen. Natürlich laufen die Bilder nacheinander, in einer horizontalen Linie, ab, aber es geht darum, eine Ebene zu schaffen, in der es keine Hierarchie gibt.

Daraus entsteht ein meditativer Rhythmus...

Ja, das kann man so nennen. Es klingt immer ein bißchen banal, so etwas zu sagen, aber ich habe schon früh Filme von Ozu gesehen, damals in London. Das war eine Inspiration, ein Modell für ein anderes Schauen: wie ein Gefühl für die tausend Dinge, die im Alltag passieren, einen Film durchziehen können. Ein Gefühl für die Pausen, die dabei entstehen.

Gibt es bei einem Film wie „Noch einmal HH 4“, der stark atmosphärisch wirkt, nicht Verluste durch das Fernsehen?

Ich finde nicht. Wenn ich von mir ausgehe: Ich gucke meistens in der Küche fern, und der Bildschirm ist so groß, daß die Köpfe darin eine normale Größe haben. Wenn ich etwas sehe, das mich interessiert, sagen wir einen Film über Normal Mailer oder Ginsburg, dann kann ich mich mit ihnen unterhalten. Das ist, finde ich, eine schöne, intime Situation. Man kann einen Film auch so sehen, wie man ein Buch liest.