Ampeldebatte

■ Die Ampel als Chance

AMPELDEBATTE

Die Ampel als Chance

Die letzte Mitgliederversammlung der GRÜNEN hat in ihrem klaren Mehrheitsvotum der Verhandlungskommission das Mandat für Weiterhandeln über eine Ampelkoalition erteilt. Diese Entscheidung ist von all denjenigen als schmerzhaft empfunden worden, die in einem letzten Aufbäumen das „Schuldigwerden“ der GRÜNEN in den Strukturen der Machtpolitik zu verhindern versucht haben. Arendt Hinricksen als Wortführer der Abbruchkoalitionäre hat aus seiner Sicht den Finger treffend in die grüne Wunde gelegt: Unsere grüne Identität bleibt in so einer Koalition auf der Strecke. Ich denke, damit artikuliert er stellvertretend für viele ernstzunehmende Kritiker das Unbehagen an den Fallstricken der Ampelkoalition. Es gibt tatsächlich keinen Grund zu glauben, daß die GRÜNEN ungeschoren und mit heiler Haut aus dieser Koalition herauskommen. Sie werden schmerzhafte Kompromisse eingehen müssen, ihre SenatorInnen werden Verantwortung für unpopuläre Maßnahmen übernehmen müssen, sie werden die Erwartungen eines Teil ihres politischen Klientels enttäuschen müssen. All das bliebe den GRÜNEN erspart, wenn sie sich auf die Rolle der Opposition zurückziehen würden.

Ich will dieser Haltung gar nicht die Gefahren einer großen Koalition entgegenhalten, sondern das, was für mich den Reiz der Ampelkoalition ausmacht, ist gerade das, was die anderen fürchten läßt. Auf der Mitgliederversammlung war für mich in keinem Beitrag die Spur einer emphatischen Beschwörung der Möglichkeiten einer Ampelkoalition sichtbar. Im Gegenteil: Nüchtern und ernüchtert wurde eine Bilanz der bisherigen Verhandlungsrunden gezogen, die kulturellen Differenzen der verschiedenen Koalitionspartner realistisch dargestellt und die Unzulänglichkeiten der bisher formulierten Konsenspunkte aufgezählt. Die Ampelkoalition ist gerade deshalb möglich, weil sie vom Druck eines zu hohen Erwartungshorizontes befreit ist. Der bisheriger Verlauf der Gespräche berechtigt zu der Hoffnung, daß in dieser Dreierkoalition ein zunächst auf vier Jahre befristeter pragmatisch ausgerichteter „Gesellschaftsvertrag“ mehrheitsfähig ist, der weder den Glauben erweckt, daß man mit 11 % Wahlstimmen 90 % der Politik bestimmen kann, noch den einzelnen Partnern unzumutbare Kompromisse aufnötigt und ihnen die Chance läßt, sich in verschiedenen Politikfeldern zu profilieren. Unter diesem Aspekt beinhaltet die Ampel für die GRÜNEN die Chance, einen Lernprozeß in Richtung eines pragmatischen, angelsächsischen Politikmodells zu durchlaufen, in dem Kompromisse nicht als Verrat, sondern als Teil einer demokratischen politischen Kultur und als Antwort auf die differenzierten, komplexen Verhältnisse moderner Industriegesellschaften verstanden werden. Die bewußte Hinwendung zu einer Politik, die sich zum Kompromiß und zum Pragmatismus bekennt, würde gleichzeitig unseren politischen Spielraum erweitern und uns von unnötigen Fesseln lösen.

Aus der Sicht einer originären grünen Identität muß eine Politik der Befürwortung von Kompromissen natürlich an Verrat grenzen, weil sie den Bunker der sich selbstvergewissernden moralisch reinen „Politik“ verläßt und sich inmitten der Widersprüche des realen Lebens begibt. Damit wird sie auf der einen Seite angreifbar, auf der anderen Seite aber auch lernfähig, und sie behält die Fähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen und zu korrigieren. Gerade in diesem Sinne ist Identität kein Naturprodukt, sondern ist gesellschaftlich, ist veränderbar.

Der Wunsch nach sich selbstvergewissernder Identität dagegen ist meistens auch der Wunsch nach Einheit, nach Klarheit, nach Kompromißlosigkeit, nach einfachen, eindeutigen Antworten auf komplexe Fragen. Dieser Wunsch hat sich historisch oft mit der Tendenz zum Dogmatismus, zur Ausschließlichkeit, zur Rechthaberei gepaart. Was wir lernen müssen ist, daß Kompromißfähigkeit und Pragmatismus nicht gleichzusetzen sind mit Prinzipienlosigkeit und dem Verlust an politischen Visionen. Je mehr wir uns auf Machtpolitik und Regierungshandeln einlassen, desto stärker muß die Partei der GRÜNEN ihre Fähigkeit zum Widerspruch, zur Thematisierung der gesellschaftlichen Konfliktlinien und Brüche im öffentlichen Raum entwickeln. Gerade diese Form einer dialektischen Politik, die auf zwei Beinen geht, beherrschen wir immer noch viel zu wenig.

Lothar Probst (wiss. Mitarbeiter Uni Bremen), Ex-Landesvorstandssprecher der GRÜNEN