Nicht mehr ganz allein unter Deutschen

■ Unter dem Motto "Miteinander leben gegen Fremdenhaß und Gewalt" haben am Samstag in rund hundert Städten der Republik über 100.000 Menschen gegen zunehmende Ausländerfeindlichkeit und...

Nicht mehr ganz allein unter Deutschen Unter dem Motto „Miteinander leben — gegen Fremdenhaß und Gewalt“ haben am Samstag in rund hundert Städten der Republik über 100.000 Menschen gegen zunehmende Ausländerfeindlichkeit und rechtsradikale Gewalt demonstriert. Allein in Berlin waren nach Schätzungen 50.000 auf der Straße. Konsens bestand darüber, daß die Diskussion um das Asylrecht der Welle der Gewalt gegen Flüchtlinge und „Andersaussehende“ den Boden bereitet hat.

Die Berliner Innenstadt, zwei Jahre nach dem Mauerfall: Eine riesige Menschenmasse wälzt sich durch die Hauptverkehrsstraßen vom Breitscheidplatz zum Lustgarten Unter den Linden. Diesmal bringt sie nicht die Freude über die deutsche Einheit zusammen: Sie sind hier, um gegen Gewalt und Fremdenhaß im wiedervereinigten Deutschland zu demonstrieren. Mehr als 50.000 Menschen haben sich an diesem Samstag nachmittag auf dem Breitscheidplatz versammelt. Den demogewohnten Passanten bietet sich ein ungewohntes Bild: Deutsche und Nichtdeutsche, Schüler und Studenten, Alt-68er, Professoren, Abgeordnete, Mütter und Väter marschieren friedlich in trauter Einigkeit vorbei an skeptisch dreinschauenden Polizisten. Mit Musikinstrumenten und Tanz, Blasmusik und Jazzcombos macht der Zug auf den wachsenden Rassismus in Deutschland aufmerksam. Zahlreiche Innenstadtbesucher reihen sich nach Geschäftsschluß spontan ein und ziehen mit — mit Kinderwagen, Plastiktüten und Fahrrädern.

Unter dem Motto „Gegen Gewalt und Fremdenhaß — Menschenrechte gelten für alle“ hatten über 70 Organisationen, Gewerkschaften, Parteien und Flüchtlingsgruppen zur bundesweiten Demonstration aufgerufen. In Berlin ziehen zwei weitere Demonstrationszüge mit jeweils einigen tausend Teilnehmern gleichzeitig von der Gethsemanekirche und aus dem Bezirk Moabit zur gemeinsamen Abschlußkundgebung im Lustgarten Unter den Linden.

Mit Transparenten wie „Ich schäme mich wieder, Deutscher zu sein“ oder „Laßt mich nicht mit diesen Deutschen allein“ tut die buntgemischte Menge ihren Unmut über die rassistischen Vorfälle der vergangenen Monate kund. Erschrockenheit und das Gefühl, gegen die inzwischen alltägliche Normalität der Ausländerfeindlichkeit ein Zeichen setzen zu wollen, antworten die meisten spontan auf die Frage, warum sie hier mitmarschieren.

„Es wird allerhöchste Zeit, wieder auf die Straße zu gehen“, erzählt der Krankenpfleger Herbert Petri, der „sich eigentlich das Demonstrieren inzwischen abgewöhnt hatte“. Zwei Schülerinnen marschieren Hand in Hand mit — „Solidarität“ steht auf den Stickern, die sie soeben käuflich erworben und an ihre Jacke geheftet haben. „Ich finde es total schlimm, was in Hoyerswerda passiert ist“, erzählt die eine. „Eigentlich müßten viel mehr Leute jeden Tag auf die Straße rennen. Sonst müssen noch mehr Menschen sterben.“ Beteiligt sie sich denn an Mahnwachen, um Asylbewerber zu schützen? „Nein, bis jetzt nicht. Ich weiß auch gar nicht, wo. Aber wenn es so weitergeht, kommen wir gar nicht mehr darum herum.“

Eine türkische Gruppe tanzt zur eigenen Musik. Ist ihnen noch zum Tanzen zumute? „Wenn wir sehen, wie viele heute auf die Straße gehen, schon“, sagt ein türkischer Student. „Es ist beruhigend, daß bei soviel Haß sich noch so viele solidarisieren.“ Von einem „großartigen Erfolg“ spricht am Sonnabend auch Jürgen Strohmaier von der Alternativen Liste für die Veranstalter, die von 80.000 bis 100.000 Teilnehmern reden. Die Demonstration zeige, daß es in Deutschland doch einen „gesellschaftlichen Konsens gegen die Ausländerfeindlichkeit gibt“.

Auf der abschließenden Kundgebung treffen sich die drei Demonstrationszüge. Im Vorfeld hatte es Irritationen zwischen den verschiedenen Veranstaltern gegeben, in deren Verlauf sich das „Berliner Bündnis“ mit der PDS und verschiedenen Flüchtlingsgruppen abgespalten hatte. Nach Verhandlungen über die Anzahl und Gewichtung deutscher und ausländischer Redner hatte sich erst am Donnerstag entschieden, daß die gemeinsame Kundgebung überhaupt stattfinden wird.

Der iranische Schriftsteller Bahman Nirumand fordert im Lustgarten, gegen den Fremdenhaß aktiv Partei zu ergreifen. Dieser richte sich nicht allein gegen die hier lebenden Ausländer, sondern gegen die „zivile Gesellschaft“. Ähnlich äußert sich auch Horst Eberhard Richter von der Vereinigung Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges. Es sei eine Schande, daß laut einer Umfrage 34 Prozent der Deutschen Verständnis für Rechtsradikalismus gegen Ausländer bekundeten.

Aliza Fuss, Präsidentin der Internationalen Liga für Menschenrechte, erinnert an den Jahrestag der Reichspogromnacht 1938: „Sich am 9. November zu erinnern, kann nur heißen, in Deutschland nie wieder Pogrome zuzulassen.“ Wie die Situation ist, dokumentiert die Rede eines aus Hoyerswerda geflohenen Asylbewerbers: Er verliest seinen Bericht von einem Versteck hinter der Bühne. Jeanette Goddar, Berlin