DEBATTE
: Schorlemmers Moral-Jury

■ Mit dem Ende der DDR ist die Zeit der Tribunale und runden Tische vorbei

Die DDR ist untergegangen, die DDR-Gesellschaft ebenso. Was bleibt, sind ruinöse Reste und Sprachlosigkeit. Zwischen Katzenjammer, neuer Lebenslüge und neuem Lebensglück machen sich im Osten — wie immer, wenn es in Deutschland schief ging — Selbstmitleid breit und Selbstgerechtigkeit. Das pampige Jetzt-sind- wir-dran ist ebenso abstoßend wie das devote Getue.

Stark der gemeinsame Wille zum schnellen Vergessen. Wo es nicht funktioniert, wird nach Menschenopfern verlangt, nach Generalschuldigen, auf die sich das Versagen einer ganzen Gesellschaft abwälzen läßt. Doch die 'Super‘-LeserInnen von heute, die nun den Kopf Honeckers fordern, sind diejenigen, die zu jeder verordneten Massenkundgebung wanderten, ihre Winkelemente in der vordersten Reihe schwenkten: Feiglinge und Hochradfahrer, kleine Profiteure, Knechtsnaturen, der museale Rest des deutschen Sozialcharakters von 1871, 1914 und 1941. Wenn es denn der Rest ist; westdeutsche Selbstzweifel sind angebracht.

Die Stasi war kein Ministerium, sie war die DDR-Gesellschaft sui generis. Ein Volk, das sich aus mindestens einer halben Million aktiven Spitzeln zusammensetzte, ein paar Millionen Mitläufer und einige Hunderttausend Unzufriedene und Kritiker zählte, ist ein Spitzelvolk.

Verrannt in die Idee eines Tribunals

Die Implosion des Staates DDR im November 1989 war keine an ihrer „Inkonsequenz“ gescheiterte demokratische Revolution — wie Wolfgang Thierse meint. Sie endete folgerichtig und notwendigerweise dort, wo die Verlockungen der alten BRD begannen: der Wohlstand, die Fachleute, die sozialen und rechtlichen Vorzüge. Die polnischen oder tschechischen Wege waren nicht möglich; und jeder einzelne Ex-DDRler kann seinem Gott dafür danken, daß der Kelch dieser — vor allem materiellen — Mühsal an ihm vorüberging. Damit war aber auch die Zeit der runden Tische zu Ende, der Untersuchungsausschüsse, der Leidenschaften und der Selbstbesinnung, der wilden Demokratie und Freiheit. Die Transformation der alten DDR mußte fortan im wesentlichen Werk der Westler werden. Die Ostdeutschen gaben ihre Geschichte am Tag der Währungsunion an den Bankschaltern bereitwillig ab — und gnädigst wurden sie damit auch ihrer eigenen Verantwortung, Mitverantwortung und billiardenschweren Schuldenlast enthoben.

Wie soll, wie kann nach einem solchen gesellschaftlichen Abortus — und nichts anderes war die Kombination aus sozialistischem Bankrott, friedlicher Revolution und unausweichlicher Übernahme — eine Rückbesinnung, eine sogenannte Aufarbeitung dessen, was war, versucht werden? Gegenwärtig sind ein paar Strafprozesse zu verzeichnen, eine vielfältige Publizistik, eine kaum mehr registrierbare Reihe von Stasi-Fällen und -Skandalen. Die Öffnung der Archive steht ins Haus. Der stolpernd-taumelnde Gang der deutschen Wiedervereinigungsgeschichte ist ohne Alternative. Und zu diesem Stolpern gehört auch, daß sich Thierse, Schorlemmer, Ullmann und Gauck neuerdings in die Idee eines „Tribunals“ verrennen — und scheitern werden.

Selbsternannte Richter

Der Idee fehlen Subjekt und Legitimation. Es gibt keine DDR mehr — und niemanden, der stellvertretend und legitimiert handeln könnte. In der Tribunal-Initiative steckt die alte Vorstellung linker Gemeinschaftsunternehmen, einer intellektuellen Volksfront der Besseren, die den Zweck verfolgt, den Akteuren selbst ihr vermeintliches Stammplätzchen an der Sonnenseite der Geschichte zu reservieren. Ein Unterfangen, dem spätesten seit dem Golfkrieg der gemeinsame rosarote Teppich fehlt; exklusiver Dünkel, der angesichts der untergegangenen DDR völlig absurd ist. Warum, bitteschön, sollen auf der Richterbank eines solchen Tribunals — entsprechend Schorlemmers Vorschlag — nur Herrschaften wie Horst-Eberhard Richter, Jurek Becker, Klaus Hartung, Uwe Wesel Platz nehmen? Hätten nicht Gerhard Löwenthal oder die ideologischen Nachfahren von Axel „Macht das Tor auf!“ Springer mindestens auch ein Anrecht auf Sitz und Stimme, sollen Lothar Löwe, der schwer kalkulierbare Wolf Biermann, die altgedienten Staatsanwälte der Erfassungsstelle Salzgitter einfach ausgeschlossen bleiben? Und was ist mit jenem Ronald Reagan, der 1987 vor dem Brandenburger Tor sprach: „Mister Gorbatschow, come to this gate, tear down the wall!“ Wenn solche Kaliber in die Jury des Tribunals einrücken würden, könnte es immerhin passieren, das Eberhard Friedens-Richter unversehens vom Richterstuhl auf die Anklagebank befördert würde. Aber keine Angst: Die Herren sind nicht bereit, in Schorlemmers Moral-Jury einzutreten. Und das aus gutem Grund. Denn was die Tribunal-Idee vor allem auszeichnet, sind Anklänge an volksdemokratisch-sozialistische Traditionen, an quasi-juristische, aber im Grunde hochgradig politisierte Schauprozesse.

Demgegenüber ist der aktuelle Berliner „Mauerschützenprozeß“ geradezu human. Er ist notwendig und gerechtfertigt. Zu Stande kam er, weil die Mutter des Opfers nicht locker ließ. Allein mit Hilfe der Dauer des Verfahrens gelangten zahlreiche Details über die Realität der Grenze und des vaterländisch- sozialistischen Grenzdienstes ans Licht, über das konkrete Verhalten und die Karrieren der Grenzschützer im Offiziersrang — heute: Rentner, Arbeitslose, Kaufleute, Polizisten und (Bundes-)Grenzschützer. In dieser Hauptverhandlung präsentiert sich die kleinbürgerlich-staatstragende Lebenswelt der früheren DDR — und vielleicht die der neuen Bundesrepublik. Sie macht fröstelig, ruft die 50er und 60er Jahre in Erinnerung. Déjà vu — längst nicht vorbei.

Die Dauer des Verfahrens macht die vier Angeklagten wieder zu Menschen — die Hauptverhandlung ist der Ort an dem sie im besten Sinn des Wortes resozialisiert werden. Sie ermöglicht, die Vorverurteilungen zu brechen, aber auch diejenigen abzuschütteln, die vorschnell „von den scheußlichsten Praktiken der stalinistischen Ära, dem Schauprozeß“ — unter Mißbrauch von Hannah Arendt — schwadronieren (Detlev Claussen am 20.9. in der taz).

Das demokratische Strafrecht geht vom einzelnen Opfer aus, vom einzelnen Täter. Es individualisiert. Und das ist gut so. Systemfragen können allenfalls tangiert werden. Darin liegen die Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Verhandlung. Im aktuellen Mauerverfahren wird viel über Befehl und Befehlsnotstand geredet, über die Möglichkeiten einzelner Menschen, sich in einem unmenschlichen Staatskomplex menschlich zu verhalten. Verteidiger aus dem linken Berliner Milieu plädieren auf „Befehlsnotstand“, eine konservative, zweifelsohne antikommunistische Kammer plädiert für die allgemeinen Menschenrechte, die auch in der DDR galten. Möglicherweise sind diese Richter freier, unvoreingenommener als andere. Das Urteil wird und muß auch in die Zukunft weisen. Es wird auch für die „bewaffneten Organe“ Maßstäbe setzen, die in der heutigen Bundesrepublik irgend etwas bewachen oder schützen. Die deutschen Gerichte müssen sich nun mit staatlich- politischer Kriminalität beschäftigen. Sie werden dabei Maßstäbe für Minister, Konzernchefs und Exportkontrolleure setzen.

Es gibt keine kollektive Schuld

In der Tat, die Bilanz des Erbes von 40 Jahren Realsozialismus wiegt schwer — moralisch und materiell. Insofern ist das Bemühen verständlich, Auswege zu finden, Lösungen. Doch die wird es, so weh die Einsicht tun mag, nicht geben. Solange Opfer und Täter leben, wird es keinem Tribunal und keinem runden Tisch gelingen, reinen Tisch zu machen.

Eine totalitäre Gesellschaft, also eine, die in ihrem innersten Kern die Auflösung des Einzelnen ins Kollektiv betrieb, kann nur dadurch überwunden werden, daß sie jedem Einzelnen seine Würde und seine Freiheit, aber eben auch: seine Verantwortung und möglicherweise seine Schuld wiedergibt. Sowenig es vom demokratischen Standpunkt aus kollektive Schuld geben kann, sowenig gibt es einen kollektiven Freispruch. Diesem Dilemma — und es ist wirklich eines, denn es gibt keine Lösung — entspricht der demokratische Rechtsstaat, wenn er pragmatisch- tastend, oft sich widersprechend der Frage nach der individuellen Schuld Einzelner im totalitären System nachgeht. Die Justiz an diesem Punkt zu Gunsten einer kollektivistischen Großveranstaltung ausschalten zu wollen, würde die Demokratie im Kern treffen. Götz Aly