Noch ein paar Stufen bis zur Sandino-Dröhnung

■ Beim »Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika« kann von »Kollektiv« heute keine Rede mehr sein

Kreuzberg. Ein Plakat, das den nicaraguanischen Kaffee »Sandino- Dröhnung« anpreist, macht dem erschöpften Besucher Mut: »Nicht aufgeben, eine halbe Treppe noch.« Es ist ein beschwerlicher, atemraubender Weg hinauf in den fünften Stock jenes Seitenflügels im Mehringhof, wo das »Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika« (FDCL) seinen Sitz hat. Hinter der Glastür empfängt kein Vorzimmer, sondern eine Küche, und erst nach einem Knick um die Ecke beginnt der eigentliche Bereich des FDCL. Auf 180 Quadratmetern befinden sich zahlreiche Arbeitsräume, die Regale quellen über vor Büchern und Broschüren. Der Stolz des seit 1974 existierenden Vereins ist das Archiv, das größte unabhängige im deutschsprachigen Raum, das jedem Besucher offensteht. Über 200 Zeitschriften aus oder über Lateinamerika werden ständig gesammelt und ausgewertet.

Das FDCL ist nicht nur Treffpunkt zahlreicher Lateinamerika- Gruppen, sondern auch der Redaktion der 'Lateinamerika Nachrichten‘ (LN), einem monatlich erscheinenden Blatt. Beide — FDCL wie LN — entstanden 1973 ursprünglich als »Chile-Komitee« und »Chile-Nachrichten«. Es war das Jahr, in dem das Militär gegen die frei gewählte sozialistische Regierung Salvador Allendes blutig putschte und in der alten Bundesrepublik die Solidaritätsarbeit ihren eigentlichen Ursprung nahm. Die Namensänderungen waren zugleich auch Programm. Der Blickwinkel erweiterte sich, neue Länder kamen hinzu, insbesondere die zentralamerikanischen Staaten Nicaragua und El Salvador.

Thomas Fatheuer, derzeit hauptberuflich beim FDCL für Veranstaltungen und Koordination zuständig und auch LN-Autor, sieht darin die Wandlung »von einer politisch-kämpferischen Gruppe zu einer kritischen Öffentlichkeit«. Insbesondere bei den LN wurden die Veränderungen offensichtlich — und das nicht nur sprichwörtlich. Die Bezeichnung »Redaktionskollektiv« steht zwar noch im Impressum. Doch das Wort wird, wie Fatheuer meint, »von vielen nur noch ironisch in den Mund genommen«. Die Zeiten sind schon lange vorbei, als noch jeder Artikel kollektiv diskutiert und als Meinung sämtlicher Redakteure ohne Namen abgedruckt wurde — heute zeichnet jeder Autor persönlich.

Was den Verein von Anfang an auszeichnete, war seine linke Pluralität. Eine ideologische Festlegung — etwa auf bestimmte Entwicklungsmodelle realsozialistischer Richtung — gab es weder beim FDCL noch bei den LN. Fatheuer hält daher rückblickend den Fall der Mauer für weit weniger dramatisch als die Wahlniederlage der Sandinisten 1989. Das Ende der Hoffnung auf einen dritten Weg in Nicaragua war für viele Solidaritätsgruppen ein Schock, der noch heute tiefsitzt und die Parameter durcheinander gebracht hat. Obwohl sich die Kapitalismuskritik in Lateinamerika anhand der dortigen Verhältnisse viel leichter aufrechterhalten ließe als in Europa, hat Fatheuer eine gewisse Ratlosigkeit ausgemacht, wie eine konkrete gesellschaftspolitische Alternative aussehen könnte. Auf keinen Fall, so betont er, seien »schnelle Lösungsmodelle« gefragt oder gar das Abtauchen in die Resignation.

Mit Freude beobachtet der 38jährige in der letzten Zeit eine verstärkte Hinwendung zu Themen und Ländern, die lange Zeit von der Solidaritätsbewegung vernachlässigt worden sind — so etwa Brasilien oder auch die ökologischen Bewegungen in lateinamerikanischen Ländern.

Wie überall in der Alternativszene ist auch das FDCL seit seiner Gründung von Geldsorgen geplagt. Zwar geht es dem Verein zur Zeit relativ gut — was die personelle Seite betrifft. Beim FDCL und den LN arbeiten acht feste Mitarbeiter. Eine stolze Zahl, die sich beim näheren Hinsehen jedoch relativiert: Allein drei sind ABM-Kräfte, zwei sind Projektstellen. Möglich wurde das nicht zuletzt dank der finanziellen Zuwendungen der »Landesstelle für Entwicklungszusammenarbeit«, die noch aus den Zeiten des rot-grünen Senats stammt. Ansonsten gilt die Devise: »Durchhangeln von Projekt zu Projekt«, wie Fatheuer anmerkt. Jedesmal müssen Briefe geschrieben werden, um die Finanziers von der Notwendigkeit der Arbeit zu überzeugen. Die kurzfristigen, meist auf ein bis zwei Jahre angelegten Projekte, fördern die Fluktuation der Mitarbeiter. Viele, so Fatheuer, begreifen die Arbeit beim FDCL als Berufseinstieg und wechseln, wenn besser bezahlte Angebote locken — kein Wunder bei 1.700 Netto-Einheitslohn, inklusive Klodienst, Staubsaugen und Hoffegen. Hauptstütze der Arbeit bleiben nach wie vor Spender. In letzter Zeit wird es immer schwieriger, neue Spender zu motivieren, Geld für das Archiv zu geben. Fatheuer sieht die Tendenz, lieber »konkrete Dritte-Welt-Projekte zu unterstützen«.

Trotz der ständigen finanziellen Engpässe bringt das FDCL immer wieder bemerkenswerte Veranstaltungen auf die Beine — beispielsweise die seit Jahren stattfindenden Lateinamerikatage, die sich im Juni dieses Jahres der Entdeckung des Kontinents widmeten. Programmatischer Titel: »500 Jahre Unterdrückung — 500 Jahre Widerstand«. Severin Weiland