TRANSATLANTISCHES
: Das neue, nette Deutschland

■ In den USA herrscht großes Interesse am wiedervereinigten Germany

Deutschland ist in, gerade in den USA, wo man sich auf die neue zentrale Macht Europas einzustellen beginnt. Das merkt man nicht nur im universitären Bereich, wo europäischer Politik neue Relevanz zukommt. Auch die Vielzahl von Seminaren, Fernsehrunden, Vorlesungen, Filmen, Publikationen über Deutschland zeugt von der Faszination der gebildeten Öffentlichkeit angesichts des Themas Deutschland, auch jenseits der unmittelbaren Grenzen der Universitäten. Ich brauche nur aufzuzählen, vor wem alles ich in der letzten Woche über das neue Deutschland sprach, um das Interesse an diesem Thema in den Vereinigten Staaten deutlich zu machen: einer Gruppe höherer Bürokraten aus Washington, hauptsächlich aus dem Außen- und Verteidigungsministerium; einer Zusammenkunft von Firmen, die Möbel leasen — sie sind interessiert an der wachsenden internationalen Mobilität der Geschäftsleute in dieser zunehmend internationalisierten Welt; einer Jugendgruppe der Demokratischen Sozialisten Amerikas aus dem Raum Groß-Boston; einem Sabbath-Gottesdienst einer großen Synagoge in Boston; und schließlich vor einer Gruppe von etwa 40 College-Professoren aus Pennsylvania, Ohio, Indiana und Michigan.

Sicher eine geschäftige Woche, aber seit dem 9. November 1989 keineswegs ungewöhnlich. Diese Zuhörer wollen alle etwas über das neue, vereinigte Deutschland erfahren. Von diesem offensichtlichen Interesse abgesehen fiele es mir jedoch sehr schwer, auch nur ein übergreifendes Gefühl, eine gemeinsame Empfindung gegenüber dem neuen Deutschland zu benennen, die sich mit einiger Sicherheit als „typisch“ oder „charakteristisch“ für eine dieser Zuhörergruppen — ganz zu schweigen von Amerika insgesamt— bezeichnen ließe. Tatsächlich überrascht mich immer wieder gerade die Vielfalt der Reaktionen.

Deutschland wird stärker

Auf jede Äußerung der Besorgnis und der Furcht angesichts des neuen Deutschland kommt eine andere voller Optimismus und Hoffnung. Einige Pentagon-Generäle und Möbelleute zeigten sich besorgt über eine Entwicklung, die sie als offensichtliche Wiedergeburt des deutschen „Sonderwegs“ in neuer Verkleidung begriffen, andere unter ihren jeweiligen Kollegen jedoch widersprachen emphatisch und belehrten sie, für Europas Stabilität, Prosperität und Demokratie gebe es nichts Besseres als ein vereinigtes und verwestlichtes Deutschland. Na schön, antworteten die Skeptiker, aber wird dieses neue Deutschland im Westen bleiben? Aber sicher, antworteten die anderen, denn das entspricht seinen Interessen.

Zu meiner großen Überraschung ließen sich sogar unter jüdischen Amerikanern einige lobende und hoffnungsvolle Stimmen zum neuen Deutschland vernehmen. Hatte sich nicht die Deutsche Demokratische Republik in ihrer offiziellen Regierungspolitik eifrig an der Hilfe für diejenigen beteiligt, die den Staat Israel von der Landkarte streichen wollen?

Offensichtlich existiert hinter dem Pluralismus der Meinungen und der Unmöglichkeit einer klaren Kategorisierung — eine wahrhafte „Unübersichtlichkeit“ — Unsicherheit hinsichtlich des neuen Deutschland. Das Ausmaß des Interesses und die Intensität der Debatte liefern Indizien für ein Engagement, wie es in Amerika bei europäischen Themen, die aus dem unmittelbaren Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden sind, nicht häufig anzutreffen ist. Meine Hypothese, für deutsche Politik werde sich niemand mehr interessieren, sobald die Fernsehkameras nicht mehr auf die zerfallende Berliner Mauer gerichtet seien, hat sich daher als falsch erwiesen.

Bei allen beteiligten Gruppen — Optimisten und Pessimisten, Deutschlandfreunden und -feinden — herrscht ein klares Bewußtsein, daß sich das neue Deutschland zweifellos recht stark von seinem bundesrepublikanischen, ganz zu schweigen von dem SED-beherrschten Vorläufer unterscheiden wird — wodurch ihm in einem ganz anderen Europa eine ganz andere Rolle zugewiesen würde. All dies, darüber sind sich alle einig, wird eine grundsätzliche Änderung in den deutsch-amerikanischen Beziehungen nach sich ziehen und die Rolle der Vereinigten Staaten in Europa wesentlich verändern — höchstwahrscheinlich mindern.

Das Neue ist neu

Obwohl die Übereinstimmung an diesem Punkt ihr Ende findet, sind offensichtlich „Gemüts“-Fragen im Spiel, die nicht nur intellektuelles Interesse, sondern ebenso und vor allem emotionale Reaktionen auslösen. Um dies an einem Beispiel zu erläutern: Mein Kollege Simon Reich und ich haben einige Aufsätze zu einem Forschungsprojekt über Deutschlands Hegemonie im neuen Europa veröffentlicht. Unsere These ist einfach: Unter dem Titel „Nette Menschen gewinnen“ — eine Modifikation der amerikanischen Redensart „Nette Menschen verlieren“, die von dem kürzlich verstorbenen Baseballmanager Leo Durocher geprägt wurde — legen wir dar, daß die Deutschen in Europa nicht durch Gewalt vorherrschen werden, sondern rechtmäßig, nicht mit Panzern, sondern mit der Deutschen Mark, nicht durch Autoritarismus, sondern durch eine erfolgreiche liberale Demokratie, nicht durch quasi-feudale Junker, sondern verwestlichte Bankiers. Anders ausgedrückt: Die deutsche Vorherrschaft in Europa wird um so mächtiger sein, als sie auf einvernehmliche und legitime Art ausgeübt wird — was natürlich das Wesen einer erfolgreichen Hegemonie ausmacht. Somit werden die Deutschen zum ersten Mal in ihrer Geschichte etwas vereinigen können, was ihnen bisher versagt war: mächtig zu sein und nett zugleich.

Ungeahnte Leidenschaft

Die Reaktionen auf diese Thesen waren überaus intensiv. Nie zuvor in unserer akademischen Laufbahn hatten Simon oder ich bei einem ausgesprochen wissenschaftlichen Projekt— das zum größten Teil noch gar nicht veröffentlicht ist — eine solche Vielzahl von Reaktionen erfahren. Wichtiger noch als die Zahl der Reaktionen ist ihre Qualität: Sie sind geprägt von Leidenschaft und Engagement. Eine Gruppe von Kritikern wirft uns vor, wir seien Verteidiger der Deutschen. Sei uns denn nicht klar, argumentieren sie, daß dieses neue Deutschland sich vom alten kaum unterscheidet? Brauche es denn noch mehr Belege als Deutschlands einseitige — und faktisch einheitliche, von Grün bis Schwarz, von Rot bis Blau — Unterstützung für Tudjmans Kroatien, um die Kontinuität des heutigen Deutschland zu seinen — nicht nur Nazi-Vorläufern zu erkennen? Kurz, diese Kritiker argumentieren, Deutschland sei alles andere als „nett“, und Markovits und Reich seien in Wunschdenken und gefährlicher Naivität befangen, wenn sie glaubten, das neue Deutschland sei in seinem normativen und empirischen Wesen grundsätzlich „neu“.

Ebenso häufig und lautstark äußert sich die Kritik, wir seien gegenüber den Deutschen unfair, wenn wir ihre Machtübungen als eine Fortsetzung von Deutschlands alles andere als glücklicher Vergangenheit begreifen. Diese Wissenschaftler begreifen unsere These als eine überflüssige Warnung, gerade weil das neue Deutschland nichts mit einem seiner Vorläufer gemein habe — einmal ganz davon abgesehen, daß auch der Schauplatz des neuen Europa sich grundsätzlich neu darstellt. Die Schlußfolgerung liegt auf der Hand: Macht euch keine Sorgen über die Deutschen und ihre Macht. Die Deutschen sind nicht nur „nett“, sondern auch gut für Europa, den Westen und den Rest der Welt.

Das Interesse an deutschen Angelegenheiten zeigt sich auch in der ungewohnt hohen Zahl der Studenten, die mehr über Deutschland lernen wollen. Gegenwärtig ist anstelle einer klaren normativen Orientierung eher eine unklare Besorgnis zu erkennen, die aber das Interesse an weiterer Auseinandersetzung weckt— und das erwärmt mein pluralistisches Herz ebenso wie meine professorale Seele. Andrei S. Markovits

Der Autor ist Assistenzprofessor für Politikwissenschaften an der Universität Boston und Fellow Assistant am „Centre for European Studies“ in Harvard.