MÜRITZ LIEGT VOR PALÄSTINA

■ Literarisches von der Küste Mecklenburg-Vorpommenr

Literarisches

von der Küste

Mecklenburg-

Vorpommerns

VONSOLVEJGMÜLLER

Ja, ja, Hiddensee als Refugium Hauptmanns kennt jeder und muß auch erwähnt werden, wenn es darum geht, literaturgeschichtlich bedeutsame Orte an der Ostsee aufzulisten. Der Mythos Hiddensee, um die Zentralfigur Hauptmann angelegt, lebt bis heute von der Verklärung des Altmeisters, das „geistigste aller deutschen Seebäder“ zu sein. Thomas Mann, Sigmund Freud, Albert Einstein und viele andere gaben sich hier die Ehre.

Doch der Geist weht nicht nur auf und über Hiddensee. Rügen bzw. romantic Rügen ist durch Caspar David Friedrich hinlänglich bekannt. Nicht ganz so herumgesprochen haben sich die Rügener Gedenkstätten für den dort geborenen Ernst Moritz Arndt und für den im 18. Jahrhundert recht populären Pfarrer und Schriftsteller Kosegarten. In Ahrenshoop gedenkt man der dort um die Jahrhundertwende ansässigen Maler und pflegt die Kunstkaten. Maxim Gorki kurte einst in Heringsdorf auf Usedom, auch hier läßt sich ein kleines Museum besichtigen.

Aber Müritz? Wo ist überhaupt Müritz? Und warum soll Müritz in diese Auflistung der literarischen Topographie der Küste Mecklenburg-Vorpommerns gehören?

Einer war hier mal glücklich, na ja, fast glücklich, aber das hieß für diesen Menschen schon so einiges. „Nicht glücklich, doch an der Schwelle des Glücks“, wähnt sich Kafka hier, kurz nach seinem 40. Geburtstag, ein Jahr vor seinem Tod. Kafka im Vorhof des Paradieses, und dieser Vorhof ist Müritz. Drei Wochen verbringt er hier im Jahre 1923, er begleitet sein Schwester Elli und deren Kinder. Drei Wochen, die den Rest seines Lebens prägten.

Ortsschild Graal-Müritz. Endlich. Aber wo ist Graal, der bzw. das hier ja gar nicht gefragt ist (um die Gralssuche geht es im Moment auch nicht), und vor allen Dingen, wo ist Müritz?

Müritz, Ostseebad, 25 Kilometer nordöstlich von Rostock, seit 1938 Zusammenschluß mit der Nachbargemeinde Graal, 3.300 Einwohner, ausgedehnte Wälder, Sandstrand, am Rand der Rostocker Heide gelegen.

Einfahrt Graal-Müritz: Ein traditionsreicher „Badeplatz“, wie es im 19. Jahrhundert hieß, läßt grüßen — Sanatorien, Villen, Ferienheime im alten Bäderstil, Holzveranden, Loggien, Balkone. Etliche dieser alten Schätze stehen jetzt leer, müßten sich selber einer Kur unterziehen. Das älteste Kindersanatorium der Ostsee, der noch bestehende „Tannenhof“, wurde hier 1880 errichtet. Ein Ort, an dem sich ein Kranker — schon seit sechs Jahren leidet Kafka an Tbc — heimisch fühlen kann. Etliche Sanatorien hat Kafka zu diesem Zeitpunkt schon hinter sich, der Erfolg zweifelhaft. Aber hier, in Müritz, zeichnet sich nun ein Aufschwung ab. Nach einem schmerzhaften Winter — Einsamkeit, Schlaflosigkeit, zunehmende Pflegebedürftigkeit und damit vermehrte Abhängigkeit von den Eltern — ist Kafka nun in Müritz an der Ostsee wie selten vom Jungen, Gesunden, vom Leben selbst angetan.

Auch in den letzten Jahrzehnten gehörte Graal-Müritz zu den großen Badeorten an der Ostsee, der FDGB organisierte hier als gigantischer „Club Ostsée“ den Ferienbetrieb. Die Aufschriften einiger Herbergen zeugen noch davon, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil der jährlich ca. drei Millionen DDR-Ostsee-Urlauber auch in Graal-Müritz abstiegen: Ferienheim Karl Marx, Ferienheim Synthesewerk Schwarzheide ... Damals, 1923, waren's nicht so viele. Die Inflation in Deutschland machte Kur und Urlaub noch mehr als sonst zur Luxusware. Bezahlbar war schon eher ein solcher Aufenthalt in ausländischer, also auch in tschechischer Währung.

Ich glaube an die Macht der Orte

Städte, Orte, Plätze, Straßen, Kammern und Winkel begreift Kafka stets symbolisch. Prag — mit seinen eisernen Krallen, die ihn fast ein Leben lang festhalten. All die vielen äußerst präzisen räumlichen Beschreibungen in seinen Texten zeugen von Kafkas speziellem Bezug zum Raum. Müritz fällt da nicht aus der Reihe. Nach dem üblen Winter 1922/23 weiß Kafka, daß nur noch etwas sehr „Radikales“ seinem Zustand Abhilfe schaffen könnte: die Auswanderung nach Palästina. Dies Palästina ist ein Ort der äußeren und der inneren Erlösung, des Abbrechens aller bisherigen Bindungen und des Aufgehens in Tradition und Gemeinschaft. Palästina als Prinzip und als reale Möglichkeit — der ehemalige Schulfreund Hugo Bergmann, seit einigen Jahren in Jerusalem, bot Kafka, der schon kurz zuvor in Prag mit dem Erlernen des Hebräischen begonnen hatte und sich intensiv mit Zionismus und Chassidentum auseinandersetzte, Hilfe bezüglich des Projekts Auswanderung an.

Müritz sollte nun der Testfall sein. Falls der Gesundheitszustand die Fahrt nach Müritz, den Aufenthalt an fremdem Ort zuließ, könnte mehr gewagt werden, könnte Palästina wahr werden. Müritz als Vorzimmer des himmlischen Jerusalem. Von dort schreibt Kafka an Robert Klopstock: „Ich glaube an die Macht der Orte oder richtiger an die Ohnmacht des Menschen.“

Die Macht von Müritz ist gewaltig. Zunächst glaubt Kafka, die Probe hinsichtlich seiner „Transportabilität“ bestanden zu haben. Jüdische Kinder, von Berlin nach Müritz zur Erholung geschickt, wärmen Kafkas Herz. „Fröhliche, gesunde, leidenschaftliche Kinder ... Die halben Tage und Nächte ist das Haus, der Wald und der Strand voll Gesang.“ In Müritz hört Kafka schon von den ersten Tagen an Hebräisch, Palästina ist so schon ein Stück näher gerückt. Und rückt noch näher, als Kafka in der Ferienkolonie Dora Diamant kennenlernt, die im Angesicht des Todes zu Kafkas Lebensgefährtin wird. Auch das, wenn man Kafkas brüchige Beziehungen zu Frauen kennt, ein seltenes Ereignis. Und das alles in Müritz.

Fritz statt Franz

Der Kafka-Kenner Wagenbach führt in seiner Bildbiographie natürlich auch Ansichten aus Müritz auf. Kafkas Hotel „Haus Glückauf“ läßt sich auf einer alten Aufnahme orten, und der damalige Prospekt dieses Hauses, auch das hat Wagenbach ausfindig gemacht, wirbt mit vorzüglichen Betten, Wasserspültoiletten und herrlichem Blick auf das Meer. Dieser geographische Hinweis — für den sechs Kilometer langen Strand von Müritz natürlich von höchster Präzision — führt also zuerst einmal zum Meer, denn in dessen Nähe muß Kafkas Herberge ja gewesen sein. Am Strand fehlt die Landungsbrücke, die noch zu Kafkas Zeiten das Zentrum der Promenade von Müritz prägte. Sie wurde 1940 bei einem Unwetter zerstört. Jetzt lassen sich nur noch Postkarten mit den alten Stadt- und Strandansichten gegenüber dem Strandcafé erstehen. Doch von dieser Stelle aus ist es schwierig, sich weiter Kafka zu nähern. Ein Sommer-Sonntagmorgen, kalt, regnerisch, kaum jemand unterwegs. Und wer unterwegs ist, der ist vor kurzem zugezogen, weiß nicht Bescheid. Westlich vom Müritzer Promenadenzentrum geht's an dicken Hagebuttensträuchern vorbei zum „Gespensterwald“. Hier hat der Seewind die Bäume zu Dämonen gekrümmt. Diese Szenerie könnte zwar in Kafkas Richtung weisen, aber irgendein Haus geschweige denn ein „Glückauf“ ist hier nie errichtet worden. Also weiter, jetzt in Richtung Osten, in Richtung Graal am Strand entlang, am neuen Grand Hotel vorbei, das mittels kleiner Werbezettel die Promenade hier optisch markiert: „An alle Haushalte — Nutzen Sie die Dienstleistungen unserer Wäscherei.“ Ein paar Schritte weiter schimmern durch den Wald, der hier bis zum Strand reicht, ein Kinderheim und eine Büste durch. Das Spekulieren kennt kein Halten mehr — ist dies vielleicht das von Kafka so geschätzte Kinderheim mitsamt einer Gedenkstätte, nach der Wende schon errichtet? Aber das kann eigentlich nicht sein, und ein genauerer Blick läßt alle Illusionen schwinden — Fritz Reuter, nicht Franz Kafka wird hier geehrt.

Auf dem Rückweg vom Graaler Strandzentrum — einige Imbißbuden und ein Disco-nights verheißendes Restaurant — begleitet einen wieder das Meer, das Kafka mit seinem letzten, zehn Jahre zurückliegenden Eindruck von der Ostsee vergleicht. Damals war Kafka nach der Trennung von Felice ins dänische Marielyst gefahren. Gemäß der Stimmung war auch das Meer öde, das Essen

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schlecht. Aber hier in Müritz, um sich herum Dora und singende Kinder, scheint ihm auch das Meer „schöner, mannigfaltiger, lebendiger, jünger“.

Die Suche nach den konkreten äußeren Orten seiner Verjüngung geht weiter. Im jüdischen Kinderheim ist er also Dora begegnet. Dora, aus angesehenem ostjüdischem Hause, der orthodoxen Enge entflohen, hat gerade eine Anstellung in Müritz. Am Strand schon hat Kafka eine Erzieherin dieses Heimes kennengelernt, er ist dann dort mehrfach zu Gast, wohnt Theateraufführungen bei und feiert den Sabbat. Und dann kommt er eines Tages auch in die Küche. Dora, um die zwanzig Jahre alt, schuppt gerade Fische. „So zarte Hände und solch eine blutige Arbeit“, habe Kafka damals, so sein Biograph Max Brod, mißbilligend Doras Aktion kommentiert. Kurz darauf habe Dora Kafka ein Kapitel aus Jesaja in der Ursprache vorgelesen. Palästina in Müritz. Aber wo genau hat diese erste Begegnung stattgefunden?

„Glückauf“ und „Kinderglück“

Zurück vom Strand, in der Hauptstraße von Müritz, fällt der Schaukasten des Rates der Gemeinde auf. Etliche Fotos von herrenlosen Autos, die das Stadtbild von Graal-Müritz verschandeln, hängen aus. Nach deren Besitzer wird gefahndet. Gesucht wird auch der Eigentümer eines blauen Trabbi, der deutlich erkennbar vor einem „Haus Magdalena“ abgestellt ist. Unter dem Foto die etwas genauere Ortsangabe: Müritz- Ost.

Die Brisanz dieser Information läßt sich nur verstehen, wenn man beide Ausgaben des Wagenbachschen Bildbandes kennt. In der ersten Ausgabe wird dem Haus Magdalena die Ehre, eben jenes ehemalige Kinderheim zu sein, zugesprochen, was Wagenbach in der zweiten, erweiterten Ausgabe dann revidiert hat. Und dennoch, auch wenn Wagenbach sich geirrt hat, wird er sich doch nicht völlig in der Gegend getäuscht haben, und einem Irrtum dieses Kafka- Kundigen zu folgen ist sicher besser, als gar keine Spur zu haben.

Karl-Liebknecht-Straße ist der heiße Tip. Ja, da sei ein Haus Magdalena. Zur Zeit ist es besetzt, ein Tuch im Fenster gibt diesen Status bekannt. Die Geschichte des Hauses: erst ein Kinderheim, nach 1945 ein Heim für Aussiedler, heute baufällig und von „Leuten aus Hamburg“, so mehrfach der Kommentar der Passanten, besetzt. Aber dieses Haus hat mit Kafka ja nur über den Umweg von Wagenbachs Irrtum zu tun.

Eine Nachfrage in der „Goldenen Kugel“ schräg gegenüber hilft weiter. Gleich sehr freundliche Auskunft und engagiertes Interesse: das „Glückauf“, das ehemalige, ist etwas weiter oben auf der Straße zu finden, ein Wohnhaus, das den Konsum, der heute „Top Shop“ heißt, beherbergt. Und das Kinderheim sei eine Ecke weiter am Waldrand, Haus Huter — diese Inschrift läßt sich noch ganz leidlich lesen, und darunter, ganz verblaßt, sind noch einige Buchstaben tieferer historischer Dimensionen dieses Hauses erkennbar — mit etwas Vorwissen läßt sich hier das alte „Kinderglück“ buchstabieren.

Vielleicht ist es schon bald soweit — neben Hiddensee, Rügen etc. wird es eine weitere literaturgeschichtliche Gedenkstätte an der Ostsee geben: Die „Heimatstube“ plant, eine Kafka-Ecke einzurichten. Geforscht wird auch vor Ort nochmals nach der Ferienkolonie des Berliner Jüdischen Volksheimes. Vielleicht habe sich Wagenbach auch in der verbesserten Auflage seiner Biographie geirrt... Heftig diskutiert wird darüber hinaus gerade der Vorschlag des Graal-Müritzer Kafka-Experten W.-D. Schulz, einen Teil der Straße, an der „Glückauf“ und „Kinderglück“ lagen, von „Karl-Liebknecht-Straße“ in „Franz-Kafka- Weg“ umzubenennen.

Damit wäre an den wichtigen Stellen von Kafkas Station in Müritz erinnert. Denn Müritz und was ihm dort widerfahren ist, ist ihm dann kurz vor seinem Tode zu Palästina geworden. Zwar tritt gegen Ende des Aufenthalts — wie kann es anders bei Kafka sein — eine Ernüchterung ein, Kafka fühlt sich als Fremder, als müder Gast im Kinderferienheim, sieht sich wieder als ewiger Wanderer: „Vielleicht darf ich nicht zu lange an einem Ort bleiben, es gibt Menschen, die sich ein Heimatgefühl nur erwerben können, wenn sie reisen.“ Und die reale Fahrt nach Palästina ist weiter weg denn je, er zweifelt sogar daran — und das vielleicht in realistischer Selbsteinschätzung —, ob eine solche Fahrt für ihn jemals möglich gewesen wäre. Er fühlt sich wieder einmal in seinem Leben schuldig: „Es wäre keine Palästina-Fahrt geworden, sondern im geistigen Sinne etwas wie eine Amerikafahrt eines Kassierers, der viel Geld veruntreut hat.“

Und dennoch tat sich hier für Kafka Entscheidendes: Er kam zwar nicht ins Gelobte Land, aber dank Müritz und Dora war das auch nicht mehr nötig. Jetzt gelingt es Kafka, endlich vom Elternhaus auszuziehen, er geht mit Dora nach Berlin. Dora ist bei ihm bis zu seinem Tode. Im September 1923 skizziert Kafka in einem Brief an Milena die biographische Bedeutsamkeit von Müritz: „Inzwischen war im Juli etwas Großes mit mir geschehn.“ Über den Müritzer Umweg ließ sich dann eine reale Auswanderung organisieren, zwar nicht nach Palästina, sondern nach Berlin, das für Kafka schon seit längerem den Gegenpol zum engen Prag darstellte.

Und die notwendige Voraussetzung für den Eintritt ins Gelobte Land stellte Müritz bereit. Kafka schreibt weiter an Milena: „Allein in Berlin zu leben, war mir freilich unmöglich, in jeder Hinsicht, und nicht nur in Berlin, auch anderswo allein zu leben. Auch dafür fand sich in Müritz eine in ihrer Art unwahrscheinliche Hilfe.“ Dora ist gemeint.