Für Lummers Eitelkeit

■ Vor zehn Jahren, am 22. September 1981, wurde der 18jährige Klaus-Jürgen Rattay nach der Räumung von acht Häusern von der Polizei in den Verkehr getrieben und von einem Bus überfahren

Am frühen Nachmittag des 22. September 1981 erfaßte ein BVG-Bus an der Ecke Potsdamer/ Bülowstraße den 18jährigen Klaus-Jürgen Rattay. Er schleifte ihn 30 Meter über die Kreuzung Richtung Kurfürstenstraße. Als der Bus endlich zum Stehen kam, war der junge Mann tot, seine Leiche klemmte zwischen linkem Vorderrad und Fahrgestell. Nicht im strafrechtlichen, sondern im moralischen Sinne schuld an diesem Tod ist Heinrich Lummer, damals Innensenator unter dem vornehmen Bürgermeister Richard von Weizsäcker. Stunden, nach dem die Polizei acht von insgesamt 157 besetzten Häusern hatte räumen lassen, präsentierte er sich in Feldherrenpose auf dem Balkon der Bülowstraße 89 und schwadronierte vor Journalisten, daß er nur mal sehen wolle, ob »hier Instand- oder Kaputtbesetzer gehaust haben«. Vor dem Haus gellten wütende Demonstranten, darunter auch Rattay, den die Abenteuerlust wenige Monate zuvor aus Westdeutschland nach Berlin getrieben hatte. Ohne Not, nur um Lummers Sieg vollständig zu machen, trieb die Polizei im Knüppeleinsatz die Protestierenden auf die Potsdamer Straße — und einen von ihnen in den Tod.

Die Blumen, die junge Menschen an der Unglücksstelle niederlegten, wurden immer wieder von Polizistenstiefeln zertrampelt, die Trauernden brutal vertrieben. Der spontane Schweigemarsch, der am frühen Abend über den Kurfüstendamm Richtung Potsdamer Straße zog, löste sich in einer gewaltigen stundenlangen Straßenschlacht auf. Rücksichtslos fuhr die Polizei mit Mannschafts- und Zivilfahrzeugen in die Menge, feuerte Tränengaskartuschen auf fliehende Menschen. Es war mehr ein Zufall, daß es an diesem Abend nicht zu weiteren Toten kam.

Wurde dieser Tag zu einer Zäsur, einer Wende für die damaligen Hausbesetzer, Demonstranten und Augenzeugen? In die damals besetzten, später legalisierten Häuser in der Potsdamer Straße 157 und 159 kam die taz überhaupt nicht herein. Am Montag sei Plenum, hieß es über Haustelefon an den Eingangstüren, der Gesprächsantrag müßte dort verhandelt werden. »Ich persönlich«, teilte der anonyme Geprächspartner mit, »habe keinen Bock, mit der taz über Rattay zu reden«. Eine wunderschön bunt gesträhnte Frau mit Kleinkind an der Hand sagte in der hauseigenen Kneipe »KOB«: »Bei uns hat die taz verschissen — und was geht euch überhaupt Rattay an«.

Viel, denn taz-Mitarbeiter lebten in besetzten Häusern, wurden von der Polizei eingefahren, waren bei diesem Trauermarsch, der unvermutet zu einer Straßenschlacht wurde, dabei. Ich mit einem neunjährigen Kind. Es waren viele Kinder an diesem frühen Abend auf der Bülowstraße. Als die Polizei nach ersten Steinwürfen auf einen Mannschaftswagen ohne Vorwarnung in die Menge fuhr und Chaos ausbrach, Tränengas die Luft vergiftete und Menschen schrien, »rettete« uns ein junges Paar in eine Wohnung der Potsdamer Straße 24, wenige Meter entfernt von der Stelle, an der Rattay überfahren wurde. Kolja, heute 19, erinnert sich noch präzise. Angst hatte er damals gehabt, so sehr Angst, daß er für Jahre »lieber Hausaufgaben machte«, als noch einmal auf eine Demonstration mitzugehen. Aber, trotz Angst sperrte er die Augen auf, sah entsetzt, daß Polizisten willkürlich mit Knüppeln auf junge Menschen einschlugen und mit Stiefeln nachtraten, wenn sie am Boden lagen. Inmitten der panischen Menge ein Rollstuhlfahrer, der ein Kreuz hochhielt. Immer wieder verschwand es hinter Tränengasnebel. An anderen Stellen sah er junge Leute, die die Fenster einer Drogerie einschlugen und Berge von Waschmittel auf die Straße kippten, bis sie von Zivilpolizisten festgenommen wurden. Den Ablauf der Straßenschlacht, beobachtet aus dem sicheren Fenster im ersten Stock und nacherzählt so detailliert, als ob es gestern gewesen wäre, könnte aus einem Polizeibericht stammen. »Wäre ich damals 19 gewesen, hätte ich auch Steine geschmissen«, sagt er heute. Polizisten sind seitdem für ihn Bullen.

Genau erinnern, sich Rechenschaft ablegen über jede Viertelstunde an diesem Tag können sich alle Zeitzeugen. Nichts hat sich verwischt, sich objektiviert durch angelesene Berichte, durch hundertmal erzählen. Axel Bäse, wiedergefunden bei der Suche nach Beteiligten, war der junge Mann, der Kolja und mich trotz hinterherjagender Polizei in die Wohnung aufgenommen hat. Er ist Dramaturg und Bühnenbildner, war es damals, ist es heute immer noch. Den Tod von Rattay mußte er mit ansehen, er war es, der den Notarztwagen rief. »Eine Ewigkeit dauerte es«, sagt er. Hunderte von Unfällen an dieser hektischen Straßenkreuzung hat er in den 13 Jahren, die er in diesem Hause lebt, gesehen, darunter auch tödliche. Keiner hat ihn so »geschockt« wie dieser, der vermeidbar gewesen wäre, »wenn nicht Lummers Eitelkeit hätte befriedigt werden müssen«. Ja, sagt er, es war eine Zäsur. Die Hausbesetzerszene spaltete sich, »der schwarze Block riß sich das Thema unter den Nagel«.

Nein, der 22. September war keine Wende, meint Mr. X., der seinen Namen nicht nennen möchte und immer noch in der Potsdamer Straße 130 wohnt, ebenfalls in einem der damals besetzten, heute legalisierten Häuser. Er befand sich unter den Demonstranten die den Napolionsauftritt von Lummer bepfiffen und von der Polizei in die Potsdamer Straße getrieben wurden. Der Bus erfaßte Rattay zehn Meter vor seinen Augen. »Es war grausiger Höhepunkt im Hausbesetzerkampf«, sagt er. Eine Wende gab es erst im Sommer 1982.

Bis dahin war man »hauptberuflich« Hausbesetzer, »ein reiner Überlebenskampf gegen Polizei, Stromsperren, Wassernot und Kälte«. Höchstens strategisch wurde dieser 22. September zur Zäsur. Denn bis dahin galt die Devise, sagt er, »pro geräumtes Haus eine halbe Million Mark Sachschaden«. Aber dann gab es diesen Toten, und das ließ sich nicht mehr verrechnen. Mr. X begann zu schweigen. Mit der Liebe zum Haus, beendet er das Gespräch, entwickelten wir uns langsam zu den »guten« Besetzern. In Jahren gesehen, sagt er, hatte das vielleicht doch was mit Rattays Tod zu tun. Anita Kugler