Zeit ohne Ende

Zu den Frankfurter Römerberg-Gesprächen über „Die Sache mit der Zeit“  ■ Von Mathias Bröckers

Am interessantesten wurde es gegen Ende: Johann Galtung, Weltreisender in Sachen Friedensforschung, freute sich, daß er endlich einmal nicht über Frieden und Politik reden mußte — und tat es dann doch, auf subtile und erhellende Weise. „Sexualität — Zeit und Zivilisation“ lautete sein Thema, und Galtung begann mit seinen Feldforschungen bei philippinischen Prostituierten: Chinesische Kunden sind bei den Damen denkbar unbeliebt, sie kommen beim Coitus nicht zur Sache, fangen an, ziehen sich zurück, fangen wieder an, ziehen sich wieder zurück... Bei den Amerikanern hingegen dauert alles insgesamt höchstens drei Minuten, nicht ganz so schnell tun es die Deutschen und Skandinavier, wohingegen die Italiener so etwas wie einen Übergang zwischen abendländischem Ex-und- hopp und orientalischem Endloszyklus praktizieren.

Sex, Essen und Religion, so Galtung, sind die Träger der Zeit-Kosmologien, und so läßt sich der zivilisatorische Zusammenhang von Zeit und Sex auch beim Essen beobachten: Die chinesische Küche kann rückwärts gegessen werden, sie kann mit Suppe beginnen und enden, ist (wie der Sex) zyklisch und wellenartig, wohingegen die das Abendland dominierende französische Küche sich nach einer langen Vorgeschichte zur Klimax (dem Fleischgericht) steigert und danach in einem „apokalyptischen Zwischenzustand“ endet. Dieser Menüfolge entspricht die jüdisch-christliche Zeitvorstellung der Bibel, nach der die Zeit sich linear über eine lange Vorgeschichte langsam steigert, auf eine Klimax zuspitzt und — ein Ende hat. Der buddhistische Zeitbegriff kennt ein solches Ende nicht, die Zeit ist spiralförmig und zyklisch, hinter jedem Nirwana gibt es stets ein Meta-Nirwana— Transzendenz, aber keinen definitiven Endzustand: „Nur Männer im Abendland denken sich so etwas wie das ,Ende der Geschichte‘, sie denken es (wie Luther) in der Woche zwei Mal, und sie wollen den Abschluß gut machen.“ Und das heißt allemal den Abschuß: Die Bomberpiloten im Golfkrieg, berichtet Galtung unter Berufung auf „Associated Press“, stimulierten sich mit Pornofilmen auf ihre apokalyptischen Einsätze.

Das Gegenbild zu diesem auch in den Krieg eingeschriebenen, auf Entscheidung drängenden Umgang mit Zeit skizzierte er in den Yoga- Techniken des tantrischen Buddhismus: Die über Stunden vereinigten Liebenden, die die Ent-Scheidung vermeiden und statt dessen einen „Stillstand der Zeit“ erreichen. „,What's the fun about it?‘ wird der Amerikaner fragen — was für die Tibeter ein Sakrament ist, ist für uns im Westen ein Skandal.“

Die zyklische Zeitspirale und der lineare, auf Höhepunkt und Entscheidung drängende Zeitpfeil — dieses Gegensatzpaar klang auch in einigen anderen Vorträgen an. Der Fundamental-Theologe Johann Baptist Metz (Münster) brachte die Angst des Apokalyptikers vor den Wonnen des ewigen „Hier und jetzt“ auf den Punkt: „Kein apokalyptisches Finale könnte so schlimm sein wie gar kein Finale“ — was auf dem Hintergrund von Galtung (und der ent-sexten christlichen Lehre) eine ganz neue Pointe birgt: Selbst die schlimmste aller Ent-Scheidungen (die Impotenz kurz vor dem Höhepunkt) ist nicht so schlimm wie das „ohne Finale ins Nichts“ (Nietzsche) des tantrischen Sex.

Bedenkt man, daß das Geschäft der jüdisch-christlichen Religionen im Verkauf von Bunkerplätzen für die Apokalypse besteht, wird die fundamental-theologische Abwehr einer zyklischen Zeit gut verständlich: Sie ist so geschäftsschädigend wie die chinesischen Freier für die philippinischen Huren. Und sie war es schon immer. In den Invektiven des modernen Theologen Metz gegen die zyklische Zeit blitzt der uralte Kampf der Kirche gegen die Gnostiker auf, jene „Zeit-Banditen“, die behaupteten, daß es sich beim „Ende der Zeit“ (und „Reich Gottes“) um einen im Prinzip jederzeit erreichbaren Zustandund nicht um einen in der Ferne liegenden Zeitpunkt handele.

Die Zeitlosigkeit der Libido mit dem Zeitpfeil der Gegenwart zu versöhnen ist die „Utopie der Psychoanalyse“ — der Analytiker und Ethnologe Paul Parin zeigte anhand der Geschichte der Schweiz, wie sich eine solche Utopie als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen realisiert hat: Unter den Bauern und Handwerkern bildete sich im vorigen Jahrhundert ein urwüchsiger Anarchismus heraus, vom dem sich Bakunin bei einer Reise sehr überrascht zeigte, denn ausgerechnet in diesem offenbar so libertären Land wurde gleichzeitig mit der Anarchie das Instrument der Unfreiheit schlechthin zur höchsten Präzision entwickelt: die Uhr.

Parins Geschichte verweist auf den fundamentalen Doppelcharakter der Zeit, der längst nicht allen Beiträgern des Symposions geläufig schien und bisweilen zu einer Art Zeitsalat führte: Wie die Objekte der Quantenphysik sich in Zuständen befinden, die sich gegenseitig ausschließen (gleichzeitig Teilchen und Welle sind), so ist auch die Zeit ein komplementäres Phänomen — sowohl chronos (gezählte, ablaufende Zeit), als auch aion (ewige Dauer, stillstehende Zeit). Der Philosoph Giacomo Marramao (Rom) zeigte, daß diese Komplementarität schon bei Platon und Aristoteles vorweggedacht ist, ebenso wie der erst von der Quantenphysik als unverzichtbar erklärte Beobachter: Wenn es kein Bewußtsein gibt, keine „Seele“, die zählt, gibt es auch keine Zeit. Die Psyche erst schafft die Verbindung von Zeit und Bewegung (Raum), und wie unbewußt und selbstverständlich sie das tut, verdeutlichen 700 Jahre nach Platon die „Bekenntnisse“ des Augustinus: Was Zeit ist, könne man nur wissen, wenn man nicht danach gefragt wird — es gibt nur reine Gegenwart, alles andere ist Erinnerung oder Erwartung. Sobald man eine Beobachtung anstellt, wird die Gleichzeitigkeit von Raum und Zeit in Raum plus Zeit zerlegt — hier, so Marramao, müsse etwa Heidegger, der der „Zeitlichkeit“ eine eigenständige, authentische Dimension zuspricht, einer radikalen theoretischen (und nicht bloß politisch-ideologischen) Kritik unterzogen werden. Wegen der schwer verständlichen Vortragsweise Marramaos wurde seine These nicht diskutiert, gleichwohl sie vielleicht zu den aufregendsten dieser Römerberg-Gespräche gehörte: daß nämlich die posteinsteinsche Wissenschaft erkenntnistheoretisch an jenen „fremden Blick“ Platons anzuknüpfen habe.

Platons Quantenlogik — Zeitpfeil und Zyklus nicht dualistisch zu trennen, sondern komplementär zusammenzubringen —, sie tauchte unbenannt auch in zwei weiteren Vorträgen auf. Der Mathematiker Heinz- Otto Peitgen (Bremen) machte anhand der Erkenntnisse der Chaosforschung deutlich, daß wir, um die Gesetze der Natur zu verstehen, tatsächlich das Unvereinbare in einer Einheit zusammendenken müssen: strengen Determinismus und wellenartig-zyklisches Chaos — Stechuhr und Anarchie. Wenn aber das Gesetz von Ursache und Wirkung, die Basis des gesunden Menschenverstands, zwangsläufig immer wieder ausgeschaltet wird, was bedeutet das für die Selbstorganisation von Systemen? Daß es keinen Sinn macht, Systeme überdeterministisch in eine Richtung zu zwingen: „Selbstorganisation folgt keinem Plan“, so Peter Kafka, Physiker am Max-Planck-Institut in Garching, „der Sinn der Zeit ist das Werden von Komplexität.“ Läßt man Systemen diese Zeit nicht, entsteht statt neuer, höherer Komplexität Kompliziertheit: Die Lösung eines Problems wirft sogleich zehn neue auf. Die Krise der Beschleunigung — sie ist der abendländischen Überbetonung des Zeitpfeils, dem Vergessen der zyklischen Gegenbewegung geschuldet. Zu viel „monkey business“— zu wenig „chinese fucking“ könnte man mit Johann Galtung sagen.

Weit entfernt von derlei Einsichten zeigte sich Agnes Heller (New York) mit ihrer weichkeks-intellektuellen These vom Bahnhof als „Metapher der Moderne“ und Vermittler „zwischen Vergangenheit und Zukunft“: Wie es überall Bahnhöfe gebe, so ihr Schmalspurargument, sei auch die Moderne „universell auf der Welt“. Spätestens in Bassam Tibbis Vortrag wurde Hellers Märklinismus zurechtgerückt: In seiner Skizze des fundamentalistischen Islam machte der Politologe klar, daß es so etwas wie eine Weltzeit der Moderne nicht gibt: „Die europäische Utopie der Gleichzeitigkeit ist gescheitert.“ Der „World Time“ auf struktureller Ebene (Ökonomie/Politik/Kommunikation) stehe auf kultureller Ebene ein hohes Maß an Ungleichzeitigkeit entgegen: „Es gibt keine Weltkultur, und es wird sie, befürchte ich, niemals geben“, lautete Tibbis pessimistisches Fazit. Ein Fazit, das von Lothar Baier noch verschärft wurde, als er sich wunderte, warum „die Realutopie der weltumspannenden Gleichzeitigkeit nicht auf der Abschußliste steht. Es handelt sich um das totalitärste Projekt, das die Moderne nach dem Abbruch der anderen aufrechterhält.“ Die Antwort hatte er selbst gegeben: Die lineare Zeit des Weltmarkts duldet keine anderen, „subjektiven“ Zeiten neben sich: „Der ganze Pluralismus endet dort, wo er sich der Vielzeitigkeit der Welt gegenüber sieht. Die anderen Kulturen werden nur dann hereingelassen, wenn sie ihre eigene Zeitlichkeit der westlichen Einheitszeit opfern.“