Hier wird nicht auf Mittelmaß hin geschult

■ Je unterschiedlicher die Lernniveaus der Schüler, desto besser die Gesamtschulen/ West-Berlin und Potsdam im Vergleich

Vorurteile gegenüber der Gesamtschule klingen etwa so: Sie sei anonym, tue nicht genug für die Leistungsstarken, stresse die Kinder bis in den Nachmittag hinein, fördere das Mittelmaß unter dem Deckmantel »soziales Lernen«, und die Abschlüsse gelten bei Berufsbewerbungen weniger als die von »richtigen« Haupt- und Realschulen bzw. Gymnasien. — Seit Jahrzehnten läuft die Kontroverse um die Gesamtschule. Jetzt zieht dieser Schultyp auch in die neuen Bundesländer ein ... umgeschaut in Berlin-Schöneberg und Potsdam.

»Ich bin Verfechter der Gesamtschule — nicht aus ideologischen Gründen, weil sie etwa a priori progressiv ist. Ich bin Verfechter, weil sie — richtig praktiziert — Lernchancen viel länger offenhält als der herkömmliche Schulweg.« Für Rudolf Segeletz, Direktor der Sophie- Scholl-Gesamtschule in Berlin- Schöneberg bedeutet »richtig praktiziert«: Die Lernniveaus der Schüler müssen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. An der Sophie- Scholl-Schule heißt das: je ein Drittel hauptschul-, realschul-, gymnasiumempfohlene Schüler. Drittelquotelung, sagt Segeletz dazu. Gesamtschulen, die bis zu 60 Prozent hauptschulempfohlene Schüler haben, sind für Segeletz keine Gesamtschulen. »Wie soll da sozial gelernt werden. Da bestimmt eine Schicht das Niveau. Dort kann für Leistungsorientierte wirklich wenig getan werden. Ich würde mein Kind nicht dahin schicken.« Der Oberstudiendirektor hat sie aufs Gymnasium geschickt. Wegen einer anderen heiligen Kuh: Ganztagsunterricht ist nicht für jedes Kind geeignet.

Ein weiteres Vorurteil trifft zu: 1.100 Schülerinnnen und Schüler, dazu 120 Mitarbeiter, von der Putzfrau über den Sozialarbeiter bis zur Japanischlehrerin; da geht der Überblick verloren. Einzig der Direktor, heißt es, kenne alle mit ihrem Namen. Die Scholls hätten es lieber nur sechszügig statt achtzügig. Doch jedes Jahr werden Schöneberger Eltern mit ihren Sprößlingen abgewiesen, weil die Kapazität nicht ausreicht. Die Schule hat einen guten Ruf.

Der Osten solle bloß nicht alles nachmachen

Rudolf Segeletz hat 1978 das Sophie- Scholl-Gymnasium übernommen, um daraus sowie aus den angrenzenden Schulen eine Gesamtschule zu formen. »Wir waren gestandene Pädagogen, keine Greenhorns, die alles anders machen wollten und Eltern wie Kinder verunsicherten. Wir haben ihr Vertrauen gewonnen, weil wir feste Klassenverbände anstrebten, Stammräume und Klassenlehrer.« Die Schulen im Osten, zu denen bis nach Minsk Kontakte gepflegt werden, sollten jedoch bloß nicht alles nachmachen. »Da ist eine Chance, durch räumliche Nöte den Ganztagsbereich nicht derart heilig zu handhaben wie hier: Unterricht und Entspannung können da nicht parallel laufen; eine Teilung in vor- und nachmittags ist nötig. Das ist gut für die Effektivität des Lernens.«

Daß man im Neubundesgebiet von einer besonderen Beteiligung von Eltern am Gesamtschulalltag ausgeht, verwundert den Pädagogen. »Die Rechte der Eltern sind im Westberliner Schulverfassungsgesetz genau festgelegt. Da macht unser Schultyp keine Ausnahme. Man kann sicher davon ausgehen, daß engagierte Eltern, die ihre begabten Kinder aus politischer Motivation auf unsere Schule schicken, sich auch besonders um die Belange der Schule kümmern.« Agitation und Aktion aber hätten nach Meinung der Lehrerschaft draußen zu bleiben, sagt Segeletz. Umfassende politische Information und Meinungsbildung ja, aber dann bitte innerhalb eines schulischen Zusammenhangs. Daß es ebenso Eltern gibt, die ihre Kinder anmelden, weil sie sie bis in den Nachmittag hinein versorgt wissen, die Gesamtschule also eher als Abstellgleis betrachten, erwähnt der Direktor auch.

Was ist nun das positive an der Scholl-Schule? Mit den Wahlpflichtfächern, von denen in der 7. Klasse eines und in der 9. ein zweites genommen werden muß, wird die musische Bildung gefördert. In sieben Wochenstunden kann zum Beispiel ein Instrument erlernt werden. Wer will, kann beim Abitur drei Fremdsprachen zusammenstellen; neben dem obligatorischen Englisch werden Französisch, Latein, Russisch, Japanisch angeboten. Auch gymnasialempfohlene Schüler entdecken im Fach Arbeitslehre ihre Lust am Praktischen. Ein Zauberwort heißt FEGA, die Formel für leistungsdifferenzierten Unterricht: F für Fortgeschrittene, E für Erweiterung, G für Grundkurs, A für Anschluß. Im allgemeinen gibt es zwei Niveaus: EF und GA, dazu F-Gruppen für die Supermänner, wie die Schüler sagen, und A-Gruppen für die Nachholer. Unterrichtet wird nach den verbindlichen Rahmenplänen. Im oberen Level nach gymnasialen, im unteren nach hauptschulischen. Bis Mitte der 9. Klasse kann jeder im Niveau auf- und absteigen.

Direktor Rudolf Segeletz betont die Normalität an seiner Schule. Hier gebe es keine ausgeflippten Unterrichtsformen, sondern das in Westschulen angestrebte offene Gespräch. Der da vorn bleibe Autorität, effektive Gruppen- und Einzelarbeit werde trainiert. Gesamtschule heißt bei Sophie Scholl, daß die Lernbedürfnisse der Kinder berücksichtigt würden.

Konzept bietet Lehrstoff für mehrere Jahre

Zwei alte Backsteinschulen gegenüber dem Potsdamer Holländischen Viertel werden ab September eine Gesamtschule bilden. Noch heißen sie »Nadeshda Krupskaja« und »A.K. Makarenko«, bzw. 5. und 24. Oberschule. Ein Jahr lang rangen die Lehrer beider Kollegien mit den Eltern und Kindern um ein neues Konzept. Der Weg von einer Bieten-diktieren- abfragen-Mentalität in eine partnerschaftliche dürfte Lehrstoff für mehrere Jahre sein.

Leistungsdifferenzierter Unterricht wird bereits in Mathematik der 7. Klasse geprobt. Der hohe Raum sieht aus wie eh, die Bänke und Stühle stehen in Reihen; es geht um den Satz des Thales. Die Pädagogikabsolventin Anke Debertshäuser (23) unterrichtet 14 Schüler mit oberem Niveau. Nach der Stofferarbeitung ist Gruppe angesagt. Noch ist alles ungewohnt. Ein Import an dieser Schule ist Direktor Friedemann Laabsch (39), Deutsch- und Kunsterziehungslehrer. An seiner alten POS galt er als Exot. »Wen haben wir denn mit Frontalunterricht erreicht? Zwei von zwanzig. Der Lehrplan ließ doch kaum Differenzierungen zu. Also begann ich 1988, in Deutsch mit Kleingruppen zu arbeiten; die Fachberater folgten auf dem Fuße. Offene Unterrichtsformen waren und sind die Kinder nicht gewohnt. Wenn vier zusammensitzen, wollen sie natürlich erst mal schwatzen. Jeden auf seinem Niveau anzusprechen, daß da auch etwas rauskommt, das ist eine Trainingssache für Lehrer und Schüler.« Gerade rechtzeitig kam auch für Lehrer Laabsch die Wende und das Neue Forum, er tat sich im Herbst 89 mit Lehrern, Eltern, Schülern in der AG Schule und Gesellschaft zusammen. »Wir analysierten die DDR- Bildungssituation auf der Suche nach demokratischen Schulmethoden. Die Idee Gesamtschule erschien uns als die geeignete Form. Ich zog durch Schulen und redete von unseren Vorstellungen.«

Aus dieser Popularität heraus ist die dringliche Bitte vom Elternrat der 5. Oberschule zu verstehen, sich um den Direktorenposten zu bewerben. »Wir hatten Angst, daß nach der abgedankten untragbaren Direktorin keine wirkliche Alternative zustande kommt«, erklärt Eva Rohde, Elternsprecherin. Sie hat Tochter und Sohn an der 5. Schule. Die Kristallographin ist derzeit der Kinder wegen Hausfrau und engagiert sich für die Gesamtschule. Sie sieht sich nicht als Kontrolle der Lehrer, sondern strebt eine Partnerschaft an, »weil wir Erwachsene etwas Neues für unsere Kinder wollen«. Rohde und Laabsch gestehen den Lehrern Zeit zu, vom Frontalunterricht zu effektiveren Formen zu gelangen.

Als »echt demokratisch« beschreibt der Jungdirektor den Vorzug der Gesamtschule: Jedes Kind kann sich aussuchen, ob es sich lieber praxis-, sprach- oder naturwissenschaftlich orientiert. Anregungen zum Aufbau der Schule in der Potsdamer Straße der Jugend holt sich Laabsch in Nordrhein-Westfalen. Gesamtschulen, die er in West-Berlin kennengelernt hat, schreckten ihn als zu groß und unpersönlich ab. Daß aus »Krupskaja« und »Makarenko« eine Gesamtschule wächst, hängt damit zusammen, daß eine Schule alleine zu klein wäre für das Projekt: Es müssen ausreichend Schüler dasein, um ausreichend unterschiedliche Angebote machen zu können. Dreizügig wird es bei Laabsch werden, 800 Schüler lernen dann in Klasse 1 bis 13. (Zum Vergleich: die Sophie-Scholl-Oberschule hat 1.100 in Klasse 7 bis 13.)

Schwerpunkt auf ökologischem Bauen

Die 5-plus-24-Gesamtschule wird sich nach den Vorstellungen des Direktors der 5. Schule von anderen unterscheiden durch ihre Berufsorientierung. Im alten Schulgemäuer nahe dem Holländer Viertel soll der Arbeitslehre-Schwerpunkt auf ökologischem Bauen liegen. »Das ehemalige polytechnische Zentrum nahebei hatte sich zum Bau-Stadtsanierung e.V. umgebildet und suchte für seine Stukkateur-Ausbildung einen Raum in unserer Schule.« Das brachte den Kunsterzieher Friedemann Laabsch auf die Idee, die Maurer-, Tischler- Elektrikermeister in den Schulalltag einzubinden. »Ein höchstwahrscheinlich genehmigter Schulversuch zur ökologischen Verbraucherhaltung, an dem neben unserer Schule eine aus Düsseldorf, Duisburg und Leuna beteiligt sein werden, gäbe uns die finanziellen Voraussetzungen, das Dach von Schülern der 7. bis 13. Klasse unter Anleitung ausbauen zu lassen.« Und nun gerät der Herr Laabsch ins Träumen. Ökologie solle umfassend in den Schulablauf Einzug halten, indem etwa in Mathematik berechnet wird, wieviel Material nötig wäre, oder im Leistungskurs Kunst Architekturstile behandelt würden... Gebaut werde natürlich mit Holz und Klinkern, wärmedämmend und wiederverwendbar. Wenn nach etwa vier Jahren das Dachatelier stehe, seien die anderen Gebäude dran. Laabsch denkt sogar daran, daß Schüler sich mit ihren Fertigkeiten im Holländer Viertel probierten. Laura Lorenz