Eine hundertfünfundzwanzigstel Sekunde

„Bilder aus der realen Welt“: Der amerikanische Fotograf Garry Winogrand (1928-1984) im Folkwang-Museum, Essen  ■ von Rainer Komers

In Winogrands Schwarzweißfotografie begegnet man vor allem anonymen Stadtmenschen, Amerikanern, die er mit seiner Leica da aufgesucht hat, wo sie sich öffentlich zeigen: auf Straßen, Plätzen, Schiffen, im Auto, Footballstadion, Zoo, bei Pressekonferenzen, Wohltätigkeitsbällen, Rodeos. Aber am meisten auf der Straße, wo die Begegnung am flüchtigsten ist. Als er bei einer Diashow einmal von einem der Betrachter ironisch gefragt wurde: „Mr. Winogrand, wie lange haben Sie denn für dieses Foto gebraucht?“, soll er geantwortet haben: „Ich glaube, eine hundertfünfundzwanzigstel Sekunde.“

Winogrand, Sohn einer jüdischen Arbeiterfamilie aus der Bronx, war ein Besessener. Allein in den letzten fünf Jahren vor seinem Tod hat er 11.000 Filme belichtet, durchschnittlich sechs pro Tag. Von Freunden ließ er sich zum Schluß mit dem Auto durch die Straßen von Los Angeles fahren und fotografierte vom Beifahrersitz aus die vorbeigleitende Stadt. Sein Nachlaß mit Tausenden von unausgewerteten, ja sogar unentwickelten Filmen stellt jeden Interpreten vor eine unlösbare Aufgabe. Wurde Winogrand am Ende von seiner eigenen „Schnappschuß“-Ideologie paralysiert, die sich in dem von ihm überlieferten Satz zusammenfassen läßt: „There is no special way that a photograph should look“?

Begonnen hatte er nach einem abgebrochenen Malereistudium als Autodidakt und Freelancer bei Pix, später bei Brackman, bei Bildagenturen, die Illustrierte wie das stilbildende 'Life-Magazine‘ belieferten, bevor das Fernsehen sie vom Markt verdrängte. In dieser letzten Blütezeit des Bildjournalismus vollzog sich eine ästhetische Revolution, die die Fotografie wegführte vom gut ausgeleuchteten, durchkomponierten, handwerklich perfekten Einzelbild hin zur spontan-beweglichen „Live“-Kamera, mit der man unbekümmert wie ein Amateur überall und bei jedem Licht, selbst nachts und in geschlossenen Räumen arbeiten konnte. „Authentizität“ hieß die Losung der Erneuerer, mit der sie Unschärfen, unausgewogene Grauskalen und grobes Korn entschuldigten. Wichtiger als schöne Spitzlichter und durchgezeichnete Tiefen war für sie eine Emotionalisierung der Fotografie, die persönliche Handschrift. Man wollte das Leben überrumpeln.

Es begann die Zeit der ethnographischen Reisefotografie, aber die Reise führte nicht in exotische Länder zu exotischen Kulturen, sondern durch die eigene, vertraute und doch unbekannte Zivilisation. Wegweisend für diesen Fokus der Fremdheit wurde Robert Franks Bildband Die Amerikaner, der bei seinem Erscheinen 1956 durch die ungeschminkte, „unpatriotische“ Schilderung des amerikanischen Alltags Proteststürme hervorrief und der auch den jungen Winogrand beeinflußte. Ausgestattet mit großzügigen Guggenheim-Stipendien machte er sich wie jener auf den Weg, um ein Panorama des „american way of life“ zu entwerfen. Das Bild vom Durchschnittsamerikaner mit seinen Mythen und Macken wurde jedoch gegen Ende dieses Weges von einem zunehmend pessimistischen, an Becketts absurdes Panoptikum erinnernden Menschenbild abgelöst.

In Konsequenz einer das Individuum und die soziale Landschaft nivellierenden Konsumgesellschaft, die in den USA am ausgeprägtesten ist, benutzte Winogrand das Weitwinkelobjektiv, das den Einzelnen in seinem Kontext beschreibt, das Prosa- und Prozeßhafte gegenüber dem Statischen und Dramatischen betont und das, analog zu Frank, unsere Sehgewohnheiten aus dem Lot bringt. Dynamisiert wird diese „optische Planierraupe“ bei Winogrand häufig durch eine Schrägstellung der Kamera, die dem Betrachter seiner Fotos das Gefühl vermittelt, mit einem Flugzeug in Augenhöhe durch die Straßen von New York , Dallas oder Los Angeles zu kurven. Diese atemberaubende Perspektive bleibt jedoch frei von Manierismen und steht immer im Dienst menschlicher Leidenschaften, die den Bildjäger Winogrand und die Kommunikation mit den Subjekten seiner visuellen Begierde bestimmen.

Wer war dieser Winogrand? Manches von seinen privaten Krisen verrät der gut gemachte Katalog mit dem Essay von John Szarkowski. Und manches an Winogrands Arbeit ist zeitbedingt, ist Dokument über seine Zeit; z.B. seine Haltung zu den Geschlechtern, die sich, zumindest was die Sujetwahl betrifft, patriarchalischen Normen beugt: Die Männer seiner Hauptschaffensphase sind He-men, erfolgreiche und starke Boxer, Politiker, Baseballspieler, Astronauten, Showstars etc. (die natürlich auch mal verlieren können), während er seine Frauenbildnisse auf die Darstellung von Sex-Appeal und Mutterschaft reduziert. Bei einer solchen Sichtweise ist klar, daß die „neuen sozialen Bewegungen“ kein Thema waren für Winogrand, genausowenig wie ethnische und soziale Minderheiten, sofern sie als Looser jenseits der Zweidrittelmehrheit existieren. Sein Spätwerk bezeugt dennoch die innere Zerrissenheit, in die ihn der Fortgang der Geschichte und der Verfall seines „amerikanischen Traums“ getrieben haben. Zuletzt wirkt der „Meister der Straße“ ein wenig wie ein intellektueller Bogart, der in seinem zu groß gewordenen Anzug ziellos durch den Asphaltdschungel irrt.

Die Ausstellung, die in ihrer thematisch-didaktischen Gliederung und ihrem klugen Design vom Museum of Modern Art in New York übernommen wurde, ist noch bis zum 30. Juni geöffnet; einzige Station in Deutschland ist das Museum Folkwang, Essen.