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■ Kritische Justiz: Andreas Zielke/Herbert Jäger/Rolf Knieper/Wolfgang Müller/Manfred Grigo/Clea Laage

A N J A S E E L I G E R Gehören sie in den Knast? Und wenn ja, wie kriegt man sie rein? Man braucht dieser Tage nur ein klitzekleines Wörtchen, wie zum Beispiel — Mielke — fallen zu lassen, und schon kommt Schwung in die lahmste Party. Auch die Kritische Justiz widmet sich diesem Thema mit einer Diskussion unter dem trockenen Titel: Amnestie für in der DDR begangene Straftaten?

Herbert Jäger lehnt dies für die verantwortliche Politikerkaste rigoros ab: »Das vorrangige Ziel einer Kriminalpolitik gegenüber krimineller Politik scheint mir zu sein, der neutralisierenden Vorstellung entgegenzuwirken, es handele sich bei staatlich ausgelöster Gewaltkriminalität um einen im wesentlichen wertfreien Vorgang, der ausschließlich unter dem Gesichtspunkt kollektiver Interessendurchsetzung und Zweckkriminalität zu beurteilen ist und auf den rechtliche und moralische Maßstäbe nicht anwendbar sind.«

Strafrechtliche Urteile hängen in einem Rechtsstaat von der Schuld des Täters ab. Schuld setzt voraus, daß der Täter sich bewußt ist, Unrecht getan zu haben. Unrechtsbewußtsein bei einem Politiker? Da müßte man sie wohl erst neu erfinden. Die Vollmundigkeit, mit der Politiker Verbrechen gegen die Menschlichkeit anprangern, korrespondiert hundertprozentig mit ihrer Überzeugung, daß Staatsmänner kein kriminelles Unrecht begehen können. Kein Unrechtsbewußtsein, egal ob sie als Nazis Massenmorde mitzuverantworten haben, als bundesdeutsche Politiker in irgendwelche Bestechungsskandale verwickelt sind oder als DDR-Staatsratsvorsitzende freies Schußfeld an ihrer Grenze fordern. Ein Staatsmann kann mit dem rauchenden Revolver in der einen Hand, der Brieftasche des Opfers in der anderen und Goldzähnen in seiner Brusttasche über die ausgeplünderte, zahnlose Leiche des Opfers gebeugt erwischt werden, und er wird immer noch beteuern: alles nur zum Wohl des Volkes. Moralisch mag ich mich schuldig gemacht haben, aber rechtlich? Niemals.

Es tröstet wenig, daß diese Haltung international ist. Die strafrechtliche Verurteilung einer Regierung würde — zumindest in Deutschland – ein für allemal mit der Vorstellung aufräumen, ein gewöhnliches Verbrechen eines Staatsoberhauptes sei irgendwie weniger kriminell, als das seines Untertans. Die Nürnberger Prozesse haben dazu wenig getaugt.

Andreas Zielke zählt in seinem Beitrag in der Kritischen Justiz eine eindrucksvolle Liste krimineller Regierungen quer über den Erdball verteilt auf und kommt zu der bitteren Erkenntnis: »Ob in Ostdeutschland, in Polen, Rumänien oder den übrigen Ländern Osteuropas oder ob in Chile, Brasilien, Guatemala oder auch Südkorea, überall dürfen die meisten Mitarbeiter und Stützen der Unterdrückungsregimes darauf bauen, daß man sie für ihre Beteiligung an politischen Verbrechen und Gewaltherrschaft strafrechtlich nicht zur Verantwortung zieht.«

Amnestie für in der DDR begangene Straftaten? Zielke bejaht die Frage und begründet sie, von dem Ergebnis seiner Überlegungen sichtlich angewidert, mit der Feststellung, daß die Bestrafung politischer Verbrecher nicht den Schutz der Menschenrechte bewirkt, sondern das Gegenteil: »Alles in allem kommt die neue Justiz nicht umhin, bei der strafrechtlichen Bewältigung der Tyrannei eine klägliche Rolle zu spielen. Indirekt wertet sie damit die Diktatur, zu deren Verurteilung sie antritt, im nachhinein noch einmal auf.«

Grundlage einer rechtsstaatlichen Verurteilung, argumentiert Zielke, ist die individuelle Schuld, die auf der Unterstellung basiert, daß der Mensch autonom und frei in seinem Willen ist, sich für das Recht oder das Unrecht zu entscheiden. Das in einem Rechtsstaat dem Einzelnen gewährte Maß an unabhängiger Lebensgestaltung reicht in der Regel hin, diese Unterstellung zu rechtfertigen. In einem Unterdrückungsstaat mit seinem dichten Gewebe staatlicher Bedrohung und alltäglicher hoheitlicher Gewalt sei die Suche nach der individuellen Schuld von Tätern aber zwecklos: »Ein Unterdrückungsstaat ist deshalb immer auch eine rechtliche Katastrophe. Wo Rechtsbewußtsein hoheitlich außer Kraft gesetzt, Personen entpersonalisiert und Orientierungen an den verordneten Leitbildern selbst zum Verbrechen werden, ist der Vorwurf einer individuellen Tat ebenso gültig wie nicht justitiabel.« Um Urteile fällen zu können, löst die Justiz den kollektiven Gewaltzusammenhang auf in konkrete einzelne Taten, auf die sie allein zugeschnitten ist. Damit wird sie jedoch dem großen Gesamtverbrechen in keinster Weise gerecht. Zielkes Fazit: »So moralwidrig eine Amnestie auch erscheint und so unverdient sie den Beteiligten an der Gewaltherrschaft auch in den Schoß fällt, so könnte sie darum in vielen Fällen die ehrlichere Lösung für den Rechtsstaat darstellen.«

Daß Zielke mit seiner Beurteilung richtig liegen könnte, schwant einem, wenn man sich die lächerliche Verurteilung Tischs wegen der Veruntreuung von ein paar Mark zugunsten seiner Urlaubskasse vor Augen führt. Und die Anklage gegen die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrats wegen Anstiftung zum Totschlag hat alle Chancen, mit einem Freispruch zu enden:

Anklagen wegen Mord »gegen die schießenden Soldaten« selbst oder ihre militärischen Vorgesetzten dürften, wenn sie überhaupt erhoben sind, im Sand verlaufen. Abgesehen davon hatte die Volkskammer seinerzeit das entsprechende Grenzschutzgesetz einstimmig beschlossen«, meint Andreas Zielke zu einem Zeitpunkt, als die Anklage gegen Honecker noch auf Mord lautete — begangen als Täter. Inzwischen hat das Landgericht Berlin den Haftbefehl abgeändert auf Anstiftung zum Totschlag. Trifft Zielkes Prognose zu, dann werden nicht nur die Grenzsoldaten, sondern auch das ehemalige Staatsoberhaupt und sein Verteidigungsrat freigesprochen. Denn die Verurteilung wegen Anstiftung setzt eine rechtswidrig begangene Haupttat voraus. Haben die Grenzer rechtmäßig geschossen, gibt es keine rechtswidrige Haupttat und damit auch keine Anstiftung.

Freispruch für Honecker. Trotzdem sollte er vorsichtshalber in der Sowjetunion bleiben. Manchmal schlägt das Unheil in Form einer fragwürdigen Spesenabrechnung zu.

Nach §27 DDR-StGB durften die Grenzsoldaten allerdings nur schießen, um ein Verbrechen zu verhindern. Der illegale Grenzübertritt war jedoch nur in einem schweren Fall ein Verbrechen. Ein schwerer Fall lag gemäß §213 Absatz II DDR- StGB unter anderem dann vor, wenn »die Tat mit besonderer Intensität durchgeführt« oder »zusammen mit anderen begangen« wurde. Liegt die erste Alternative vor, hat die Justiz einen gewissen Spielraum. An das Gesetz muß sie sich zwar halten, aber nicht an die Auslegung durch die DDR-Gerichte. Sie kann das Tatbestandsmerkmal »besondere Intensität« so eng interpretieren, daß nichts mehr davon übrig bleibt. Wenn dann kein anderer Erschwerungsgrund nach 213 II dazukommt, war der illegale Grenzübertritt kein schwerer, sondern nur ein normaler Fall nach §213 I, und der war wiederum nur ein Vergehen, kein Verbrechen, was das Schießen rechtswidrig macht. Der Grenzsoldat müßte sich wegen Totschlags verantworten, und damit bestünde die Möglichkeit, daß die Mitglieder des nationalen Sicherheitsrates wegen Anstiftung zum Totschlag verurteilt werden könnten.

Doch wehe, wenn der Flüchtende nicht allein war. Das Tatbestandsmerkmal »zusammen mit anderen« ist eindeutig. Dann war der illegale Grenzübertritt ein schwerer Fall und das Schießen gerechtfertigt. Der Grenzsoldat würde freigesprochen, und da keine rechtswidrige Haupttat vorliegt, ist es in diesem auch Fall mit der Anstiftung nichts. Das Opfer muß sich im nachhinein sagen lassen, es sei rechtmäßig erschossen worden.

Solche Ungereimtheiten ließen sich vermeiden, erklärten die Gerichte den §213 DDR-StGB für nicht anwendbar. Grundsätzlich gilt jedoch: Ein Täter wird nach dem Gesetz bestraft, das zur Tatzeit galt. Gustav Radbruch hat nach 1945 eine Lehre entwickelt, wonach positives, d.h. geschriebenes Gesetz nur dann gilt, wenn es übergesetzlichem Recht entspricht. Clea Laage hat die Radbruchsche Lehre und ihre Anwendung in der Nachkriegszeit in der Kritischen Justiz 1989 ausführlich beschrieben. Nach Radbruch ist ein Gesetz, daß in einem bestimmten Maße ungerecht ist, »gesetzliches Unrecht ohne Geltung«. Im Konfliktfall habe der Mensch die Plicht, dem gesetzlichen Unrecht den Gehorsam zu verweigern. Befolgt er es, ist sein Handeln rechtswidrig. Nur — wann ist ein Gesetz ungerecht? Radbruch hat zur Abgrenzung vier Formeln aufgestellt:

1. Grundsätzlich besteht eine Vermutung für die Geltung auch des ungerechten und unzweckmäßigen Gesetzes. Gesetzliches Unrecht sei in jedem Rechtssystem die Ausnahme und liege erst vor, wenn »der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat«.

2. »Wo die Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist Gesetz nicht etwa nur unrichtiges Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren, denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.«

3. Wenn ein Gesetz die Menschen als Untermenschen behandelt und ihnen die Menschenrechte versagt.

4. Wenn Gesetze die Menschen zu Objekten staatlichen Handelns degradieren, also bei all »jenen Strafandrohungen, die ohne Rücksicht auf die unterschiedliche Schwere der Verbrechen, nur geleitet von momentanen Abschreckungsbedürfnissen, Straftaten verschiedener Schwere mit der gleichen Strafe, häufig mit der Todesstrafe, bedrohten.

Der BGH (BGHSt2, 234 von 1952) und das Bundesverfassungsgericht (BVerfGe 3, 225 von 1953) haben sich fast wörtlich zu Radbruchs Verleugnungsthese bekannt. Doch, so Clea Laage, »im Gegensatz zu diesen Bekenntnissen entwickelten Rechtslehre und Rechtsprechung ab Mitte 1947 in der täglichen Praxis ... eine Reihe von Prüfungskriterien, die der Verleugnungs- und der Unerträglichkeitsthese diametral entgegenstehen.« Heute wird der Lehre vom übergesetzlichen Recht kaum eine Chance gegeben, obwohl die diversen Menschenrechtserklärungen eine viel präzisere Abgrenzung zwischen gesetzlichem Unrecht und übergesetzlichem Recht zuließen.

Begründet wird die Nichtanwenbarkeit »übergesetzlichen Rechts« mit dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 II GG. Ein Vorwurf, der auch schon gegen das Kontrollratsgesetz Nr. 10 erhoben wurde. Zu diesem Vorwurf sei eine Entscheidung des OGH aus dem Jahre 1950 (OGHSt 2, 380) zitiert: »Das Rückwirkungsverbot gehört aber zu den Rechtsgrundsätzen, die dem Staatsabsolutismus im Kampf für die Menschen- und Bürgerrechte abgerungen worden sind, um den Bürger gegen Staatswillkür zu schützen. Daher empfängt es seinen Sinn. Es hieße aber diesen Sinn ins Gegenteil zu verkehren, wenn das Rückwirkungsverbot dazu dienen sollte, die gerechte Sühne für solche Verbrechen zu vereiteln, die gerade in der Betätigung schrankenloser Staatswillkür bestanden.«

Die Römische Konvention von 1950 zum Schutz der Menschenrechte sicherte in Art. 7 das Rückwirkungsverbot als Menschenrechte. Im 2. Absatz folgt jedoch eine Einschränkung, die gewährleistet, daß der Art. 7 der Verwirklichung der Menschenrechte und nicht der Behinderung von Recht dient. Die Bundesregierung übernahm die Konvention ohne den Absatz 2. Die Gerichte hätten sonst den neugeschaffenen Völkermordparagraphen 220a StGB (Völkermord) noch gegen die alten Nazis anwenden müssen. Das hätte man diesen nicht antun können, wo sie doch gerade den Klauen des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 entkommen waren.

Zurück in die Gegenwart und zu Zielkes Befürchtung, staatliche Verbrecher würden meist nur peripherer Untaten angeklagt, dem großen Gesamtverbrechen würden Strafurteile dagegen in keinster Weise gerecht. Die Anklagen gegen die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates, wegen Anstiftung zum Todschlag, geben ihm recht. Anstifter fördern fremdes Unrecht. Dies besagt, daß die Mitglieder des NV kein Unrecht begingen, sondern nur das Unrecht der Grenzsoldaten förderten. In den Prozessen gegen NS-Verbrecher lief es umgekehrt. Es gab vier Täter und ein Volk von Gehilfen. Für diese Beurteilung der Gerichte war es allerdings von unschätzbarem Vorteil, daß einige Täter tot waren und damit keine Beweisschwierigkeiten mehr machten. Lebend wäre Hitler möglicherweise damit durchgekommen, daß er kein Unrechtsbewußtsein hatte. Zielke: »Strafverfahren befinden über abzählbare Angeklagte, nicht über die vernetzte Straffälligkeit ganzer Bevölkerungen. Die Nicht-Anklage gegen die Mehrheit der Mittäter, Mitläufer, Dulder und parasitären Zuschauer, die allesamt ein Unterdrückungssystem erst möglich gemacht haben, bedeutet aber Willkür oder impliziten Freispruch der Massenvereinigung.«

In einem dritten Diskussionsbeitrag erinnert Rolf Knieper an die Aufgabe der Rechts- und Machtkritik: »Sie erinnert Geschichte, um Tendenzen der Gegenwart und Gefahren der Zukunft abzuwehren, die von (noch) Mächtigen ausgegehen. Ich bin mir nicht sicher, ob es dazu gehört, den unwiderruflich Gefallenen — wie den Prinzen des SED-Regimes — noch hinterherzutreten. Es ginge um die Barone, die sich gerade demokratisch aus- und einrichten.« Fragt sich nur, was es nützt, an die Geschichte zu erinnern, wenn staatliche Verbrecher aus dieser Geschichte immer wieder lernen, daß sie ohne Strafe wegkommen. Daß Geschichtserinnerung ohne Konsequenzen für Politiker und Öffentlichkeit nicht viel wert ist, zeigt sich ziemlich drastisch an der Forderung Schäubles, Polizisten, die als verdeckte Ermittlungsbeamte arbeiteten, müßte die Begehung von Straftaten erlaubt sein, wenn das ihre Arbeit erfordere. Kein Aufschrei in der Presse, nichts.

Zum Schluß noch die zwei beliebtesten Argumente für eine Amnestie in der DDR begangener Straftaten von Wolfgang Müller/Manfred Gigo: Die Beschuldigten Personen seien zumeist ältere, gebrechliche Personen, deren Inhaftierung inhuman wäre. Diese Ansicht wird mir ewig rätselhaft bleiben. Wieso ist es humaner, einen jungen Menschen einzusperren? Weiter sagen Müller/Gigo, die Bestrafung wäre nur eine abstrakte Vergeltung. Das ist ein perfides Argument, das unterstellt, mit einer Bestrafung würde den Rachegelüsten der Opfer nachgegeben, denn eigentlich hätte das Strafen ja gar keinen Sinn.

Man kann sich lang und breit über den Sinn oder Unsinn von Strafen auslassen, aber wieso — und da treffen sich erstaunlicherweise Rechte und Linke — muß diese Diskussion ausgerechnet bei staatlichen Kriminellen angezettelt werden? Warum nicht bei der Oma, die vor Gericht gezerrt und bestraft wird, weil sie einen Plastiksticker aus einem Blumentopf genommen hat? Die Opfer haben einen Anspruch darauf, daß ihre Täter keine steilen Karrieren machen. Und doch, wie stehen sie da, wenn die Täter freigesprochen werden? Also, was nun? Amnestie für in der DDR begangene Straftaten?

Andreas Zielke: Gnade vor Recht? Kritische Justiz 1990, Seite 460

Herbert Jäger: Amnestie für staatliche Verbrechen? Kritische Justiz 1990, Seite 467

Rolf Knieper: Prinzen — Barone — Untertanen, Kritische Justiz 1990, Seite 474

Wolfgang Müller / Manfred Grigo: Amnestie oder Strafverfolgung? Kritische Justiz 1991, Heft 1, Seite 88

Clea Laage: Die Auseinandersetzung um den Begriff des gesetzlichen Unrechts nach 1945, Kritische Justiz 1989, Seite 409