Heimnachteil

■ Das Spiel in den eigenen vier Fußball-Wänden und vor eigenem Publikum bringt keine Vorteile mehr Überraschende Analyse der Bundesliga zur Aufmunterung der Uerdinger Kicker vor dem Bayern-Spiel

Berlin (taz) — Das waren noch Zeiten, als man zum heimischen Stadion hinausziehen konnte, um die eigene Mannschaft siegen zu sehen. Brav wurden die dort anreisenden Teams, ansonsten bärenstarke Mannschaften, zu Kanonenfutter. Schon in knapp dreieinhalb Kilometern Entfernung vom eigenen Stadion begannen sich, einem geheimnisvollen Gesetz folgend, ihre weitpassenden Mittelfeldgiganten in ängstlich Rückpässe kickende Zwerge zu verwandeln. Die Aussicht, auswärts zu spielen, machte aus ihren wuchtigen Angreifern hasenfüßige Leichtgewichte, die sich hinter dem breiten Rücken ihrer Gegenspieler versteckten, während die Torhüter mit dem Ball von einer Ecke des Strafraums zur anderen dribbelten, um Zeit zu schinden.

Das war ein Spaß, wenn sie dann doch irgendwann die verdienten Tore kassierten und sich schließlich voller Demut in die erwartete Niederlage ergaben. Danach hieß es wieder, 14 Tage warten, während derer die geliebten Helden fern der Heimat zu stümpernden Verlierern mutierten, und dann gings wieder zum Heimspiel hinaus. Natürlich gab es gelegentliche Unentschieden und manchmal gar bittere Niederlagen, aber sie waren doch selten genug, um richtig ins Gewicht zu fallen. Psychologen, Anthropologen und andere Spezialisten erklärten das Phänomen mit dem Blick aufs Tierreich, sprachen von Revierverhalten und der Volksmund schlicht vom Heimvorteil. Damals war die Welt noch in Ordnung und in der Spielzeit 1976/77 ganz besonders. Da war es für die Heimmannschaften nämlich rekordleicht. In insgesamt 326 Begegnungen konnten die Gäste nur 54 Siege und 60 Unentschieden erringen. 202 Heimsiege standen dem gegenüber, davon fielen sogar für den damaligen Viertletzten Werder Bremen noch zwölf ab. Nur die drei Mannschaften mit negativer Heimbilanz wurden in jenem Jahr verdient in die 2. Liga abkommandiert.

Überhaupt gab es in 27 Bundesligajahren nie gleichzeitig mehr als drei Mannschaften, die am Ende einer Spielzeit ein negatives Heim- Punktekonto aufwiesen. In den Swinging Sixties war die Angst vorm Auswärtsspiel noch nicht zur Psychose geworden, einmal hatte es sogar 70 Auswärtssiege gegeben (66/67), aber dann ging die Angst um. Bald hatte sich die Zahl der doppelten Punktgewinne auf des Gegners Platz auf im Schnitt 60 heruntergependelt, während die Zahl der Unentschieden sich in engerer Sichtweite der 80 bewegte. Und so schien es immer weiterzugehen: Heimspiele machten sogar schwächliche Abstiegskandidaten bei den Gastspielen der Meisterschaftsaspiranten zu Favoriten. Die 1 auf dem Toto- Zettel war meistens die beste Wahl.

Dann aber, schleichend und doch unübersehbar begannen die Auswärtsteams aufzubegehren. Schon vor zwei Spielzeiten pirschten sie sich mit 94 Unentschieden an und wiederholten den Coup in der letzten Saison mit dreisten 90 Remis. Die richtige Revolution aber fand erst in dieser Saison statt. Immer öfter schlichen die Fans von Niederlagen geknickt aus den heimischen Arenen und sehnten vergangene Zeiten herbei. Offensiv spielten die Auswärtsteams auf, mauerten sich nicht mehr angstvoll ein, sondern suchten rotzfrech die Siegchance.

Schon einen Spieltag vor Saisonende kann von einem Heimvorteil keine Rede mehr sein. Nur 129 Heimsiegen steht ein doppelter Rekord von 104 Unentschieden und 74 Auswärtssiegen gegenüber. Am letzten Wochenende, am vorletzten Spieltag löste er sich ganz auf. Da gewann nur noch eine Mannschaft zu Hause, während fünf im eigenen Stadion sogar verloren. Und fünf Mannschaften, das steht schon jetzt fest, werden die Saison mit einer negativen Heimbilanz beenden. Borussia Dortmund holte auswärts sogar mehr Punkte als im Westfalenstadion, Bayern München gab zum ersten Mal seit 14 Jahren zehn Heimpunkte ab, und der VfL Bochum schoß 30 seiner 49 Tore auf des Gegners Platz.

Die Fans haben sich schnell darauf eingestellt und reisen ihren Lieblingen in immer größerer Zahl zu Auswärtsspielen nach. Am letzten Spieltag werden in Köln 30.000 Anhänger der Roten Teufel erwartet, um die Meisterschaft zu feiern, etliche Tausend Stuttgarter werden zum entscheidenden Duell um den UEFA-Cup-Platz nach Frankfurt am Main drängen, und viele Fans werden auch St.Pauli und den Club in Dortmund und Wattenscheid unterstützen, wo sie durch Siege die Relegationsspiele vermeiden wollen. Bedenken sollten die Anhänger dabei nur, daß die Auswärtsspiele dadurch quasi zu Heimspielen werden, und die, das wissen wir ja jetzt, sind bekanntlich nicht mehr von Vorteil. Christoph Biermann