Vom Nachttisch geräumt: Die Nutzlosigkeit des Wissens

Eduard Meyer (1855-1930) war u.a. Autor einer direkt aus den Quellen geschöpften Geschichte des Altertums, ein Mann also, der nicht nur Latein, Griechisch, Hebräisch konnte, sondern auch altägyptisch, babylonisch usw. Es gibt und es gab keinen anderen Historiker, der über Kenntnisse dieses Umfangs verfügte. Eduard Meyer war Universalhistoriker. Die polyglotte Antike, der bunte Wirrwarr des Hellenismus war seine Welt. Ein offener Geist, eine Sucht nach universaler Verständigung, nach Weite und Freiheit. Sollte man meinen. Wer den Briefwechsel des Berliner Ordinarius mit seinem Studenten Victor Ehrenberg (1892-1976) liest, reibt sich bald die Augen. Der junge Frontsoldat Ehrenberg schreibt im Oktober 1915 dem verehrten Professor: „Wenn Deutschland, das seine Feinde als das weltherrschaftslüsterne Land des militaristischen Despotismus verschrien haben (und wahrlich mit Unrecht!), infolge der wunderbaren Erfolge seiner Heere darauf kommt, sich eine gleichsam unangreifbare Stellung durch Knechtung anderer Völker, durch Unterdrückung der Nationalitäten zu verschaffen, so ist die lügnerische Beschuldigung zur Wahrheit geworden und das bisher halb bewunderte, halb gefürchtete Land wird sich mit einem Schlage dem Hasse der gesamten Welt gegenübersehen...“ Meyer hält dagegen an seiner rücksichtslosen, gewalttätigen Politik fest: „Wir müssen unsere Grenze gegen Frankreich rücksichtslos nach unseren Bedürfnissen revidieren, wenn möglich, mit Expropriation der bisherigen Eigenthümer.“ Die beiden konnten sich nicht einigen. Denoch wurde der Briefwechsel fortgesetzt. Auch als Ehrenberg Eduard Meyer auf dessen immer deutlicher werdenden Antisemitismus hinweist, beharrt Meyer auf seinem Standpunkt, wirft Ehrenberg die rein gefühlsmäßige Reaktion eines Betroffenen vor, aber der Kontakt bleibt bestehen. Die Briefe verlieren an Substanz, werden konventioneller, auch spärlicher. Aber Ehrenberg reißt sich nicht los. Diese Korrespondenz erinnert daran, daß es nicht die Klügsten und Gebildetesten waren, die am klügsten und besten gehandelt haben.

Eduard Meyer, Victor Ehrenberg: Ein Briefwechsel 1914-1930 . Hrsg. von Gert Audring, Christhard Hoffmann und Jürgen von Ungern-Sternberg, Verlag B.G. Teubner, Stuttgart, 162 Seiten, 48 DM