ZUHAUSE DOCH FREMD
: Eine sowjetische Jüdin in Berlin

Jelena Stein saß immer zwischen allen Stühlen. In Estland aufgewachsen, russisch erzogen, die Familie jüdisch. Seit einem Jahr lebt die Dreißigjährige mit ihrer Tochter in Berlin, gehört zum ersten Mal in ihrem Leben zu einer jüdischen gemeinde. Die Ärztin hofft, daß sie nicht zur Krankenschwester umschulen muß. Ihre Geschichte, aufgezeichnet  ■ VON ANITA
KUGLER

Ich heiße Jelena Stein und bin am 2. Juni 1961 in Kochtlaj-Jarre, Estland, geboren. Trotzdem bin ich keine Estin. Ich komme aus einer rein jüdischen Familie. Meine Eltern sind in Belorussland geboren und wurden, als die Nazis kamen, von den Sowjets nach Kirgisien evakuiert. Meine beiden Großväter sind als Soldaten gegen die Deutschen im Krieg umgekommen. Nach dem Krieg wurde meine Familie in Estland angesiedelt, mit ihnen und hundertausend anderen Russen wurde so die baltische Republik russifiziert. Ich habe eine russische Schule besucht und spreche Estnisch mehr schlecht als recht. Eine richtige Russin bin ich aber auch nicht, ich weiß eigentlich nicht, was ich bin. In erster Linie vermutlich Jüdin, obwohl ich weder gläubig bin noch die jüdischen Traditionen kenne. Pessach habe ich höchstens dreimal im Familienkreis gefeiert, und in der Synagoge war ich in der Sowjetunion fast nie. Als Komsomolzin war mir das auch verboten. Es gibt in Estland keinen Antisemitismus, aber auch kein jüdisches Leben. Trotzdem habe ich mich meinem Volk immer nah gefühlt. In Estland habe ich die Hochschulreife erworben und anschließend in Leningrad Medizin studiert. Nach dem Studium arbeitete ich als Ärztin in einem Kinderkrankenhaus in Moskau. In Moskau habe ich auch geheiratet und am 13. April 1985 meine Tochter Ljuba geboren. Mein Mann ist auch Jude. Vor zwei Jahren haben wir uns scheiden lassen. Seitdem bin ich alleine für Ljuba verantwortlich.

In Moskau habe ich zum erstenmal Angst vor dem Antisemitismus bekommen. Persönlich fühlte ich mich früher nie bedroht, obwohl es jedesmal ein kleiner Schock war, wenn ich bei einer Behörde meinen Ausweis zeigen mußte und die Beamten sichtlich irritiert, die Nationalitäteneintragung „Jüdin“ lasen. Diese Passeintragung habe ich immer als Diskriminierung verstanden.

Im Mai letzten Jahres aber herrschte in Moskau eine ziemliche Aufregung unter den Juden. Die Organisation „Pamjat“ hatte für den 5. Mai eine Racheaktion angekündigt, sie sammelten Adressenlisten und bedrohten viele mit anonymen Briefen. Es war daher ein großes Glück, daß ich ausgerechnet in diesen Tagen von den Moskauer Behörden die Erlaubnis erhielt, gemeinsam mit Ljuba meine Schwester in Ostberlin zu besuchen. Sie ist hier seit vielen Jahren mit einem Deutschen verheiratet.

Es gibt Zufälle im Leben, und die entscheidende Wende in meinem Leben basierte auf so einem Zufall. In einer Berliner Straßenbahn fragte mich ein Deutscher auf russisch, ob ich Russin sei. Ich sagte, nein, ich sei Jüdin. Da war er sehr überrascht, denn dieser Deutsche war in Begleitung eines Rabbiners aus Israel. Und der erzählte mir, daß seit Mitte April schon über 200 Juden aus der Sowjetunion nach Ostberlin geflüchtet waren und daß die Jüdische Gemeinde sich beim Ministerrat dafür einsetzte, daß alle in der DDR bleiben können.

Erst da reifte in mir die Idee, in Deutschland zu bleiben. Ich war ja wirklich nur mit einem Koffer nach Berlin gekommen. Damals hatte ich noch viele Illusionen. Jeden Tag stand in den Zeitungen zu lesen, daß die ostdeutschen Ärzte in den Westen gehen und daß in den Ostberliner Krankenhäusern ein medizinischer Notstand herrsche. Ich habe ernsthaft geglaubt, daß ich, wenn ich nur wollte, eine Arbeit als Ärztin finden würde und mich selbst ernähren könnte. Nun, heute bin ich realistischer geworden.

Die Jüdische Gemeinde hat mir geholfen und ist deswegen für mich ein offenes Haus für alle Fragen und Probleme geworden. Sie hat mir als erstes einen Wohnheimplatz in einer ehemaligen Ausbildungskaserne der Stasi, außerhalb der Stadtgrenze, vermittelt. Alle Juden, die damals aus der Sowjetunion kamen, wurden in diesem Haus provisorisch untergebracht.

Es war dort etwas unheimlich mit der noch nicht abgerissenen Mauer rund um das Wohnheim und den leeren Wachtürmen. Aber es gab nichts anderes, denn der Aufenthaltsstatus der sowjetischen Juden, die mit einem Touristenvisum kamen, aber bleiben wollten, war völlig unklar. Erst Mitte Juli letzten Jahres beschloß die Regierung, daß diese Menschen Flüchtlinge waren und aus humanitären Gründen eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in der DDR erhalten sollten. Seit diesem Tag kamen viele, ungefähr 4 500, die meisten von ihnen leben in Berlin.

Nach der deutschen Einigung war unser Status wieder ungewiß. Erst im Januar beschloß die Bundesregierung, daß alle Juden aus der Sowjetunion, die nach dem 1. Juni 1990 und vor dem 15. Februar 1991 in Deutschland ankamen, sogenannte „Kontigentsflüchtlinge“ sind. Das ist eine Verbesserung, denn jetzt bekommen die Juden nicht nur Sozialhilfe, sondern haben Anspruch auf Eingliederungshilfen und Berufsumschulung. Leider falle ich nicht unter diese neue Flüchtlingsregelung, denn ich bin zwei Monate zu früh gekommen. Mein Aufenthaltsrecht ist zwar durch den alten DDR-Beschluß gesichert, aber meinen Sprachkurs zum Beispiel muß die Gemeinde bezahlen. Ich erhalte nur Sozialhilfe, im Moment für meine Tochter und mich zusammen 650 Mark. Das Geld reicht gerade so für Verpflegung und U- Bahn Fahrkarten.

In dem ersten Auffanglager lebten wir bis Mitte August. Dann konnten wir umziehen in ein ehemaliges Arbeiterwohnheim in einem Ostberliner Neubauviertel. Wir leben mit elf Personen in einer Dreiraumwohnung, das bedeutet ständig Rücksicht nehmen. Jeder kocht für sich allein, das ist ein bißchen wie in der Sowjetunion. Im ganzen Haus wohnen nur Juden aus Russland, ungefähr 250, darunter viele Kinder. Deutsch kann man so natürlich nicht lernen. Am Abend spielen unsere Kinder auf der Straße und machen viel Krach. Darüber beschweren sich die deutschen Nachbarn.

Seit vorigem Jahr besuche ich jeden Vormittag einen Deutschkurs in Westberlin. Er ist nicht sehr gut, mein Deutsch ist immer noch sehr schlecht, und ich traue mich kaum zu reden. Über jüdische Bekannte von jüdischen Bekannten, die wieder Bekannte haben, bekam ich zur gleichen Zeit auch die Möglichkeit, nchmittags in einer Entbindungsstation eines Ostberliner Krankenhaus zu hospitieren. Allerdings ohne Geld. Trotzdem ist das ein großes Glück, denn unter den Emigranten gibt es Hunderte von Ärzten, die nicht diese Chance haben. So verliere ich nicht ganz den Kontakt zu meinem Beruf.

Ich weiß, es wird sehr schwierig werden eine Stelle als Ärztin zu finden, denn weil wir nicht aus einem EG- Land kommen, akzeptiert die Ärztekammer unsere Approbation nicht. Den Gedanken aber, nicht Ärztin, sondern vielleicht nur Krankenschwester zu werden, will ich gar nicht an mich heranlassen. Ich werde, wenn ich gut deutsch kann, Ärztin und damit basta.

Meine Tochter geht, seit wir in diesen Wohnblock umgezogen sind, in einen rein deutschen Kindergarten. Sie versteht jedes Wort, beginnt aber erst jetzt zu sprechen. Deutsche Freundinnen hat sie noch nicht. Trotzdem fühlt sie sich wohl, Heimweh hat sie gottseidank nie gehabt. Ihr geht es wirklich gut, seitdem meine Mutter, Olga Welizkaja, bei uns ist. Auch sie kam als Touristin aus Estland. Sie wollte gar nicht in Deutschland bleiben. Aber als sie gesehen hat, wie schwierig es für mich war, die Kinderbetreuung, den Sprachkurs und die Hospitation unter einen Hut zu bringen, hat sie sich entschieden, hier zu bleiben und mir zu helfen. Der Entschluß ist ihr sehr schwer gefallen, denn sie war Leiterin eines großen Labors in einem chemischen Forschungsinsitut. In Estland war sie Wissenschaftlerin, hier ist sie bloß eine Babuschka von 58 Jahren. Von verheirateten jüdischen Männern werde ich oft gefragt, wie ich den Mut aufbringe, alleine in Deutschland zu bleiben. Wenn meine Mutter nicht hier wäre, würde ich mich das allerdings auch fragen. Die Ironie der Geschichte ist nur, daß meine Mutter als „Kontigentsflüchtling“ anerkannt ist, daß sie beim Sozialamt auf einer Warteliste für eine eigene Wohnung steht und ich nicht.

Trotzdem besteht auch mich für mich und Ljuba die Möglichkeit, im Sommer eine Anderthalbzimmerwohnung in Ostberlin zu beziehen. Sie ist mir von der Jüdischen Gemeinde vermittelt worden. Das Problem ist nur, daß sie völlig kaputt ist und daß sie Ofenheizung hat. In der Sowjetunion gab es nur Wohnungen mit Fernheizungen, ich weiß gar nicht, wie man so ein Ding heizt.

Der Vorteil ist, daß ich unter Deutschen leben werde und vielleicht die Sprache schneller lerne. Ljuba kommt im September in eine deutsche Schule. In der Nähe wohnt auch die einzige deutsche Familie die ich bisher besser kenne. Zu Weihnachten bekam ich ein Geschenkpaket und darin war ein Zettel mit ihrer Adresse. Ich bin hingegangen und habe mich bedankt. So habe ich sie kennengelernt. Sie sind über sechzig und haben einen Sohn, der ist neunzehn. Er will mir bei der Renovierung der Wohnung helfen.

Deutschland ist nicht das Land der Juden, aber ich bin froh, daß ich hier bin. Für Israel empfinde ich ein warmes Gefühl, ich würde gerne einmal hinfahren. Den Holocaust habe ich nicht vergessen, es ist wie eine ferne Mahnung. Aber nicht ein einziges Mal habe ich in Deutschland schlechte Erfahrungen gemacht, obwohl ich immer sage, daß ich Jüdin bin. Am meisten werfe ich heute der Sowjetunion vor, daß wir dort das jüdischen Leben nicht lernen konnten. Hier können wir das. Wir gehen oft in die Synagoge, und Ljuba freut sich die ganze Woche auf den Sabbath. Mit der Jüdischen Gemeinde haben wir Pessach gefeiert, das war sehr schön. Wir haben von der Gemeinde Bücher in russischer Sprache über die jüdischen Festtage bekommen, darin sind auch viele Rezepte. Wir haben doch bisher nie koscher gekocht. In Moskau hatte ich nie das Gefühl, beschützt zu werden, hier fühle ich mich in der Gemeinde geborgen. Sie ist meine eigentliche Heimat geworden. Für mein ganzes Leben.

Anita Kugler ist Redakteurin der taz Berlin.