Ein Leben zwischen Fleisch, Fisch und Fliegen

Haitis Marktfrauen sind eine der tragenden Säulen der Volkswirtschaft des Karibikstaates/ Nachdem Bertrand Aristide, ein engagierter Pfarrer aus einem Armenviertel, Präsident wurde, schöpfen sie wieder Hoffnung auf eine bessere Zukunft  ■ Aus Port-au-Prince Elke Krüger

Niedergeschlagen sitzt Madeleine auf dem einstigen Auslagebrett ihres Marktstandes. Bis auf eine kleine Kiste Kleidung ist ihre gesamte Ware einige Tage zuvor bei einem Brandanschlag auf ihren Markt in Flammen aufgegangen. Verlustbilanz: ca. 2.000 haitianische Dollar (gut 2.400 DM), die hart erkämpften Früchte ihrer achtjährigen Tätigkeit als Händlerin auf dem Hyppolite- Markt in Port-au-Prince. Ein Schlag gegen mehr als 2.000 Marktfrauen, die mit der „Lavalas“ („Erdrutsch“) solidarisch sind, der spontanen Massenbewegung, die Bertrand Aristide, den neuen Präsidenten des Landes, bei seinem Bemühen unterstützt, ein neues Haiti zu schaffen. Der äußerst populäre Pfarrer eines Armenviertels der Hauptstadt und Vertreter der Befreiungstheologie hatte bei den Wahlen im vergangenen Dezember über zwei Drittel aller Stimmen erhalten. Auf dem Hyppolite-Markt war der landesweite „Marathon“ angelaufen, eine Geldsammelaktion zugunsten der leeren Regierungskasse. Mit großem Erfolg. Drei Wochen lang stützten die Händlerinnen die Regierung und müssen nun selber gestützt werden.

Die sicheren Einkünfte Madeleines sind in Rauch aufgegangen: „Wie soll ich das Schulgeld für meine Kinder aufbringen, die Miete, neue Ware?“ Madeleine gehört zu den privilegierten Händlerinnen des Landes, die monatlich einige tausend Dollar in den Import von Textilien investieren und zu diesem Zweck regelmäßig nach Panama oder auf die Venezuela vorgelagerte Karibikinsel Curacao fliegen, ohne des Lesens und Schreibens mächtig zu sein. Nach dem Brandanschlag auf den Markt, bei dem Waren im Wert von mehreren hunderttausend Dollar in Flammen aufgingen, werden sich die meisten nun keine Flugtickets mehr leisten können. Zudem wurde die Marktanlage heftig in Mitleidenschaft gezogen. Einige Stände stehen zwar noch, aber die Lagerhalle brannte samt Inhalt völlig ab. Zwei mutmaßliche Brandstifter wurden verhaftet. Einer der beiden sagte aus, er habe sich in einer finanziellen Notlage befunden und sich für den Anschlag anheuern lassen. Über die Auftraggeber schwieg er sich aus. Doch für die Frauen steht fest: Es waren die politischen Gegner von „Père Titide“, wie sie in ihrer kreolischen Umgangssprache den neuen Präsidenten liebe- und respektvoll nennen.

Die spontanen Solidaritätsbekundungen der Bevölkerung mit den nunmehr mittellosen Frauen sind nicht nur auf deren hohen gesellschaftlichen Status in Haiti zurückzuführen. Die Meinung der Händlerinnen wird landesweit als Stimme des haitianischen Volkes gewertet. An den zentralen Verkaufsorten laufen Informationsfäden zusammen und auseinander. Die Journalistin Lilianne Pierre Paul von Radio Haiti Inter, 1990 für ihr couragiertes Arbeiten besonders im Bereich Menschenrechte in Washington preisgekrönt, geht jeden Morgen vor Arbeitsbeginn über den Markt, vor allem, um der Zeit den Puls zu fühlen. Lilianne ist allseits beliebt, und ihre Nachmittagssendungen werden viel gehört, gerade weil sie im Radio über das berichtet, was die Leute auf der Straße beschäftigt. „Lilianne, hast du schon berichtet, daß...?“ „Lilianne, heute nachmittag mußt du aber über... berichten!“ Für Lilianne verkörpern die Marktfrauen den Schlüssel zum Leben: Sie reflektieren die prekäre Wirtschaftssituation des Landes in all ihren Schattierungen und verfügen über ein ausgeprägtes Bewußtsein für Haitis „changement“, wie der Veränderungsprozeß des Landes genannt wird. Sie sind es, die das Geld in der Hand haben, die acht- bis zehnköpfige Familien auf Biegen und Brechen versorgen, zähneknirschend das Letzte geben, um ihren Kindern eine Schulbildung und damit den sozialen Aufstieg zu ermöglichen, dafür 12 bis 14 Stunden in Lkws oder zu Fuß ihre Ware heranschaffen, stundenlang in der Hitze hocken, um zwischen vier und zwölf Mark pro Tag zu erwirtschaften, Wasser schleppen, kochen, waschen.

Der Präsident empfängt die Marktfrauen

Eine der wichtigsten Säulen der Volkswirtschaft bilden diese Frauen, und dessen sind sich die Regierenden auch bewußt. Am 24.April wurden die Händlerinnen von Aristide, einigen seiner MinisterInnen und dem Bürgermeister der Stadt, Evans Paul, im Regierungspalast empfangen, um im Sinne von „Jistis, participazyon, transparans“ (Gerechtigkeit, Beteiligung und Transparenz) ihre Forderungen vorzutragen. Bei dieser Gelegenheit äußerten sie den Wunsch nach Senkung des Dollarkurses und vor allem nach Zollfreiheit. Die Schmiergelder, die die Zollbeamten für eingeführte Waren absahnen, sind horrend.

Auch die Frage nach der Sicherheit der Händlerinnen und der Sicherung des Marktgeländes rund um die Uhr wird diskutiert. Denn bereits Wochen vor dem Brandanschlag, berichtet Madeleine, seien Individuen mit der Drohung zwischen den Ständen herumgezogen, den Markt anzuzünden: „Wir nahmen das nicht so ernst und dachten, das seien ein paar Verrückte.“ Brandanschläge dieser Art gehörten bereits in der Vergangenheit zum festen Bestandteil des Repertoires der Duvalier-Diktatur. Mit dem Anschlag auf den Hyppolite-Markt wurde der wirtschaftliche und soziale Hauptnerv des Landes empfindlich getroffen.

Nicht alle Märkte sind so gut ausgestattet wie der teilweise überdachte Hyppolite-Markt im Stadtzentrum von Port-au-Prince. Seit langem beklagt die Marktfrauengruppe der autonomen Frauenorganisation „Solidarité Fanm Ayisyen“ (SOFA) die katastrophalen hygienischen Verhältnisse auf anderen Märkten, wie z.B. „Laboue“ („Schlamm“), der nur einige Ecken vom Hyppolite-Markt in der Nähe des Hafens liegt. Hier sind Stände mit Holzgestängen oder gar Planen bereits eine Seltenheit. Die meisten Frauen müssen ihre Ware auf Tüchern oder in Körben dicht an dicht auf festgestampfter Erde neben Abwasserlachen ausbreiten. Frischfleisch und Fisch liegen unter Fliegenschwärmen neben stinkenden Bergen faulenden Abfalls. Die Marktfrauen wären bereit, so sagen sie, die seit Jahren boykottierten Standgebühren wieder zu zahlen, wenn damit die Abfallbeseitigung sowie die Aufstellung und Reinigung öffentlicher Toiletten finanziert würden. „Sieben bis zehn Müllarbeiter für das ganze Gelände, wie soll man denn den Müll loswerden?“ fragt Madeleine, während sie aus Mangel an anderen Fußwegen über die kokelnde Müllhalde stapft, die sich auf einer riesigen Fläche vor ihr ausbreitet. Füße suchen verzweifelt ein freies Fleckchen und landen in qualmenden Gemüseresten oder in dickem, schwarzem Schlamm. Schwere Laster hupen unaufhörlich, schieben sich meterweise durch die „Stände“, deren Besitzerinnen ohne Murren noch enger zusammenrücken. Hinter den Lastern schließt sich der Reißverschluß sogleich wieder, befahren diese nicht gar die fahrbahnbreiten Stellen des knöcheltiefen, schwarzen Morastes, auf dem keine Frau mehr ihre Ware ausbreitet.

Diese Arbeitsbedingungen wurden vor dem Amtsantrit Aristides noch durch die nervenaufreibende Auseinandersetzung mit korrupten Staatsdienern erschwert, die den Frauen Standmieten abknöpften. Sie stellten zwar die verlangten Quittungen aus, entrissen sie den Händlerinnen aber meist sogleich wieder und kassierten die Beträge gleich mehrmals ab. Diese Agenten waren eng mit der Polizei liiert. Verweigerten Frauen die Zahlung, so zögerten einige Männer nicht, den Frauen in Slip und Büstenhalter zu greifen, um ihnen den gesamten Tagesverdienst zu entreißen. Drohungen, den Stand zu zertrümmern, gehörten noch zu den geringeren Übeln des Alltags der Marktfrauen. Verständlicherweise steht die Sicherheitsfrage daher weit oben auf ihrem Forderungskatalog.

Immerhin hat die Regierung Madeleine und ihren Berufsgenossinnen nun versprochen, den Markt schnellstmöglich wiederaufzubauen und Kreditfonds für die Geschädigten zu schaffen. Mit einer offiziellen Kreditvergabe hätten die Frauen die Möglichkeit, den Machenschaften der gnadenlosen „usuriers“, den Wucherern, zu entgehen, deren Schlingen sich allen schon einmal bedrohlich um den Hals gelegt haben. Die Regierung sagte auch zu, Einfuhrbestimmungen und die Senkung des Dollarkurses zu überprüfen. Für die Sicherheit von Händlerinnen und Markt will die Stadtverwaltung sorgen. Mit einer Entschädigung ist angesichts der prekären Haushaltslage des Landes nicht zu rechnen. „Pasyans“ — Geduld — wird demnach bei den Marktfrauen als vierter Begriff des Lavalas-Slogans Jistis, partizipasyon ak transparans gehandelt.