Die Söhne der Chefs

Ein Gespräch mit dem rumänischen Dichter Mircea Dinescu  ■ Von Klaus Wittmann

Am 7. Mai wurde dem rumänischen Lyriker Mircea Dinescu die Ehrenbürgerwürde der Universität Augsburg verliehen. Klaus Wittmann sprach mit dem Autor über die nicht vollzogene rumänische Revolution, die wiedererstarkte Securitate, den Kinderhandel — und über Dinescus derzeit entstehenden Roman.

Klaus Wittmann: Herr Dinescu, Sie werden Ehrenbürger der Uni Augsburg. Was empfinden Sie dabei?

Mircea Dinescu: Ich bin aufgeregter, als wenn ich einen Literaturpreis bekommen würde. Während der Diktatur habe ich die Rolle eines Dissidenten gespielt. Und für die Verleihung der Ehrenbürgerwürde hat dies wohl ein größeres Gewicht gehabt als die Tatsache, daß ich ein Dichter bin. Bei mir aber gehören diese beiden Seiten — die politische und die dichterische — zusammen.

Stichwort Dissidenz. Ihr Bild ging im Dezember '89 um die Welt, als Sie vom Fernsehgebäude aus den Sturz von Ceausescu verkündeten. Vorher standen Sie monatelang unter Hausarrest. Was haben Sie in diesem Moment empfunden?

Ich stand unter Hausarrest, seit ich am 17. März 1989 ein Interview für die Zeitung 'Libération‘ gegeben hatte. In diesem Interview hatte ich ein Röntgenbild der Ceausescu-Diktatur gezeichnet. Bis dahin glaubte ich an eine Art Dissidententum allein im Rahmen der Kultur. Das war aber eine Illusion. Viele sehr bekannte rumänische Schriftsteller haben die Rolle eines Vogel Strauß gespielt, haben sich in Metaphern und Bildern versteckt und dabei geglaubt, daß sie Dissidenz betreiben. Am 22.12.89 sind eine Menge Leute zu mir nach Hause gekommen. Die Sicherheitsbeamten sind geflohen, und dann bin ich auf einem Panzerwagen zum Fernsehgebäude gefahren und habe verkündet: Der Diktator ist geflohen!

Noch einmal nachgefragt: Was ging in diesem Moment in Ihnen vor?

Ich war hin- und hergerissen. Es war auch eine gewisse Euphorie dabei. Die Euphorie war sicherlich zu groß. Ich befand mich plötzlich inmitten Hunderttausender von Leuten, und wir haben gejubelt.

Aber die Euphorie war zu groß. Denn das, was bei uns im Dezember passiert ist, war keine Revolution. Es war ein Volksaufstand: die Konsequenzen einer Revolution sollten größer sein, als sie in der Tat heute sind.

An die Macht sind die Professionellen der Macht gekommen, das heißt die zweite Schicht des Apparates. Bei uns gab es kein Dissidententum wie in der Tschechoslowakei oder wie in Polen, es gab weder eine Charta77 noch eine Solidarność. Das heißt, die Intellektuellen, die an die Macht hätten kommen können, waren nicht bereit dazu — und an der Macht befinden sich jetzt wieder Leute, die mit der Macht umgehen können. Es gibt einen fast sprichwörtlichen Satz: Die Söhne unserer ehemaligen Chefs sind heute die Chefs unserer Kinder.

Das ist natürlich nicht nur in Rumänien passiert, aber hier eben sehr oft. Die jetzt an der Macht sind, sind Söhne ehemaliger Parteifunktionäre, eigentlich kultivierte Leute. Einige haben im Ausland studiert — und zwar im Westen, in einer Zeit, als wir nicht mal nach Bulgarien fahren durften. Es ist eigentlich lächerlich, daß diese Leute, die Söhne der ehemaligen Parteifunktionäre, in Rumänien den Kapitalismus aufbauen möchten, während die Väter Sozialismus und Kommunismus aufgebaut haben.

Ich möchte Sie bitten, in Gedanken eine Liste zu machen. Schreiben Sie drei bis vier Punkte auf die linke Seite: was sich in Rumänien zum Positiven gewendet hat. Und auf die andere Seite: Was ist unverändert oder vielleicht noch schlimmer geworden?

Gut. Die linke Seite: Das Beste ist die Tatsache, daß die Zensur abgeschafft wurde. Es gibt zur Zeit bei uns eine freie Presse, es gibt Hunderte von Zeitungen, und es gibt Leute, die sehr deutlich gegen die Regierung schreiben. Das zweite ist, daß die Bauern ihre Ländereien zurückbekommen. Rumänien war ein reiches Land, aber die Leute haben gehungert. Die Bedrohung des Hungers schwindet. Einen weiteren positiven Punkt gibt es meiner Meinung nach nicht.

Kommen wir zur rechten Seite der Liste. Erstens: Wir haben uns über die Pressefreiheit gefreut. Aber weil die meisten Zeitungen regierungskritisch sind, hat die Regierung eine Art wirtschaftlicher Zensur versucht. Der Papierpreis zum Beispiel wurde von Dezember '89 bis heute verneunfacht. Auf diese Weise sind einige Zeitungen verschwunden. Im Grunde machen die Zeitungen nach wie vor, was sie schon vor der Teuerung gemacht haben: Sie schreiben gegen die Regierung an. Diese hat versucht, im Parlament ein Gesetz zur Einschränkung der Pressefreiheit durchzubekommen, aber das wurde nicht akzeptiert, im Land gab es großen Widerstand. Zweitens: Die Securitate ist wiederbelebt. Meiner Meinung nach ist sie inzwischen noch mächtiger als in der Ceausescu- Zeit.

In welchem Sinne?

Während der Diktatur Ceausescus war der Sicherheitsdienst abhängig von dessen Launen und Hysterien. Er konnte täglich die Generäle wechseln oder einfach verschwinden lassen. Jetzt sind die Generäle und der Sicherheitsdienst unabhängiger. Der Reichtum der Securitate besteht aus den alten Dossiers über Hunderttausende von Leuten. Die Liste der Spitzel wurde noch nicht veröffentlicht. Die Leute wissen nicht, wer von uns Spitzel war oder noch ist. Es besteht die Gefahr, daß der Sicherheitsdienst eines Tages seine alte Macht wieder innehaben wird.

Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit als Schriftsteller aus?

Eigentlich habe ich keine Angst. Ich hatte auch damals keine Angst, als das Terrorregime Ceausescus mir mit Mord gedroht hat. Heute bekomme ich anonyme Briefe und Anrufe, auch andere Oppositionelle werden bedroht.

Welcher Art sind diese Drohungen?

Beschimpfungen, Morddrohungen — wie unter dem Ceausescu-Regime. Die haben den gleichen Instinkt wie damals, und sie können nicht über ihren Schatten springen. Ein gravierender Aspekt ist, daß der Sicherheitsdienst alte Spitzel und Kulturfunktionäre reaktiviert, ihnen Geld gegeben hat, damit diese Leute Zeitungen herausgeben können, in denen die wenigen Dissidenten beschimpft werden. Das sind nationalistische Zeitungen, die so die öffentliche Atmosphäre vergiften.

Sind Sie denn für die heutige Regierung eine Gefahr?

Ich habe dem „Rat zur Nationalen Rettung“ angehört. Als diese politische Formation zur Partei wurde, bin ich zurückgetreten und habe alle Ämter abgelehnt. Ich wurde in geheimer Abstimmung zum Präsidenten des Schriftstellerverbandes gewählt. Der Schriftstellerverband hat 27 Zeitschriften, alle sind regierungskritisch. Eine gewisse Antipathie der führenden Kräfte gegen mich ist offensichtlich und bekannt, weil ich Herrn Iliescu kritisiert habe, als dieser die Bergleute nach Bukarest gerufen hat. Ich habe einige Pamphlete gegen Ministerpräsident Petre Roman verfaßt. Natürlich sieht das die Regierung nicht gern, zudem suchen ausländische Journalisten das Gespräch mit mir.

Wenn man bedroht wird, bis hin zum Mord, wie kann man denn damit leben? Sie sagen das so gelassen.

Ich bin daran gewöhnt. Die eben erwähnte finanzielle Unterstützung der Zeitungen durch diese Leute stört mich mehr. Die meisten ehemaligen Hofdichter von Ceausescu sind jetzt Besitzer einer Zeitung oder einer Zeitschrift. Die ehemaligen Parteifunktionäre, die Millionen unter Ceausescu verdient haben, investieren diese Gelder in solche Zeitungen. Es ist eigentlich lächerlich, aber auch tragisch, daß diese Leute, die 45 Jahre den Kommunismus kompromittiert haben, jetzt auch den Kapitalismus kompromittieren. Tragisch und zugleich lächerlich ist auch die Tatsache, daß diese kleinen Goebbels unter Ceausescu nach vier, fünf Monaten der Angst wieder aktiv sind. Sie beherrschen wahrscheinlich die Hälfte der rumänischen Presse.

Vor einigen Tagen flimmerten über unsere Bildschirme Bilder aus Rumänien, die einen regelrechten Kinderhandel zeigten. Kinder, die von ihren Eltern in Hotelhallen verkauft werden, Kinder, die zur Adoption freigegeben, ja feilgeboten werden. Ist Ihnen davon etwas bekannt, daß Familien Kinder verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren?

Ja. Das hat mich sehr erschüttert. Rumänien ist, soviel ich weiß, das erste Land, das Kinderexport betreibt. Es gibt in Rumänien keine Sozialleistungen für Kinder, es fehlt an Arznei und Babynahrung — und das nach eineinhalb Jahren, die diese Regierung an der Macht ist.

Dieser Kinderverkauf zeigt die Verantwortungslosigkeit der Regierenden, aber auch die Verantwortungslosigkeit der Eltern. Nach jahrelanger Gehirnwäsche denken sie vielleicht nicht immer richtig über solche Dinge. Es gibt viele solche Fälle, und es werden immer mehr. Es gibt Leute, die absichtlich Kinder machen, um sie verkaufen zu können. Ein Kind wurde für einen Videorecorder getauscht.

Was tut die Regierung dagegen?

Es gibt keine Gesetze. Die Regierung hat bislang nichts unternommen. Es gibt eben eine große Verantwortungslosigkeit. Die Korruption ist größer als unter Ceausescu. Die größte Krankheit in Rumänien ist wahrscheinlich die, daß die Rumänen nicht wußten, was sie mit der Freiheit anfangen sollen. Deshalb vielleicht auch die Bilder, die manchmal im ausländischen Fernsehen zu sehen sind.

Können Sie angesichts dieser Probleme überhaupt noch als Schriftsteller arbeiten? Wie setzen Sie das in Ihrer Arbeit um?

Ein Schriftsteller lebt nicht von der Heiterkeit. Seine Nahrung ist nicht die Heiterkeit, sondern das Tragische. Rumänien bietet eine ganze Palette des Tragischen an.

Das Amt des Präsidenten des Schriftstellerverbandes nimmt sehr viel Zeit in Anspruch. Ich habe in der

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Zeit, als ich unter Hausarrest stand, viel mehr geschrieben als nach der Revolution. Ich habe angefangen, einen Roman zu schreiben. Es ist eine Mischung aus Realismus und Surrealismus, so wie das Leben der Rumänen zur Zeit aussieht. Ich habe etwa fünfzig Seiten geschrieben und hoffe, daß er im Laufe des kommenden Jahres auf deutsch erscheinen wird.

Sie machen trotz allem, was Sie mir geschildert haben, einen relativ optimistischen Eindruck. Sind sie Optimist — und sind Sie optimistisch, was die Zukunft der Rumänen angeht?

Ich bin nicht sehr optimistisch. Ich bin fast in der Lage von Moses im Alten Testament, der vierzig Jahre lang seine Leute zum Land der Verheißung sozusagen getrieben hat — in der Hoffnung, daß es eine neue Generation gibt. Freie Menschen, nicht Leute mit Sklavenseele, wie es seine Leute gewesen sind. Das heißt, ich hoffe, daß irgendwann eine neue Generation kommt, die eine freie Generation sein wird.

Kein Geringerer als Eugène Ionesco hat Sie für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen. Was haben Sie empfunden, als Sie davon erfahren haben?

(lacht) Ich weiß, daß es nicht ausreicht, nur für diesen Preis vorgeschlagen zu werden. Ich war eigentlich geschmeichelt, als ich die Nachricht bekommen habe. Ionesco selber sollte ja Nobelpreisträger sein — und ausgerechnet er schlägt mich vor. Ich bin aber erst vierzig Jahre alt. Ich kann noch darauf warten.

(fröhlich) Ich weiß, wenn jemand den Nobelpreis bekommen hat, dann soll er sich aufs Sterben vorbereiten. Ich habe noch Zeit, bis ich siebzig Jahre alt bin, ich kann noch warten.Übersetzung: Ioan Constantinescu