Die sanfte Auflösung der Polikliniken

■ In Ostdeutschland soll sich jetzt auch die „freie Persönlichkeit“ des Arztes entfalten/ Immer mehr Mediziner verlassen die Polikliniken/

Von Barbara Geier

Vorsorglich haben die Mitarbeiter der Poliklinik Frederic Joliot-Curie das alte Namensschild am Gebäude abmontiert. „Es gibt ja eine regelrechte Allergie gegen den Begriff Poliklinik“, versucht die Oberärztin Thea Jordan zu erklären. „Wir trauen uns kaum noch, mit dem Namen öffentlich aufzutreten.“ Jetzt hängt an der gleichen Stelle der Hinweis „Gesundheitszentrum Friedrichshain“.

In der Ostberliner Poliklinik muß jetzt umgedacht werden. Die guten alten Zeiten, als sich die Ärzte und das medizinische Fachpersonal allein um das Wohl ihrer Patientinnen und Patienten kümmern durften, sind seit der deutschen Einheit vorbei. Das gilt für alle der rund 620 poliklinischen Einrichtungen und ihren angegliederten Ambulatorien in der ehemaligen DDR, die den überwiegenden Teil der ambulanten medizinischen Versorgung der 17-Millionen-Bevölkerung sichergestellt hatten. Gerade mal 400 freie Einzelpraxen waren geduldet, aber nur unter der Bedingung, daß sie „ererbt“ wurden.

Dabei gehören die Polikliniken nicht einmal zu den sozialistischen Errungenschaften. Die Idee einer Verbindung von sozialer und medizinischer Betreuung für besonders Hilfsbedürftige ist bereits vor 150 Jahren von dem Berliner Charité- Arzt Christoph Wilhelm Hufeland entwickelt worden. Im DDR-Staat hat sie sich dann zur straff staatszentralistisch geführten Institution entwickelt, die praktisch keine Alternativen der ambulanten medizinischen Versorgung im Arbeiter- und Bauernstaat zuließ.

Natürlich habe es parteipolitische Übergriffe auf die Einrichtungen gegeben, weiß Thea Jordan, die nie in der Partei war; selbstverständlich seien Leiter von oben eingesetzt worden, die nicht unbedingt fachlich kompetent waren, „aber Stasistrukturen waren ganz selten. Bei uns konnte man doch keine Karriere machen.“ Immerhin, und daran erinnert sich die Oberärztin heute etwas wehmütig, war die Finanzierung des Personals und die materiellen Ausstattung der Einrichtungen — wenn auch kärglich — staatlich gesichert. Auf 1.000 Mark pro Kopf und Jahr beliefen sich die gesellschaftlichen Ausgaben im Gesundheitswesen, etwa ein Viertel dessen, was für die Bundesbürger zur Verfügung stand.

Jetzt soll im Osten alles besser werden: „Auch in diesem Teil Deutschlands (gilt es) wieder eine freie Persönlichkeitsentfaltung des Arztes zu ermöglichen zum Nutzen eines vertrauensvollen Arzt-Patient- Verhältnisses“, schrieb das inzwischen eingestellte Standesblatt der westdeutschen Mediziner, 'Neue Ärztliche‘, unmißverständlich. Das kann aber nicht die Lücke überbrücken, die zwischen der gewohnten staatlichen Finanzierung und dem neuen System kassenärztlicher Versorgung klafft. Denn die Krankenkassen kommen noch lange nicht für alles auf, was in den Polikliniken bislang geleistet worden ist. Für Vorsorgemedizin, Rehabilitation, spezialisierte, dauerhafte Betreuung etwa von chronisch Rheumakranken, Diabetikern oder Krebskranken werden die neuen Finanziers kaum zahlen.

Die Gebäude vieler Polikliniken gehören mittlerweile den Kommunen. Die wollen damit aber keine Unkosten haben, weil sie ganz andere finanzielle Probleme belasten. Und jetzt stürzen sich auch noch die Ärzte „wie die Lemminge“, so der Hamburger Gesundheitssenator Ortwin Runge (SPD) auf einer Tagung zum Thema Polikliniken, in die freie Niederlassung und sprengen auf diese Weise die Grundlagen der poliklinischen Idee: die integrierte Zusammenarbeit von Fachärzten unterschiedlicher Ausrichtung unter einem Dach.

Ist damit das Ende der Polikliniken besiegelt? Die neue Bundesgesundheitsministerin Gerda Hasselfeld jedenfalls würde das gerne so sehen. „Der dringend erforderliche Neuaufbau des Gesundheitswesens muß nach dem bewährten Vorbild der alten Bundesländer erfolgen“, und da gibt es bekanntermaßen solche Einrichtungen nicht.

Auch der Einigungsvertrag, an dem nach Auskunft eines Mitarbeiters im brandenburgischen Gesundheitsministerium die westdeutschen Standespolitiker „bis zur letzten Minute“ in ihre Richtung gefeilt haben, legt ein Ende der Polikliniken zumindest nahe: „Die bestehenden ärztlich geleiteten, kommunalen, staatlichen und freigemeinnützigen Gesundheitseinrichtungen einschließlich der Einrichtungen des Betriebsgesundheitswesens (Polikliniken, Ambulatorien und andere) werden bis zum 31.Dezember 1995 zur ambulanten Versorgung zugelassen.“ Und weiter: „Über eine Verlängerung der Zulassung entscheidet der Zulassungsausschuß im Benehmen mit der Landesbehörde. Dabei ist der Anteil der in freier Praxis niedergelassenen Ärzte zu berücksichtigen.“ Bis dahin, so ist zu erwarten, dürften die meisten Polikliniken die Pforten geschlossen haben, nicht zuletzt mangels ärztlichen Personals.

So hängt das Damoklesschwert auch über der Ostberliner „Betriebspoliklinik für Bauarbeiter“ in Marzahn. Die Mehrheit der bislang noch 120 Ärzte will sich niederlassen. Die Verunsicherung unter den ostdeutschen Ärzten wächst. „Ich muß schon sagen“, meint der Leiter der „Betriebspoliklinik“, Peter Stehle, „es ist nicht gut für Patienten, wenn sie zu einem Arzt kommen, der eigentlich seine Sorgen dem Patienten mitteilen will. Eine sehr unerquickliche Situation.“

In die zunehmende Verunsicherung in den Polikliniken mischt sich zusätzlich noch völlige Verwirrung über den Wust an neuen Abrechnungsmodalitäten für ärztliche Leistungen. Neuerdings sollen Behandlungsfälle gezählt und Einzelleistungen dokumentiert werden. Thea Jordan könnte darüber fast verzweifeln: „Das haben wir bislang nie gemacht. Der Schreibkram dauert jetzt fast genauso lang wie die Behandlung selbst.“

Für Mediziner, die sich niederlassen wollen, ist die Situation nicht einmal günstiger als für die Polikliniken. Praxisräume sind kaum zu finden, und wenn doch, sind die Mieten inzwischen fast unbezahlbar hoch. Bankkredite für die Einrichtung finden am ehesten noch die ganz jungen Ärzte. Die Zinsen sind zwar genauso hoch wie in Westdeutschland, aber ihr Einkommen entspricht nicht dem der Kollegen in den alten Bundesländern. Schuld ist „Eva“, der „Einigungs-Vertrags-Abschlag“. Er sorgt dafür, daß nur rund 50 Prozent dessen ausgezahlt wird, was die Kassen den Ärzten im Westen erstatten. Denn nur 22 Mrd. Mark Beitragsgelder „und keinen Pfennig mehr“ dürfen die Krankenversicherungen in der Ex-DDR verteilen, hat Wilhelm Heitzer vom AOK-Bundesverband für dieses Jahr ausgerechnet.

In den Polikliniken fühlt man sich ungerecht behandelt. Anders als frei niedergelassene Ärzte dürfen dort nicht einmal Einzelleistungen abgerechnet. Bezahlt wird nach der Anzahl der Patienten („Fälle“), die pro Quartal eine solche Einrichtung aufsuchen. Für einen Patienten also, der sich in einer Poliklinik vielleicht von fünf Ärzten behandeln lassen muß, gibt es genausoviel Geld wie für eine Behandlung durch einen Arzt. Kein Wunder, wenn in vielen Polikliniken das Gefühl herrscht, mit Absicht ausgeblutet zu werden.

Noch aber leben sie von sogenannten Abschlagszahlungen, die in Absprache mit den Krankenkassen von der Kölner Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) überwiesen werden: Stoff für heiße Auseinandersetzungen und gegenseitige Beschimpfungen. Polikliniken beschweren sich zuhauf, die Zahlungen entsprächen nicht den vereinbarten Summen oder blieben ganz aus. „Hundert Millionen Mark haben wir Anfang Januar an die Polikliniken überwiesen,“ verteidigt sich KBV- Geschäftsführer Rainer Hess. Davon seien erst einmal sechs Millionen wieder zurückgekommen, weil falsche Kontonummern angegeben worden seien. Erhebungsbögen, Grundlage für die pauschale Abschlagszahlung, seien bei der KBV oft gar nicht eingegangen oder fehlerhaft ausgefüllt worden.

Die korrekte Einhaltung der unübersichtlichen Richtlinien und Regeln, die sich in Westdeutschland in den vergangenen 40 Jahren eingespielt haben, hält denn auch die brandenburgische Gesundheitsministerin Regine Hildebrandt (SPD) „für eine deutliche Überforderung“ der Polikliniken. Auch die Notwendigkeit, diese Einrichtungen betriebswirtschaftlich rentabel umzustrukturieren, kann nach Meinung der Ministerin nur mit Hilfe professioneller Beratung erfolgreich sein. Dafür hat Brandenburg nun 117 Millionen Mark aus dem laufenden Haushalt für 1991 bereitgestellt — und sofort den Vorwurf der kassenärztlichen Bundesvereinigung provoziert, den Polikliniken würden damit gegenüber den niederlassungswilligen Ärzten Vorteile verschafft.

Die Ministerin nimmt das offensichtlich gerne in Kauf. Gleichzeitig warnte sie aber die Polikliniken vor Illusionen: „Ich bleibe bei meiner wiederholt geäußerten Auffassung, daß Weiterentwicklung und Umstrukturierung von Polikliniken nicht mit Bestandsgarantien oder gar einem Naturschutzpark poliklinische Versorgung verwechselt werden dürfen.“ Ihr Staatssekretär Detlef Affeld sieht das inzwischen noch realistischer. Ein Drittel aller Polikliniken seien mittlerweile in einem Zustand, wo „nichts mehr zu halten ist“. Nur bei 30 bis 35 Polikliniken in Brandenburg sei sein Ministerium „guten Mutes“, daß sie zu Gesundheitszentren umstrukturiert werden können. Für sie greift vielleicht ein Beratungskonzept, das vom Westberliner Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IDES) ausgearbeitet worden ist und seit Anfang März vom Potsdamer „Beratungsdienst Gesundheitszentren Brandenburg“ praktisch umgesetzt wird. Geschickt hebelt dieses Konzept die Kritik seiner Gegner aus, indem es sowohl auf die wirtschaftliche Effizienz der Ambulatorien zielt, als auch niedergelassene Ärzte in die neuen Gesundheitszentren einbeziehen will, die von den kassenärztlichen Vereinigungen im Westen so stark favorisiert werden. Wilhelm Schräder, einer der Berater, der im Augenblick wie ein Handlungsreisender in Sachen Umstrukturierung durch Brandenburg reist, orientiert sich ganz und gar an „den Wünschen der Ärzte“. „Wie sie sich organisieren wollen, bestimmen die Ärzte der Polikliniken selbst.“

Als das Potsdamer Gesundheitsministerium sein Umstrukturierungsmodell den Gesundheitsministern der anderen neuen Bundesländer vorstellte, soll große Begeisterung geherrscht haben. Unternommen haben sie indes nichts. Offensichtlich vertrauen die Politiker in Schwerin, Dresden, Magdeburg und Erfurt auf die Selbstheilungskräfte des Gesundheitsmarktes. In Sachsen soll schon die Hälfte aller bisherigen Poliklinikärzte niedergelassen sein, bis Jahresende rechnet man sogar mit 85 Prozent. Mecklenburg-Vorpommern beschränkt sich darauf, den Übergang von der Poliklinik in die freie Niederlassung so sanft wie möglich zu gestalten.

Offiziell gehören Polikliniken nicht zu den Einrichtungen der ehemaligen DDR, die „abgewickelt“ werden. Es genügt, ihren schleichenden Zerfall sanft zu befördern. Und selbst dort, wo — wie in Brandenburg — ihre Umstrukturierung finanziell und konzeptionell unterstützt wird, bleibt von der Idee integrierter sozialer, psychologischer und medizinischer Beratung unter einem Dach nur wenig übrig. Ein Ergebnis im Sinne des Einigungsprozesses: die Angleichung der Lebensverhältnisse auf westdeutsches Niveau.