Die Apokalypse hat nicht stattgefunden

■ Die Deutschen und das Ende des Golfkrieges GASTKOMMENTAR

Kein internationales Ereignis — sieht man einmal von den osteuropäischen Umwälzungen 1989 ab — hat die politische Sitzordnung zwischen „Jakobinern“ und „Girondisten“ derart durcheinandergewirbelt wie der Krieg am Golf. Brave Sozialdemokraten trafen sich mit militanten Linken beim radikalen Protest gegen den Krieg, unzählige „alte“ Linke unterschiedlichster Provenienz dagegen versuchten, seine Notwendigkeit zu formulieren; Günter Wallraff mußte sich vor Freunden rechtfertigen, warum er ausgerechnet jetzt nach Israel fahren wollte, während Walter Jens von Tübingen aus ungefragt für den Frieden kämpfte. Befürworter des bewaffneten Kampfes in Mittelamerika und Südafrika, Theoretiker der „strukturellen Gewalt“ und des Rechts auf militanten Widerstand argumentierten ähnlich wie kirchliche Friedensgruppen und radikalpazifistische „Gewaltfreie“, während Ökolibertäre, Altspontis und „Habermasianer“ über die „normativen Bedingungen eines gerechtfertigten Krieges“ diskutierten.

Die Reaktionen auf das Ende des Krieges und die Niederlage Saddams spiegeln die Verwirrung der Fronten fast idealtypisch wider und zeigen, daß der Golfkrieg für uns eigentlich in Deutschland stattgefunden hat. Im Mittelpunkt aller Debatten stand die Beschäftigung der Deutschen mit sich selbst. Politische Projektionen und psychologische Reaktionsmuster beherrschen das Feld. Einen „totalen Sieg der Kriegslogik“ sehen all jene, die schon vor dem 15. Januar 1991 die Apokalypse des totalen Krieges zum zentralen Argument gegen einen alliierten Angriff machten. Von Befreiung, gar Freude, von der irakischen Vergewaltigung und Zerstörung Kuwaits ist nicht die Rede. Die Tatsache, daß die Apokalypse zwischen Völkermord und Klimakatastrophe ausgeblieben ist, führt bruchlos zum nächsten Argument: der Krieg ist — dank „High-Tech“ — wieder führbar geworden. Wie in den besten Tagen des westdeutschen Ökopazifismus und der Dritte-Welt-Solidarität hat das Bonner „Netzwerk Friedenskooperative“ nicht das Völkerrecht, sondern das Recht der Völker im Auge. Der Krieg gegen Irak sei ein abschreckendes Exempel, „das in Zukunft jedem Aufbegehren gegen westliche Interessen als warnendes Beispiel dienen soll“. Also doch: Saddam Hussein als Führer der unterdrückten arabischen Massen? Nicht die Antiimperialisten von vorgestern sind das Problem, sondern jener tiefdeutsche, Ressentiment- geladene Diskurs über die „objektiven Strukturen“ der zerstörerischen Weltordnung und ihre skrupellose Macht des Bösen, der es um die uneingeschränkte Weltherrschaft geht. In dieser Abstraktion, bei der es auf ein paar hunderttausend Tote mehr oder weniger nicht ankommt (SPD-MdB Opel etwa sprach schon nach wenigen Kriegstagen von 300.000 irakischen Todesopfern), vermischen sich nicht nur antiamerikanische und antisemitische Topoi, sondern auch alle Unterscheidungen zwischen Täter und Opfer, Zweck und Mittel, Risiko und Entscheidung.

Die Flucht vor Differenzen ins gute Gewissen der reinen Moral ist zutiefst unpolitisch und deutsch. Ihr Unwillen zur Unterscheidung macht sie gerade anfällig für die Abstrahierung von den konkreten Opfern, weil sie tendenziell alle zu Opfern dekretiert. Wer überall nur die Wiederholung des Immergleichen sieht, kann auch nicht jenen (in der FAZ zum Beispiel) entgegentreten, die den Vietnamkrieg posthum zum — leider erfolglosen — Vorgänger des Golfkriegs erklären.

Reinhard Mohr