Die Relativität der Zivilisation

Gehört die Scham zum Wesen des Menschen? Es gibt keine „unschuldige“ Nacktheit, behauptet Hans Peter Duerr — und erschüttert die Zivilisationstheorie Norbert Elias' in ihren Grundfesten  ■ Von Mathias Bröckers

„Diese Zivilisation ist das unterscheidende und Überlegenheit gebende Kennzeichen der Okzidentalen.“ Norbert Elias

Lange Zeit erging es Norbert Elias wie dem sprichwörtlichen Propheten: Im eigenen Lande galt er nicht viel. Über den Prozeß der Zivilisation — sein 1939 erschienenes Hauptwerk — wurde in Deutschland auch dann noch kaum ein Wort verloren, als es die Re-Zivilisierung durch die Alliierten durchaus wieder zugelassen hätte. Den meinungsführenden Soziologen der Frankfurter Schule unterdessen paßte Elias' These nicht so recht ins negativistisch-marxistische Weltbild. Er behauptete, daß mit der neuzeitlichen Vergesellschaftung, jenem negativ notierten Fortschreiten der „Entfremdung“, gleichzeitig ein durchaus positiver, ja hehrer Prozeß verlaufen sei: die mit dem Ausgang des Mittelalters einsetzende Domestizierung des Triebhaushalts der Europäer, deren Affekte, Emotionen und körperlichen Funktionen von den immer komplexer werdenden „Interpedenzgeflechten“ der Gesellschaft unter Kontrolle genommen werden. Wachsende Arbeitsteilung, Differenzierung und Verflechtung der Lebensbereiche drängen, wie Elias zeigt, die Äußerungen des Körpers hinter eine neue Kulisse — die des Privaten: wo der Mensch des Mittelalters noch ungeniert furzte, rülpste und rumvögelte, gerät dies in der „zivilisierten“ Gesellschaft zunehmend unter das Verdikt ungeschriebener Peinlichkeitsgesetze. So auch die Nacktheit, die vom 16. Jahrundert an mit einem Tabu belegt wird, das es Elias zufolge im Mittelalter noch nicht gab: der Scham.

Erst nach '68, als die Kommune 1 mit blanken Ärschen zum Sturm auf die bürgerlichen Tabus geblasen hatte, wurde Elias' Zivilisationstheorie in Deutschland entdeckt. Schien sie doch zu untermauern, daß Sexualtabus und andere Normierungen des öffentlichen Lebens ein Moment des Herrschaftsanspruchs von Staat und Bürgertum darstellten, der eine — natürliche — Freizügigkeit des Körpers und der Emotionen unterdrückte, wie sie noch im Mittelalter selbstverständlich war. Doch nicht nur der Traum vom mittelalterlichen Sex-und-Lust-Sponti (und sein Niedergang in den Beziehungskisten der 70er) kam dem Aufschwung der Eliasschen Analyse zugute — auch für das Post-68'er-Mißtrauen gegenüber abstrakten Großtheorien kam dieser konkrete, auf Dokumenten, Anekdoten und Alltagsbeobachtungen basierende Entwurf gerade recht. Die Utopie war ausgeträumt, und in Elias großem Werk fand sich ein geeignetes Remedium der Frustration: die Gewißheit, daß sich Geschichte trotz alledem als eine des Fortschritts, der kulturellen Evolution beschreiben läßt. In den 70er und 80er Jahren hat dies zu einem Boom sozialhistorischer Untersuchungen des Alltagslebens geführt, im Geiste Elias' stochern die Kulturgeschichtler seitdem mit wachsender Begeisterung in Eßkulturen, Trinksitten und Modegebräuchen ebenso wie in Badezimmern, Parfümfläschchen und Klosetts. Vor drei Jahren nun schreckte der Ethnologe Hans Peter Duerr die auf scheinbar sicherem Theoriefundament wogenden Wonnen der Alltagskultur empfindlich auf: das angeblich sinnenfroh-legere Mittelalter, so behauptete er, sei in Wahrheit keineswegs ohne die Tabuisierung der Sexualität ausgekommen, im Gegenteil: Scham- und Peinlichkeitsstandards hätten damals (wie noch heute bei den „unzivilisierten“ Völkern) ein subtileres Geflecht gebildet als in der modernen westlichen Gesellschaft. Duerrs These — „... daß vieles für die Wahrheit des biblischen Mythos spricht, nach dem die Scham vor der Entblößung des Genitalbereichs keine historische Zufälligkeit ist, sondern zum Wesen der Menschheit gehört“ — war nicht nur skandalös, sie war auch unverschämt gut belegt. Aus allen Zeiten und Räumen, von der europäischen Antike bis zur Frühen Neuzeit, von afrikanischen Buschvölkern bis zu den Eskimos, türmte Duerr eine erdrückende Beweislast auf: In den sexuell „naiven“ nacktgehenden Gesellschaften entdeckt er die komplexen Mechanismen erlaubter und verbotener Blicke, im „leichtfüßigen“ Mittelalter ein Hochmaß an Prüderie und Zurückhaltung, wohin auch das schier unerschöpfliche Quellenmaterial des Autors trägt — Scham und Triebkontrolle sind immer schon da. Ein wie auch immer gearteter, unschuldiger „Naturzustand“, von dem aus jeder Zivilisationsprozeß ja fürbaß schreiten müßte, kommt Duerr auf seiner Reise durch die Ethnien und Kulturen an keiner Stelle unter. So scheint es nur plausibel, wenn er ihn schlicht zur Fiktion erklärt: „Aller Wahrscheinlichkeit nach (hat es) zumindest innerhalb der letzten vierzigtausend Jahre weder Wilde noch Primitive, weder Unzivilisierte noch Naturvölker gegeben.“

Mit dem ersten des auf vier Bände angelegten Werkes unter dem programmatischen Titel Der Mythos vom Zivilisationsprozeß erging es dem wissenschaftlichen Ketzer Duerr ähnlich wie vor zehn Jahren mit seinem Buch Traumzeit, über dessen Aufnahme Paul Feyerabend schrieb: „Akademische Nagetiere nehmen es zum Anlaß, auf ihre Bäume und in ihre Höhlen zu flüchten und den Autor von diesen sicheren Verstecken aus mit ihren Denkabfällen zu bombardieren: den Eintritt in ihre Nester gestatten sie ihm nicht.“ Auch wenn Duerr seinen Rezensenten mittlerweile „einen gewissen Evolutionsprozeß in der Affektkontrolle“ konzediert, Denkabfälle waren es allemal, mit denen sie auf Duerrs Nestbeschmutzung reagierten. Auch Nobert Elias selbst, der im vergangenen Jahr starb, meldete sich zu Wort, weniger mit Argumenten, als mit Abwehr: „Duerrs Äußerungen sind voller lauter Töne. Viel Lärm um nichts.“ Nichts? Duerr zeigt an zahlreichen Beispielen, wie Elias Dokumente und Belege unter vorurteilsgeprägtem Blick einordnet und falsch deutet: die allgemein ungezwungenen Badehaussitten des Mittelalters etwa liest er aus Bildern ab, die eindeutig Bordelle zeigen. Daß es für Kinder noch im 16.Jahrhundert keine „Mauer der Sexualität“ gab — Elias: „Kinder sahen alles, nichts wurde hinter die Kulissen geschoben“ — widerlegt Duerr nicht nur mit vielfältigen Zeugnissen aus dem europäischen Mittelalter, sondern auch aus der Antike und den Gesellschaften der „Naturvölker“. Sei es anhand zugeknöpfter Nachthemden, die mittelalterlichen Bäuerinnen die Begattung ohne peinliche Entblößung ermöglichten, oder anhand der Phantomkleider der Kwoma in Neu-Guinea, bei denen schon kleinen Knirpsen bei Strafe verboten wird, den Frauen auf „ihr Etwas“ zu sehen. Die Privatsphäre, laut Elias eine zivilisatorische Errungenschaft der Neuzeit, ist, wie Duerr belegt, auch dort vorhanden, wo der dumpfe abendländische Blick überhaupt nichts sieht: Dreht sich ein Yagua-Indiander gegen die Hauswand, dann ist es, als ob er nicht da wäre, er kann weder angesehen, noch angesprochen werden. Bei vielen Völkern benutzen Paare solche immateriellen Wände, um sich dahinter genauso „sicher“ zu vergnügen wie hinter europäischen Schlafzimmertüren.

Hier wird der Zorn des Ethnologen Duerr gegen die Zivilisationssoziologen verständlich — er schreibt an gegen den kolonialistischen Blick, gegen die Ignoranz des aufgeklärt- kritischen Abendlandes und seinen manifesten Eurozentrismus, der subtile Öffentlichkeitsregeln, Verhaltensstile und raffinierte Sittencodices für ein Monopol der Moderne hält. Ein Weltbild, das den „guten Wilden“, den naiven, unschuldigen „Primitiven“ — sei es im Busch, sei es im sinnenfrohen Wild-West-Mittelalter — halluzinieren muß, um die Gegenwart als „zivilisiert“, „fortschrittlich“ und als Höhepunkt der „Evolution“ deklarieren zu können. Duerrs Attacke gegen den „Prozeß der Zivilisation“, dargeboten mit einem Feuerwerk empirischen Materials über die Schamhaftigkeit des Menschengeschlechts, trifft das Eliassche Theoriegebäude an empfindlicher, zentraler Stelle — wenns schon beim Thema Nr. 1 hinten und vorne nicht stimmt, was ist dann von Tisch-, Wasch- und Schlafsitten und dem Rest unseres progressiven Zivilisationsalltags zu halten? Die Enttabuisierung von Nacktheit und Sex in der neueren Zeit erklärt die Zivilisationstheorie mit dem Höchstmaß an Triebmodellierung, das die komplexen sozialen Kontrollmechanismen der modernen Gesellschaft ihren Mitgliedern abverlange. Diese zivilisierte Zurückhaltung sei so tief eingeprägt, daß selbst der Rückfall in „archaische“ Nacktheit dem „abendländischen Verhaltsstandard“ nichts anhaben könne. Was aber, wenn es eine „archaische“ Unschuld der Nacktheit, in die man zurückfallen könnte, nie gegeben hat? Duerr: „In traditionellen Face-to-face-Gesellschaften war der einzelne durch die intensive Verflochtenheit im Verwandtschaftsband einer lückenloseren ,informellen‘ sozialen Kontrolle unterworfen, als der Angehörige moderner urbaner Gesellschaften. In unserer eigenen Gesellschaft scheint sich der entscheidende Umbruch in den Städten des späten Mittelalters vollzogen zu haben, und es zeigt sich, daß die (...) verhältnismäßige Sittenlosigkeit dieser Zeit, mag sie von den Kulturhistorikern auch noch so übertrieben worden sein, kein ,archaisches‘ Phänomen ist, sondern ironischerweise das Ergebnis einer gesellschaftlichen Veränderung. (...) Das, was Elias vom Mittelalter und den ,unzivilisierten Gesellschaften‘ behauptet, (ist) in mancher Hinsicht eher bei uns heute — etwa an den Stränden oder in der Sauna — zu beobachten, so daß die Wilden, wenn man unbedingt will, eher dort, als am Kongo oder in Grönland zu finden sind. Ich habe nicht behauptet, daß sich in der Geschichte nichts geändert hätte, sondern daß sich diese Veränderungen — langfristig gesehen — nicht in Form einer Evolutionskurve darstellen lassen.“ Für Duerr sind es nicht hochgradig verinnerlichte „Affektstandards“, die die Senkung der Schamschranken ermöglichen, sondern gesellschaftliche Bedingungen, mit denen eine Abschwächung persönlicher und sozialer Beziehungen (und damit der Kontrolle sittlicher Normen) einhergeht. Diese „Entfremdung“ des mittelalterlichen Stadtlebens (gegenüber dem familiär-kollektiven Lande) hat erst möglich gemacht, was die Elias-Schule an „animalischer Natur“ dort zu entdecken glaubte. Duerr schreibt, ihm sei nicht daran gelegen, die „bahnbrechende“ Eliassche Theorie vom Kopf auf die Füße zu stellen, an zahlreichen Punkten aber gelingt ihm eben das — er kippt den Absolutismus der Zivilisationstheorie und heraus kommt eine anthropologische Relativitätstheorie, die, wie die physikalische die Lichtgeschwindigkeit, nur eine einzige Konstante kennt: die menschliche Scham.

„Das ist, wie man es dreht und wendet, ein konservatives oder zu konservativen Zwecken benutzbares Ergebnis“, befand Ulrich Greiner in der 'Zeit‘. Tatsächlich. Günther Zehn konnte in der 'Welt‘ in einer Rezension über die „Sex-Apostel“ triumphieren („die Stämme und Völker der Erde respektierten immer Anstand und Scham“) und macht das Buch in katholischen Fundamentalistengeschwadern die Runde, die sittenstrengen Predigten werden noch ein paar Zacken geißelnder ausfallen. Und überhaupt lebt es sich als „zivilisierter“ primus inter „pares“ und abendländische Krone der Schöpfung mit Elias im Regal ganz gut. Aber ist das ein Grund, über einen Anti-Elias so wütend herzufallen wie ein GI über irakische Panzerattrappen? Offenbar ja, sonst wäre die Blindheit nicht zu erklären, mit der die meisten Kritiker auf das Buch reagierten. Ich will das fröhliche Schlachtfest, das Duerr in einem Anhang des jetzt erschienenen zweiten Bandes mit seinen Rezensionsschafen feiern kann, nicht vorwegnehmen — ein Beispiel mag genügen. Es ginge nicht an, lautet ein Haupteinwand der Kritik, einen ehrenwerten theoretischen Großentwurf einfach nur mit Details, Fakten und empirischem Material zu widerlegen: „In gewisser Weise sind große Theorien nicht falsifizierbar“, stellt Ulrich Greiner fest, um den „sinnlosen Kampf“ Duerrs zu begründen. Große Theoretiker von Ptolemäus bis Marx werden derlei Trost im Jenseits gerne vernehmen, hienieden freilich muß er jedem Wissenschaftler die Affektmodulierung bis zum Haareraufen verhageln. Zwar ohne die vatikanische Prägnanz des 'Zeit‘- Kulturchefs, aber inhaltlich ähnlich argumentieren die meisten Denkmalschützer: der „Zettelkastenreporter“ Duerr hätte einfach nur Berge von Quellen zusammengetragen und sei „methodisch naiv“, da er die Badesitten englischer Ladys mit denen balinesischer Mädchen, nackte „Naturvölker“ mit modernen FKK-Stränden vergleiche. Tatsächlich begeht Duerr gerade nicht den methodischen Fehler und die Fahrlässigkeiten, die er Elias so überzeugend nachweisen kann, nämlich empirisches Material einer vorgefaßten Theorie beizubiegen; er läßt die Quellen, nackte Tatsachen im Kulturvergleich, für sich sprechen. Gerade diese Askese macht seine wissenschaftliche Stärke aus: Duerr stellt nicht die neue — wahre — Zivilisationstheorie auf, sondern zeigt, daß der Absolutismus der alten schlicht falsch ist. Nun haben gegen ein bißchen Relativität die aufgeklärten Geister unserer Tage sicher nichts einzuwenden, was sie stört ist die Konstante, die sie dafür in Kauf nehmen sollen. Warum erscheint es so absurd und reaktionär, daß etwas seit 40.000 Jahren zum unveränderbaren Wesen des Menschen gehören könnte? Weil wir es uns zu eigen gemacht haben, gewohnheitsmäßig alles unter der Brille des Fortschritts, der Veränderbarkeit zu betrachten, und uns selbst, an der Spitze unserer Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

unwissenden und unschuldigen Vorfahren, als Vollstrecker dieses Fortschritts. Diese Sichtweise — mit der Elias nicht allein steht, sondern in mindestens 2.000jähriger Tradition — hat sich so tief eingeprägt, daß wir sie als Brille gar nicht mehr wahrnehmen und als natürlich empfinden; so natürlich, daß noch die massive Zerstörung der Biosphäre durch das motorisierte Abendland — Kat sei Dank! — als hehre Etappe des Zivilisationprozesses betrachtet werden darf. Nicht nur in ihrem Kolonialherrenblick auf die Sitten der Völker, den Duerr moniert, sondern auch angesichts der Weltzerstörung durch „zivilisierte“ Wachstumswilde, wird die Funktion von Zivilisationstheorien als Legitimations- und Selbstbeweihräucherungsinstrument deutlich.

Nie war insofern eine allgemeine Theorie der Zivilisation so wertvoll wie heute, und so steht zu befürchten, daß auch der zweite Band des Mythenknackers Duerr viel aufgeregtes Gegacker verursachen wird, aber keine wirkliche Diskussion. Auch wenn Duerr seinen Kritikern dieses mal den Gefallen tut, wenigstens auf ein paar Seiten eine „Theorie der Körperscham“ zu umreißen — er bleibt bei seiner beinharten Methode der vergleichenden Faktenhuberei. Ausgehend von dem Skandal, den die gynäkologischen Untersuchungen durch Männer im Europa des 18./19. Jahrunderts auslösten, entfaltet Duerr in diesem Band eine Ethnographie und Geschichte der weiblichen Genitalscham. Wieder stehen sich, so unvermittelt wie evident, Beispiele aus allen Zeiten und Kulturkreisen gegenüber, Duerrs Quellen reichen von alten japanischen Bordellkatalogen, über Sitz- und Hockregeln indianischer Frauen bis zu Berichten über die Phantomkleider der angeblich „schamfreien“ Nuba, die auf den Fotos einer Leni Riefenstahl natürlich unsichtbar bleiben. An diesem Beispiel zeigt Duerr, wie Elias einer Idee aufsitzt, der auch viele Nationalsozialisten huldigten: „Daß der nackte Körper an sich unerotisch und schamfrei sei, während erst die Kleidung und damit der ausgezogene Leib die Sünde ins Paradies gebracht habe. Oder wie es für die Nazi-Kunst — und nicht nur für diese — galt: Der nackte Akt ist Kunst, der entkleidete Akt ist Pornographie.“

Daß es sich bei dieser „schamfreien“ Nacktheit um ein Zivilisationsprodukt, nicht aber um einen „Naturzustand“ handelt — daran können nach Duerrs vielfältigen Belegen kaum noch Zweifel bestehen. Ungeachtet der Geltung des weiblichen Geschlechtsorgans als „schön“ und „anziehend“ oder „unästhetisch“ und „abschreckend“ bei den verschiedensten Völkern scheint es keine einzige Gesellschaft gegeben zu haben, die ohne eine weibliche Genitalscham auskam. Daß die von Frauen in vielen Kulturen und Zeiten empfundene „Häßlichkeit“ der Vulva der Grund für ihr Verbergen und die Herausbildung von Scham war — auch diese weitverbreitete Meinung gehört nach Duerrs Befund zu den Akten. Selbst dort, wo die Vagina als ausgesprochen schön und verlockend galt, wie etwa in Japan, existieren ausgeprägte weibliche Peinlichkeitsstandards. Warum?

„Zum einen“, faßt der Duerr seinen empirischen Streifzug durch die private parts dieser Welt zusammen, „scheint die weibliche Körperscham, also die Restriktion der sexuellen Reizung der Männer, die sexuelle Rivalität unter diesen zu reduzieren, eine Rivalität, die zu — dysfunktionalen — Konflikten innerhalb der betreffenden Gesellschaften führen könnte. Zum anderen begünstigt diese Einschränkung die Partnerbeziehung, das heißt die Institution, die dem Nachwuchs bessere Überlebenschancen gibt (...) und die ferner, was in bestimmten Gesellschaften relevant ist, dem Mann größere Sicherheit dafür bietet, daß es sich bei diesem Nachwuchs um seinen eigenen und nicht um den eines anderen Mannes handelt. (..) Daß Machtausübung oder ,patriarchalische‘ Herrschaftsverhältnisse nicht — wie manche Feministinnen behaupten — wesentlich sind für das weibliche Schamverhalten, ergibt sich aus der Annahme, daß auch in einer hypothetischen Gesellschaft mit einem ,egalitären‘ Geschlechtsverhältnis die bindungsfördernden Restriktionen sexueller Signale und damit solche Bindungen erwünscht wären. Nur in einer Gesellschaft, die auf solche Bindungen geringen oder gar keinen Wert legt, könnte Sexualität gewissermaßen ,naturalisiert‘ werden, das heißt aus ihrer Verschränkung mit Liebe, Zuneigung, Vertrauen usw. herausgelöst werden...“. Auch mit dem zweiten Band sind Duerrs Ergebnisse nicht ,progressiver‘, dem Zeitgeist der westlichen Gesellschaften kompatibel geworden. Zu einem Kultbuch wird der Mythos vom Zivilisationsprozeß nicht werden, schon weil es auf theoretische und philosophische Interpretation weitgehend verzichtet und den Lesern die — unbequemen — Schlußfolgerungen selbst überläßt. Zwar räumt Duerr mit dem Denkabfall seiner Kritiker auf, stellt klar, daß er nirgends behauptet, die Scham sei „angeboren“ und weder historischen noch sozialen Veränderungen unterworfen, ob dies aber ausreicht, die Zivilisationsbrille der Soziologen-Zunft zu entsorgen und einer differenzierten Sichtweise Bahn zu brechen, bleibt abzuwarten. Denn Duerr macht es ihnen nicht so leicht, einfach eine Theorie der Antizivilsation aufzustellen. Vielmehr zeigt er, daß es sich bei der Eliasschen Theorie eher um ein Konstrukt handelt, wie es Karl Kraus einmal beschrieben hat: Manche Thesen sind so falsch, daß nicht einmal ihr Gegenteil richtig ist.

Hans Peter Duerr: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Band I: Nacktheit und Scham, Suhrkamp 1988, 516 Seiten, 48 DM; Band II: Intimität, Suhrkamp 1990, 626 Seiten, 56 DM.