Wüstensturm in der Punica-Oase

Zu deutschen Reaktionen auf den Golfkrieg  ■ Von Reinhard Mohr

„WAFFENSTILLSTAND

SOFORT.

A 1-Plakat, s/w. Nur gegen

Vorauskasse“ (taz, 13.2.1991)

Wenn die Redaktion der Wochenzeitung 'Die Zeit‘ gleich drei Mann hoch beim Bundespräsidenten anrückt und den obersten Repräsentanten der Republik mit der verzweifelten Feststellung „Die Nation fühlt sich verwirrt und verloren“ bedrängt, ja, ein „hilfreiches Wort“ gegen die „Verdächtigungen und Beschimpfungen“ aus dem Ausland erbittet, dann stehen die Zeichen tatsächlich auf Sturm. Doch auch die gewohnt klugen und wohlabgewogenen Äußerungen Richard von Weizsäckers, der „hohe Emotionalität und Widersprüchlickeit“ eher bei den westlichen Kritikern als im kritisierten Deutschland sieht, konnten nichts daran ändern, daß nicht nur das äußere, sondern auch das innere Weltbild der gerade „vereinten“ Deutschen schwerwiegenen Irritationen ausgesetzt ist.

Eben noch als „neue Weltmacht“ in der Mitte Europas, als Brücke zum Osten und Entwicklungshelfer des Südens apostrophiert, sieht sich die größere Bundesrepublik seit Beginn der Kriegshandlungen am Golf einer Tag für Tag anschwellenden Flut von Anwürfen ausgesetzt, die auch mit milliardenschweren Schecks, Blitzbesuchen in Israel, eilig nachgeholten Regierungserklärungen und als Ballast mit dem Fallschirm abgeworfenen Gesetzesverschärfungen für illegalen Rüstungsexport bisher nicht zurückzudrängen war. Nicht einmal die Lieferung von Artilleriemunition an die Alliierten und Millionen nach Israel, weder „Roland“-Flugabwehrraketen für die Türkei noch „Fuchs“-Spürpanzer für die US- Streitkräfte am Golf konnten den Ernstfall verhindern: „Genscherismus“ steht in bestimmten Kreisen der Nato-Staaten nicht mehr für überlegte Diplomatie, die den Verlust der sowjetischen Rolle als Supermacht geschickt zu nutzen verstand, sondern für „Drückebergerei“, Feigheit vor dem Feind und Lauheit in der Gesinnung.

Jeder Versuch, aus dem Bermuda-Dreieck herauszukommen, in dem die noch vor Monaten gefeierte deutsch-amerikanische Freundschaft untergetaucht war, verstärkte noch die Unterstellungen, hier wolle sich schlechtes Gewissen freikaufen. Zwischen deutschem Giftgas, pazifistischen Demonstrationen und Helmut Kohl, der lieber Friedenskanzler als Kriegsherr sein wollte, hatte sich plötzlich ein schwarzes Loch aufgetan, das die traditionellen und routinierten Bekundungen von Wertegemeinschaft, Sympathie und ewiger Bündnistreue verschluckte. Statt dessen tauchten alte Ressentiments wieder auf: fettgefressene German „Krauts“, romantische Träumer im Reich des reinen Geistes und skrupellose Händler des Todes, die sich der ethischen und politischen Verantwortung entziehen. Der häßliche Deutsche war wiedergeboren.

Zu diesem außenpolitischen Zerrbild konnte es keinen größeren Widerspruch geben als das innenpolitische Selbstbild. Bundeswehrsoldaten, die den Kriegsdienst verweigerten, bekannten sich offen zur männlichen Untugend Nummer 1, der Angst, und ein leibhaftiger Flottillenadmiral im Ruhestand war noch stolz darauf. Tausende von Wehrpflichtigen nahmen den langjährigen Slogan der „starken Truppe“ — „Unser Ernstfall ist der Frieden“ — beim Wort und blieben zu Hause. Schriftsteller promenierten nicht mehr in eroberten Boulevards des Erzfeindes wie dereinst Ernst Jünger in Paris, sondern beherbergten fahnenflüchtige GIs wie der Mutlangen- Veteran Walter Jens. Große Teile der politischen Klasse quer durch alle Parteien zeigten sich zufrieden mit dem sichtbaren Erfolg des „moralischen Exorzismus“ der Deutschen nach 1945, denen man jetzt nicht als endlich „trocken“ gelegten Ex-Alkoholikern die gefährlichen „Cognacbohnen“ der aktiven Kriegsteilnahme anbieten solle, wie der sozialdemokratische Chefasket Oskar Lafontaine mahnte. Deutschland — eine ökopazifistische „Punica-Oase“, in der Gewerkschaftsvertreter den kriegsbedingt ausgefallenen arbeitsfreien Rosenmontag vor Gericht einklagen und mit der Verweigerung von Überstunden bei der Tornado-Produktion der „Deutschen Airbus AG“ ein weiteres Zeichen für den Frieden im Normalbetrieb setzen, während autonome Friedenskämpfer am höchsten Feiertag des Karnevals zu einem „Kriegskrüppelzug am Totenmontag“ aufrufen: „Kommt auf Krücken! Kommt im Rollstuhl! Stellt Verwundungen dar! Organisiert den Totenmontags- umzug auch in eurer Stadt!“ — Deutschland, ein Fels in der Brandung, der ruhende Pol der Vernunft inmitten des Aufruhrs der Welten?

Die merkwürdige Dialektik des deutschen Spiegelbilds zwischen Feigling und Friedenskämpfer entsprang tatsächlich jener Idylle namens Bundesrepublik, in der zwischen 1969 und 1989 eine „zivile“ Gesellschaft entstanden war. Ihre Konsensformel, daß „Krieg kein Mittel der Politik mehr“ sei, wurde trotz RAF und GSG 9, trotz Bundeswehr und Rüstungsexport mehr als eine Floskel in Regierungserklärungen des Birnenkanzlers. Es war die heimliche Staatsraison eines Landes, dessen Geschichte und Gegenwart den Krieg nicht mehr denken ließ, weil er nur als Atomkrieg denkbar war.

Wer in den siebziger Jahren als Wehrpflichtiger in die Kaserne einrückte, spürte schnell die ganz besondere Surrealität der westdeutschen Streitkräfte, deren einzig denkbares „Feindbild“ offiziell keines sein durfte und deren Auftrag es war, sich selbst — als „kämpfende Truppe“ — überflüssig zu machen. „Russenwitze“ kreisten nicht um mögliche Kampfhandlungen, sondern um ihre Absurdität, ihre Unmöglichkeit: tödlich war die Lächerlichkeit des Krieges, eben weil er der pure „Wahnsinn“ war.

Dieses Motiv stand auch im Zentrum der Friedensbewegung zu Beginn der achtziger Jahre, als Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles stationiert wurden. Jegliche Vorbereitungen für einen „Ernstfall Krieg“ konnten nur als Vorbereitungen zur Apokalypse Europas verstanden werden, wobei die Kritik an dem PR- Euphemismus „Nachrüstung“ die von der Sowjetunion betriebene Vorrüstung mit der SS 20 (von Moskau inzwischen eingestanden) völlig verdrängte, ja, zuweilen legitimierte.

Schon damals nahm sich die aufgeklärte, kritische Vernunft der Perspektive der Opfer an. Die Täter waren Anhängsel der „exterministischen“ Maschinerie, die lächerlichen Galionsfiguren eines längst verselbständigten Apparats, der den Overkill nur noch potenziert. Ex- Hollywood-Schauspieler Ronald Reagan war das Synonym für den vermeintlich Schwachsinnigen, der mit dem Wahnsinn spielt.

Die Vernunft der potentiellen Opfer bestand dagegen in der Extrapolation jener „Logik der Abschreckung“, die in unvorstellbarer Vernichtung enden würde. Doch das Paradoxon der atomaren Abschreckung — Verteidigung als hocheffiziente, schwer bewaffnete Selbstlähmung — beeinflußte auch den Pazifismus der achtziger Jahre. Die Blockierer von Mutlangen, auf Apfelsinenkisten und Luftmatratzen sitzend, ebenso wie die Friedenscamper, die sich zum „gewaltfreien Training“ trafen, konzentrierten ihre Kraft ganz bewußt auf 'Lähmung‘: Behinderung militärischer Transporte, Verhinderung eigener Gewaltausbrüche. Die Friedensbewegung war — ungeachtet einzelner militanter Gruppen — davon überzeugt, daß kein Konflikt die Anwendung von Gewalt erlaube, deren Eskalation, im Kleinen wie im Großen, stets vorgezeichnet sei. Auf diese Weise wurden (übrigens auch innerhalb der verschiedenen Organisationen) Konflikte tendenziell tabuisiert, ausgegrenzt. Wo die Gattung Mensch unmittelbar in ihrer Existenz bedroht ist, dokumentieren Streit und Dissens immer nur Schwäche, mangelnde Entschlossenheit, wenn nicht Verrat an der Sache.

Ein folgenreiches Resultat dieser Ausgrenzung war die Blindheit gegenüber dem „real existierenden Sozialismus“, dessen Gewalttätigkeiten — von wenigen Ausnahmen abgesehen — keine Rolle im Friedensdiskurs spielten. Mehr noch, die Freiheits- und Bürgerrechtsbewegungen in der UdSSR und ganz Osteuropa wurden eher als Störenfriede denn als Verbündete betrachtet. Diese intellektuelle und politische Selbstlähmung der Friedensbewegung hat nicht nur den Konservativen Argumente geliefert (was die Angst vor Beifall von der „falschen“ Seite gerade verhindern sollte), sondern auch eine politische Symbolik gefördert, die das Denken — entgegen der progressiven Rhetorik — häufig in konservative Schablonen preßt, statt es zu befreien. Der Fall der Mauer war das erste Ereignis, das die westdeutsche Idylle erschütterte; der Golfkrieg bringt sie nun noch mehr ins Wanken. Durcheinander geraten ist in diesen Wochen nicht nur das Verhältnis von Tätern und Opfern, von Außen- und Selbstwahrnehmung. Geradezu verkehrt haben sich auch die trotz aller Verwirrungen immer noch erkennbaren politischen Lager und Fronten. Hatte schon das Ende der DDR das Unterste zuoberst gekehrt, ideologische, philosophische und politische Konstellationen aufgebrochen und erodiert, Identitäten und Biographien umgeworfen, so sorgte der Einbruch des Kriegs in den deutschen Selbstfindungsprozeß für weitere Verwerfungen.

Die Rückkehr des antagonistischen Konflikts in seiner brutalsten Form, des Kriegs, hat den linksliberalen Diskurs gesprengt, auch wenn das deutsche Talkshow-Wesen nach Kräften versuchte, den gewohnten Rahmen der aufgeklärt-moderaten Interpretationsübermacht gegenüber den Zudringlichkeiten der gemeinen Realität wiederherzustellen. Auch der scheinbar unerschöpfliche Reichtum an Nahost-Experten, Geschichtsprofessoren, Theologen und anderen berufsmäßig Betroffenen hat es nicht vermocht, die neu aufgebrochenen Risse zu kitten.

„Wir sind geschiedene Leute“, ruft Wolf Biermann denen zu, die mit Palästinensertüchern am Hals gegen die „US-Aggression“ am Golf demonstrieren. Biermann ist „für diesen Krieg am Golf“. Sein einstiger Mitstreiter für den Frieden vor Mutlangen, Walter Jens, weiß dagegen eines ganz genau: „Es hat nie einen gerechten Krieg gegeben.“ Hans- Magnus Enzensberger hat Saddam Hussein als „Wiedergänger“ Hitlers entdeckt, gegen den Krieg zu führen doch zumindest gerechtfertigt, wenn nicht geboten war. Walter Boehlich, einer der in die Jahre gekommenen unerbittlichen kritischen Kritiker, beschwerte sich pfeifeschmauchend im Hessischen Fernsehen, man habe ihn über die sich am Golf zusammenbrauenden dunklen Vorgänge nicht rechtzeitig „unterrichtet“, was der gleichfalls anwesende Essayist Lothar Baier für sich glaubwürdig dementieren konnte. Auch Heiner Müller war und ist voll im Bilde, doch auf die klassische Frage eines verzweifelten TV-Reporters, was er denn „als Intellektueller“ tun könne, antwortete der Ostberliner Dramatiker schlicht, aber wahrheitsgemäß: „Nichts. Ich tue meine Arbeit.“

Um dieses „Nichts“ aber dreht sich der Streit, der brave Sozialdemokraten auf die Seite entschiedener Pazifisten treibt und ehemalige Mitglieder des „Kommunistischen Bundes“ und anderer linksradikaler Gruppen zu „Falken“ macht, die den von der UNO legitimierten Krieg gegen den irakischen Tyrannen für notwendig halten. Während einer Veranstaltung in Frankfurt am Main präsentierte sich das ganze Spektrum zwischen „Bellizisten und Pazifisten“ (Detlev Claussen) innerhalb derer, die sich nach wie vor zur Linken zählen. Hinter all den inzwischen bekannten Argumenten verbarg sich die Frage, was aus der — zumal deutschen — Geschichte zu lernen sei.

Die eine Lehre eint den Macho Lafontaine, die Frauenaktion „Scheherazade“ und die Theologin Dorothee Sölle: „Nie wieder Krieg!“ Die ander Konsequenz, der eher Willy Brandt, der Mutlangen-Blockierer und Lafontaine-Freund Hans-Ulrich Klose und „68er“ wie Micha Brumlik, Cora Stephan und Michael Rutschky zuneigen, heißt: „Nie wieder Faschismus!“

Die erste Position betont den fortschritts- und zivilisationskritischen Protest gegen die mörderischen Megastrukturen, die die ganze Menschheit zur „Geisel“ nehmen; die Gegenposition hebt die von Enzensberger skizzierte terroristische Untergangsdynamik eines Regimes hervor, mit dem Frieden zu schließen allenfalls um den Preis der Freiheit möglich wäre. Während die einen also alles unter der Tyrannei des Krieges begraben sehen, fürchten die anderen die Friedhofsruhe einer expansiven Despotie. In jeder der beiden Positionen finden sich Elemente der jeweils anderen Option. Die Schrecken des Krieges lassen sich — jedes tote Kind lehrt es — so wenig auf die unvermeidlichen „Kosten“ der Befreiung reduzieren wie das mörderische Regime Saddams auf den Preis des Friedens.

Am Verhältnis zu Israel zeigt sich jedoch der tiefe Dissens zwischen dem linkstraditionalistischen Ökopazifismus und jener streitbaren Konsequenz aus den Erfahrungen der Jahre 1933-1945. Micha Brumlik trat just wegen jener Haltung aus der Grünen-Partei aus, die ihr Sprecher Ströbele in diesen Tagen noch einmal in charakteristischer Weise formulierte: Er sei gegen die Lieferung deutscher Patriot-Abwehrraketen nach Israel, weil jede Waffe den Krieg verlängere und zu seiner Eskalation führe. Israel sei mitverantwortlich für den Ausbruch des Golfkrieges, von dem es nun auch selbst getroffen werde.

Es ist diese Mischung aus unfehlbarer Weisheit grüner Graswurzelerkenntnisse und dem unüberhörbaren Tonfall des „Selber schuld“ gegenüber dem jüdischen Staat (den man sich im übrigen gegenüber den ausnahmslos in Diktaturen lebenden arabischen Völkern nie erlauben würde), die die in- und ausländischen Kritiker auf den Plan ruft und eine neue Diskussion „deutscher Verantwortung“ in der Welt ausgelöst hat.

Daß die Lehre aus der totalen Täterschaft von Auschwitz die Mimesis der Opfer sei, wird gerade von den Opfern vehement bestritten. Nicht nur in Israel, auch in England und Frankreich, in den Niederlanden, Belgien und Dänemark, den Opfern deutscher Aggression im Zweiten Weltkrieg, wundert man sich deshalb über die eherne Abstraktion des gesamtideellen Leitsatzes, Gewalt sei kein Mittel der Politik. Wenn diese Äußerung von Förderern und Duldern deutscher Waffen- und Giftgasexporte oder von linken Befürwortern des revolutionären Kampfes in der „Dritten Welt“ kommt, wird das Befremden nicht geringer.

Allzuleicht wird in Deutschland der kategorische Imperativ zur utopischen Kurzschlußhandlung, die die beste aller Welten in der Tasche zu haben glaubt und meint, den Rest der Welt nur noch von ihrer Wahrheit überzeugen zu müssen.

Wer aber die These vom Beginn eines „Dritten“ Weltkriegs ernstnimmt und sie als Kampf um die Verteilung von Lebenschancen und Menschenrechten zwischen Nord und Süd zu verstehen versucht, kann sich gerade nicht auf die angeblich überlegene Vernunft von Zwölfjährigen zurückziehen, wie Horst Eberhard Richter empfiehlt.

Deutsche Kritik an dem idiotischen „Hurra, wir sind im Krieg“- Geschrei in England, an französischer Grande-Nation-Bigotterie, amerikanischem Missionsglauben und israelischer Sturheit (und Repression) gegenüber den Palästinensern wird sich nur in einer offenen politischen Auseinandersetzung realisieren lassen, die moraline Rechthaberei und Selbstgefälligkeit ebenso vermeidet wie autoritär strukturierte Unterwürfigkeit.

Dazu bedarf es einer Bewegung der Vernunft, die in diesen Tagen der großen Bekenntnisse hin und hergerissen ist: für das Menschenrecht auf Leben, also gegen den Krieg, für die Durchsetzung des Völkerrechts, also für den Krieg. Wer immer sich abseits des mörderischen Geschehens äußert, tut es unter Abstrahierung vom konkreten Krieg. Der Protest gegen ihn ist deshalb so abstrakt wie seine Befürwortung. Jedes Bild eines verbrannten Kindes kann alles und nichts ändern. Die Worte bleiben im Halse stecken und müssen dennoch stets neu gefunden werden — nach hunderten Toten in einem Bunker Bagdads, vor einer alliierten Bodenoffensive und in den Augenblick, da die Meldung kommt, der Irak habe sich bereit erklärt, sich aus dem Irak zurückzuziehen.