Verzweifelte Aussichten

■ Oskar Lafontaine plädiert für Waffenstillstand und Diplomatie DOKUMENTATION

Wieder einmal sind in Deutschland die Demonstrationszüge gegen Krieg und Gewalt länger und zahlreicher als in den meisten Nachbarländern. Wer sich darüber jetzt wundert, muß ein kurzes Gedächtnis haben. Bereits in den 80er Jahren, als es noch galt, das atomare Wettrüsten zwischen Ost und West zu stoppen, hatte die Friedensbewegung in der Bundesrepublik mehr Menschen auf die Straße gebracht als in jedem anderen europäischen Land. Auch damals schon wurden im Ausland Stimmen laut, aus denen Unverständnis, gar Unbehagen über eine solche Friedfertigkeit deutlich herausklang. Dabei ist nichts so verständlich wie die Friedenssehnsucht gerade der Deutschen, ist sie doch das logische Ergebnis eines schweren nationalen Traumas: Gleich zweimal im Verlaufe des 20. Jahrhunderts hat Deutschland den Frieden mit Stiefeln getreten, hat ganze Länder, auch das eigene, in Brand gesetzt, hat den Tod von Millionen auf sich geladen. Mit dieser Schuld mußte das Gewissen der Deutschen fertigwerden. Nur Japan hat eine ähnlich traumatische Erfahrung gemacht, verstärkt noch durch das Leid von Hiroschima. Auch dort schlug sich der Schock in einem konstitutionellen Pazifismus nieder. Die Reaktion der Deutschen war vergleichbar.

Als der Parlamentarische Rat die Ächtung des Angriffskrieges, sei er noch so gerecht, ins Grundgesetz schrieb, nickten die Siegermächte beifällig. Und sie nickten weiter, als sich die Deutschen anschickten, gemäß ihrer demokratischen Verfassung zu denken und zu empfinden. „Nie wieder Krieg“ hieß die Losung des Neubeginns. Deutsche Lehrer bleuten sie deutschen Kindern ein, deutsche Pastoren predigten sie von deutschen Kanzeln, deutsche Politiker bekräftigten sie in deutschen Parlamenten. Das war gut so. Kein Philosoph und kein Dichter wagte es noch, den Krieg als solchen zu rechtfertigen. Ernst Jünger kam außer Mode, Wolfgang Borcherts Sag nein wurde an die Pinnwände geheftet.

Deutschland muß sich zurückhalten

Den Deutschen ihren Kasernengeist auszutreiben war eine primordiale Frage der europäischen Sicherheit. Es wäre schlecht um uns Deutsche bestellt, hätte dieser moralische Exorzismus seine Wirkung verfehlt. Wenn aber die Umerziehung der Deutschen das Ziel aller war, warum heute klagen, daß sie so gut gelungen ist? Tod oder Leben, das ist nach wie vor die Kernfrage von Krieg und Frieden. Warum sich entrüsten, daß junge Deutsche heute gegen den Tod und für das Leben demonstrieren? [...] Seit 1945 hält das Ausland uns Deutsche zu kollektiver Trauerarbeit an: „Vergeßt nie, was ihr angerichtet habt.“ Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte steht für Deutsche unter einem anderen Vorzeichen als für alle übrigen Nationen, die nicht durch das Kainsmal „Auschwitz“ gezeichnet sind. Wer die Deutschen mahnt, sich dieser moralischen Hypothek stets bewußt zu bleiben, muß ihnen wohl zugestehen, aus einer spezifischen Erinnerung auch eine spezifische Einstellung zu gewinnen. Dies hat weniger mit einem neuen deutschen Sonderweg zu tun als vielmehr mit der historischen Singularität der Verbrechen, die von den Nazis im Namen der Deutschen begangen wurden.

Noch kein Jahr ist es her, da spukte durch die internationale Presse das Gespenst des „Vierten Reichs“: Die Vorstellung eines großen, starken vereinten Deutschland, das an Machtpolitik und militärischen Aktionen erneut Gefallen finden könnte, löste überall Frösteln aus. Und nun verlangen ausgerechnet dieselben Leute, die bis dato nicht müde wurden, die Welt vor einem großen Deutschland zu warnen, von diesem Deutschland, es solle sich machtpolitisch und militärisch stärker in der Welt engagieren. Weiß man im Ausland nicht, daß man einem ehemaligen Alkoholiker, der es endlich geschafft hat, „trocken“ zu sein, keine Cognacbohnen anbieten soll? Die alte deutsche Rechte hört die neuen Töne aus dem Ausland gern, leidet sie doch schon lange mehr oder weniger offen darunter, daß die deutsche Außenpolitik nicht machtbewußter auftrumpft. Es wäre fatal, wenn die deutsche Rechte im Schatten des Golfkrieges ihr Süppchen kochen könnte. Deutschland muß sich zurückhalten, was die militärische Unterstützung für die Alliierten betrifft. Wer allerdings für die eigenen Soldaten beansprucht, daß sie nicht in den Krieg zu ziehen brauchen, muß dies für alle Soldaten beanspruchen. Jede Moral des „Ihr kämpft, wir zahlen“ bleibt fragwürdig. Mit mangelnder Bündnistreue oder Solidarität, gar mit Antiamerikanismus darf dies nicht verwechselt werden.

Selbstverständlich schulden vor allem wir Deutsche den Israelis Beistand, solange sie angegriffen oder bedroht werden. Das darf uns aber nicht daran hindern, den Frieden zu fordern — das Ende der Bedrohung auch für Israel. So sehr ich es begrüße, daß die Bundesrepublik Abwehrraketen nach Israel sendet, so sehr bedauere ich es, daß die Bundesregierung ihre diplomatischen Möglichkeiten nicht stärker nutzt, um neue Friedensinitiativen zu ergreifen. Dies wäre in meinen Augen die Aufgabe, der sich Deutschland in Erinnerung seiner Geschichte und aus neugewonnener Verantwortung zu stellen hat. Je schmäler die Leistung der Bundesregierung in dieser Hinsicht, desto breiter der Protest auf der Straße.

Protest als Ausdruck von Scham

Ist es das schlechte Gewissen, das die Bundesregierung lange Zeit lähmte, zu Friedensinitiativen unfähig machte? Sie hat den legalen Waffenhandel durch Bürgschaften unterstützt: Dank deutscher Hilfe erreichen jetzt irakische Scud-Raketen die israelischen Städte. Und sie hat zuwenig getan, um die illegale Ausfuhr von Rüstungsgütern zu unterbinden: Dank deutschem Know-how ist jüdisches Leben erneut von Gas bedroht. Welch eine Schande! Auch andere Regierungen, deren Soldaten heute am Golf kämpfen, haben sich kräftig an der Aufrüstung Saddam Husseins beteiligt — ein trauriger, unverzeihlicher Skandal. Doch wird die Scham, die viele Deutsche angesichts der todbringenden Geschäftstüchtigkeit einiger deutscher Unternehmer befällt, dadurch keineswegs gemildert. Der Triumph der Marktwirtschaft über die stalinistische Planwirtschaft ließ uns zu früh vergessen, daß auch das kapitalistische Wirtschaften seine ruchlosen Seiten hat.

Gewiß ist der Protest der deutschen Friedensbewegung zu einem Teil der Ausdruck von Scham. Daß die Scham dort am größten ist, wo die Schuld am geringsten, ist so ungewöhnlich nicht. Keine andere Gruppe hat in der Vergangenheit entschiedener und nachhaltiger ein striktes Exportverbot für Rüstungsgüter gefordert wie gerade die Friedensbewegung. Wäre es nach ihr gegangen, brauchte man heute einen Saddam Hussein nicht unter hohem Blutzoll „zwangsabzurüsten“. Daß ausgerechnet diese Friedensbewegung jetzt wegen Rufschädigung an den Pranger gestellt wird — sogar von denen, die sich früher im Namen der Handelsfreiheit vor die Todesexporteure stellten —, ist ein Aberwitz. Wenn je dem deutschen Ansehen im Ausland geschadet wurde, dann nicht von einer bunten Friedensbewegung, sondern von skrupellosen Geschäftemachern, von Todesexporteuren und Gastechnikern und denen, die sie gewähren ließen. Aus dem Golfkrieg müssen wir die Lehre ziehen, daß derlei Geschäfte in Zukunft nicht mehr möglich sein dürfen.

Die Friedensbewegung ist vor allem ein Ausdruck des Protestes gegen die menschliche Unvernunft. Krieg entsteht in den Köpfen. Solange wir Krieg als letztes Mittel der Politik akzeptieren, wird er immer wieder ausbrechen. Und er wird um so eher ausbrechen können, je harmloser er sich darstellen darf. Militärische Zensur reduziert den Golfkrieg im Fernsehen auf ein weitgehend unblutiges Videospiel. Auch die Boulevardpresse gab diesem Krieg eine sportliche Note: „Go get him boys!“, mit dieser Schlagzeile kündigte ein englisches Massenblatt den Beginn der Kampfhandlungen an — als gelte es, den UEFA-Cup auf die Insel zu holen. Gegen diese Art Kriegsverharmlosung oder Kriegsverherrlichung ist Protest ein Gebot der Moral. Und diesem Protest schließe ich mich erst recht an, wenn ich das Gefühl habe, er soll auch noch diskreditiert werden. [...]

Der Krieg entsteht in den Köpfen

Protest gegen Krieg und Gewalt ist eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften der westlichen Demokratie. Würde diese Errungenschaft auch nur für einen Augenblick in der Öffentlichkeit diskreditiert, wäre dies vielleicht der schrecklichste Sieg, den ein orientalischer Despot über den Westen erringen könnte. Aber Saddam Hussein darf nicht siegen, weder er selber noch sein Prinzip — die Gewalt. Würde der Irak militärisch entscheidend geschlagen und der Krieg als erfolgreiches Mittel der westlichen Politik dadurch wieder salonfähig, wäre auch dies eine Niederlage der Kultur.

Es fiele mir schwerer, gegen die Barbarei auch des Krieges am Golf zu sein, wenn ich nicht der festen Überzeugung wäre, daß es menschenwürdigere, vernünftigere Mittel gab, einen Diktator zur Raison zu bringen; wenn ich nicht der Überzeugung wäre, daß es diese Mittel noch immer gibt. Hätte man dieselbe Kraft und dasselbe Geld, die jetzt der Krieg verschlingt, für die Durchsetzung eines wirksamen Embargos eingesetzt, dem hätte kein Land wie der Irak auf Dauer widerstehen können. Aus dem Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt ist selten etwas Gutes herausgekommen. Kuwait wird befreit werden, vielleicht, wahrscheinlich. Aber es wird dann auch frei sein von allem, was ein Land an Lebenswertem zu bieten hat. Von Bismarck stammt der kluge Satz, daß man für einen Krieg einen Grund haben sollte, der auch nach dem Krieg noch Bestand hat. Gut, der Diktator Saddam Hussein wird möglicherweise ausgespielt haben, seine Vernichtungsmaschinerie wird weitgehend vernichtet sein, die Menschen in Israel werden ruhiger schlafen können. Fragt sich nur, wie lange.

Schon jetzt steht fest, daß der Preis für diesen Frieden hoch sein wird. Zu hoch? Es wäre makaber, eine Gegenrechnung mit getöteten oder verstümmelten Menschen aufzumachen. Die politische Gegenrechnung ist beunruhigend genug. Dieser Krieg wird dem religiösen Fundamentalismus Auftrieb geben. Unter den Trümmern des Krieges werden auch die Keime von Demokratie und Frauenemanzipation, die es in der arabischen Welt in bescheidenem Ausmaß gibt, verschüttgehen. Jede Modernität wird verteufelt werden. Was aber könnte ein religiöser Obskurantismus anderes gebären als neue Gewalt? Und wen sonst als Israel wird diese Gewalt zuerst treffen? Das sind verzweifelte Aussichten für eine notwendige spätere Nahost-Konferenz.

Es kann also nie zu spät sein, auf den Weg der Vernunft zurückzukehren: alle Kampfhandlungen einzustellen und der Diplomatie eine neue Chance zu geben.

Der Beitrag ist leicht gekürzt. Er erschien zuerst in der Züricher 'Weltwoche‘.