Die Justiz in den neuen Ländern
: Neue Gesetze für alte Richter

■ Nur schleppend kommt der Aufbau von Justizverwaltungen und Gerichten voran. Noch ist unklar, wie viele der ohnehin wenigen Richter und Staatsanwälte weiter amtieren können. Aber Brandenburgs Justizminister Bräutigam will keine „Besatzungsjustiz“.

Der Weg führt über die schmale Treppe im ersten Stock, vorbei an unausgepackten Kisten, immer in Richtung Damentoilette. Und die kleine Tür dahinter, ganz am Ende des Ganges, führt nicht etwa ins Pissoir, sondern ins Büro des Ministers für Justiz des Landes Brandenburg. Einen Kaffee anbieten kann der Herr Minister nicht („Personalknappheit, Sie verstehen“). Im winzigen Vorzimmer sitzt ein haareraufender Büroleiter, der jeden seiner Arbeitstage mit dem Leitsatz beginnt: „Ich will heute nicht aufgeben.“ Justizminister Hans-Otto Bräutigam hat den Mann aus dem Westen mitgebracht, genauso wie seine persönliche Sekretärin. Die schleppte wenigstens eine Schreibmaschine von zuhause an, doch nun fehlt es an einer Schreibkraft. Im Zimmer stapeln sich zwar die Bewerbungsschreiben für die zahllosen unbesetzten Stellen, aber es gibt niemanden, der die Briefe sichtet. Und das ist vielleicht auch gut so, denn wären die Bewerber endlich eingestellt, man wüßte nicht wohin mit ihnen — es gibt weder genug Räume noch Schreibtische.

Der parteilose Minister, ein „Westimport“, hat sich diese Notsituation selbst ausgesucht, denn die Aufgabe reizt. Die Aufgabe heißt in schlichten Worten: Erneuerung des Justizwesens. Und das bitte schön von Grund auf und aus dem Nichts.

Eine föderale Justizverwaltung war in der streng zentralistischen DDR nicht vorhanden. Und Rechtsstreitigkeiten oder Gesetzesbrüche waren so wenig eingeplant, daß das gesamte Land mit nur 2.800 Richtern und Staatsanwälten auskam. „Wir hatten hier niemanden, der wußte, was ein Justizministerium überhaupt macht“, erinnert sich Bräutigam an die ersten Amtstage. Neuordnung des Justizwesens, nur wie und vor allem auch mit wem?

Das „Wie“ hat weitestgehend der Einigungsvertrag vorgegeben, indem er von einem Tag auf den anderen bundesdeutsches Recht und den fünf neuen Ländern westdeutsche Gerichtsstrukturen überstülpte. An dem „Mit wem?“ beißen sich die zuständigen Gremien in zähen Diskussionen die Zähne aus. Denn die wenigen Richter und Staatsanwälte, die es in der ehemaligen DDR gab, haben sich als Berufsstand in den vergangenen 40 Jahren selbst abgrundtief diskredidiert. Jeder zehnte Jurist, so urteilt die Zentrale Erfassungsstelle der Länderjustizverwaltungen in Salzgitter, die jahrzehntelang die Urteile der DDR-Justiz unter die Lupe genommen hat, ist „eindeutig vorbelastet“.

Brandenburgs Justizminister weiß um diese Hypothek. Jahrelang hat Hans-Otto Bräutigam als Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin Erfahrungen mit politischer Strafjustiz in der DDR gemacht. Dennoch plädiert er: „Man kann nicht Tabula rasa machen. Die Kontinuität der Rechtspflege muß gewährleistet sein. Auch wenn das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz nicht sehr groß ist, wir können nicht nur Westjuristen hierher holen. Es kann keine Justiz nur von Fremden sein. Das wäre eine Besatzungsjustiz, und die will ich nicht.“

Die von Bräutigam eingeforderte „Kontinuität der Rechtspflege“ ist zumindest personell auch durch Gesetze der früheren DDR-Volkskammer vorgezeichnet. Danach mußten zwar sämtliche Richter und Staatsanwälte der ehemaligen DDR ihre Ämter zur Disposition stellen. Doch bis zu einer Überprüfung ihrer „persönlichen und fachlichen Eignung“ können sie weiter amtieren — und sie tun es auch (siehe Kasten). Auch wie diese Überprüfungen aussehen sollen, darüber hatte die alte DDR- Volkskammer noch einen Beschluß gefaßt: Analog zur Regelung in der Bundesrepublik sollen aus Parteienvertretern und Justiz gewählte Richterwahlausschüsse und Staatsanwaltsbestellungsausschüsse entscheiden, welche Juristen endgültig in den Staatsdienst übernommen werden.

Doch die Arbeit dieser Wahlausschüsse kommt allenthalben nur schwer in Gang. Die in die Ausschüsse gewählten Parteienvertreter sind oft längst als Abgeordnete in Bonn und müssen ersetzt werden, Richter und Staatsanwälte zogen oftmals ihre Nominierung zurück, weil sie selbst „belastet“ waren. Und die Zentralstelle Salzgitter und die Behörde, die die alte Stasi auflösen soll, haben ihre Unterlagen über die einzelnen Bewerber noch nicht aufbereitet. In Berlin, wo die Richterwahlausschüsse die Überprüfungen bei den unverfänglichsten KandidatInnen aufgerollt haben, haben bisher gerade mal vier von mehreren hundert Prüfverfahren erfolgreich überstanden. In Brandenburg haben sich die sechs Ausschüsse gerade mal konstituiert und zunächst Kriterienkataloge für die Überprüfung erarbeitet.

Diese Kriterienkataloge sind weitgehend identisch mit den Fragebögen, die das brandenburgische Justizministerium den bisher 350 BewerberInnen geschickt hat. Diese Fragebögen sind nicht unumstritten. Weil dort nicht nur unter anderem nach Ämtern und Funktionen in der alten SED gefragt wird, sondern auch nach der Mitgliedschaft in der PDS, haben sie sich den Vorwurf der Gesinnungsschnüffelei eingehandelt. Zu Unrecht, meint Justizminister Bräutigam: „Die Mitgliedschaft in der SED kann kein Ausschlußgrund sein. Wir können doch nicht eine ganze Kaste ausgrenzen. Aber ich will wissen, wie sich jemand in der SED verhalten hat. Dasselbe gilt auch für Mitglieder der alten Blockparteien.“ Und warum die Nachfragen zur PDS-Mitgliedschaft? Weil man die PDS noch nicht richtig einschätzen könne, und weil er unterscheiden möchte zwischen aufrechten sozialistischen Reformern und alten stalinistischen Sturköpfen: „Sicher, wer zehn Jahre politisches Strafrecht in der DDR gemacht hat, kommt nicht mit reiner Seele raus. Das Schlimmste wäre wohl, rein formal zu entscheiden.“ Bis zum 15. April, so will es das Papier des Einigungsvertrages, soll die Überprüfung sämtlicher Richter und Staatsanwälte abgeschlossen sein, aber — so die Einschätzung auch in den anderen Bundesländern — dieses Datum einzuhalten, ist illusorisch.

Doch auch wenn diese Überprüfungen eines Tages abgeschlossen sein sollten, stehen die Länder vor einem Torso. Selbst wenn alle Richter und Staatsanwälte übernommen würden, ihre Zahl würde bei weitem nicht ausreichen. Brandenburg zum Beispiel bräuchte dreimal so viele Juristen, wie jetzt — noch unüberprüft — auf der Bewerberliste stehen. Dann wäre das Bundesland annähernd so bestückt wie das vergleichbare Schleswig-Holstein.

Die Justiz in den fünf neuen Bundesländern muß jedoch nicht nur mit einem Minimum an Personal auskommen, sondern auch mit einer Generation von Berufsanfängern. Denn obwohl viele Richter und Staatsanwälte schon zehn oder zwanzig Dienstjahre hinter sich haben, ist die Rechtsprechung Neuland für sie, ob Strafprozeßordnung, Bürgerliches Gesetzbuch oder Mietrecht. Was bundesdeutsche Jurastudenten semesterlang pauken, die Richter und Staatsanwälte in der Ex-DDR sollen es nun nebenbei erlernen. In Super- crash-Kursen — mal tageweise, mal einen ganzen Monat — werden die DDR-Juristen derzeit von Westkollegen aus den jeweiligen Partnerbundesländern in die Geheimnisse von Eigenbedarfsklagen, Kündigungsschutz, Wiederaufleben erloschener Rechtsansprüche oder rechtlichen Voraussetzungen für Freiheitsentzug eingeweiht.

Wie das gutgehen soll? Minister Bräutigam betrachtet das Ganze mit einem gehörigen Schuß Pragmatismus: „Ein guter Richter weiß, was ein vernünftiges Urteil ist, er hat nur Schwierigkeiten, es zu begründen. Aber das kann man lernen, und man lernt am Fall. Wenn wir nicht genug Richter haben, dann wird man eben das Verfahren beschleunigen müssen, und die Urteile werden knapper sein. Wenn wir die deutsche Einheit mit Perfektionismus betreiben wollen, machen wir mehr kaputt, als wir aufbauen.“

Selbst wenn die personellen und materiellen Möglichkeiten diesen Pefektionismus erlauben würden — der erwartete Kollaps der Gerichte in den fünf neuen Ländern wäre damit nicht umschifft. Denn auf die ehemalige DDR rollt eine Prozeßwelle sondergleichen zu. Massenkündigungen ziehen Hunderte von Arbeitsgerichtsprozessen nach sich. Die Fälle von Vermögensstreitigkeiten gehen in die Millionen. Räumungsklagen wegen steigender Mieten sind nur noch eine Frage der Zeit, und die Kriminalität steigt rapide an. Noch bilden jedoch die vorgelagerten Behörden einen Schutzwall gegen die Prozeßflut. Weil die Liegenschaftsämter, Wohnungsbaugesellschaften oder Polizeireviere selber überlastet sind, lagern die meisten Fälle noch dort vor sich hin.