's ist Krieg

Zur Anatomie des gepflegten Schreckens  ■ Von Reinhard Mohr

Nach der Euphorie des europäischen „Revolutionsjahres“ 1989/90, nach all der Hoffnung auf ein glückliches Ende der bleiernen Epoche des „Kalten Krieges“ wirkte der Schock doppelt: Die Nacht, als die Aktion „Wüstensturm“ begann, war der Einbruch der Realkatastrophe in die europäische Fiktion vom — nun endlich greifbar nahen — ewigen Frieden. Noch kurz zuvor hatte der französische Simulationstheoretiker Jean Baudrillard den Golfkrieg ins Reich des Irrealen verbannt, jene fiktive „Hyperrealität“, in der nicht Politiker und Soldaten, sondern die Geiseln vor Ort und die Fernsehzuschauer vor dem Bildschirm im Zentrum des Geschehens stünden: als Nichthandelnde. Zwei Tage nach Kriegsbeginn radikalisierte der Pariser Geschwindigkeitstheoretiker Paul Virilio die These von der Fiktionalität (taz, 21. 1. 1991): Dieser erste live-Krieg „in Echtzeit“ werde mit „Kommunikationswaffen“ geführt, die „keine Menschen mehr brauchen“, und uns alle zur „Zielscheibe“ ihrer „Tele-Aktion“ der Desinformation machten.

Am zehnten Tag des Golfkriegs scheint es so, als seien die Überlegungen des französischen Poststrukturalismus in die deutsche Friedensdebatte aufgenommen worden. Die elektronischen Medien sind zur Zielscheibe der Kritik geworden. Einerseits sensationslüstern und kriegsgeil, vermittelten die Fernsehbilder andererseits überhaupt keine Vorstellung vom — wirklichen — Krieg, dessen wahrer Schrecken, die Opfer, nicht gezeigt würden. Es ist aber das Paradox dieser deprimierenden Tage, daß die weltweite Angst vor dem Krieg Hunderttausende auf die Straßen treibt, obwohl keine zerfetzten Leiber und keine Kraterlandschaften fernsehgerecht präsentiert wurden. Offenbar stärkt gerade der „aseptische“ Charakter des bisherigen Luftkriegs die Vorstellungskraft — ähnlich wie bei der Atomkatastrophe von Tschernobyl, als die unsichtbaren Strahlen ganz Europa in Aufruhr versetzten.

„Der plötzliche Protest gegen die mediale Abstraktion, die den Krieg zum scheinbar folgenlosen Videospiel werden lasse, abstrahiert selbst von der Wirklichkeit, in deren Namen er zu sprechen vorgibt. Seit Marshall McLuhan vom „global village“ sprach und Günther Anders von der Welt als „Phantom und Matrize“, sind Ubiquität und Gleichzeitigkeit elementare Bestandteile jener Realität, deren Kommunikation stets auch irreale Züge trägt. Die elektronischen „neuen“ Medien sind dabei Ausdruck und Motor einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der sich die Sektoren der Immaterialität ständig verstärken. Vom bargeldlosen Zahlungsverkehr bis zur lasergesteuerten Präzisionsbombe reicht jener technologische Fortschritt, dessen Volksausgabe Personalcomputer und Fernsehapparat samt Videorecorder verkörpern. Die elektronische und digitale Durchdringung der Gesellschaft hat viele dazu verführt, zutreffende Analysen über mediale Effekte und ihre politischen Folgen zu einer Theorie zu erheben, die keinen Raum mehr für soziale Konflikte und materielle Realitäten ließ. Die Tatsache, daß sich überkommene Sozialstrukturen aufgelöst haben und die zwölfjährige Prostituierte in ihrer Slumhütte am Rande von Rio de Janeiro dieselbe Folge von Miami Vice sehen kann wie ein Frankfurter Börsenmakler, dokumentiert keine entscheidende Veränderung der Verhältnisse, sondern illustriert nur ihre Obszönität.

Diese Obszönität ist jedem, der die letzten zehn oder fünfzehn Jahre als Erwachsener gelebt hat, bekannt, ja, sie ist der Normalfall. Längst haben wir uns daran gewöhnt, beim Massaker im Brüsseler Heysel-Station „live“ dabei zu sein (damals traten sich 36 Fußballfans gegenseitig tot) und anschließend die Theaterkritik fertigzuschreiben. Die ungeheure Diskrepanz zwischen dem, was wir täglich sehen, und dem, was wir tun können, läßt sich notdürftig nur mit einer Mischung aus Reflexion, Verdrängung und Zynismus schließen.

Die Gleichzeitigkeit von Elend und Wohlstand ist real und fiktiv

Gerade die Schreckensbilder aus aller Welt, die frei Haus gelieferten Hungertoten aus der Sahelzone, die Massakrierten in Liberia und Mozambique, in Angola und Südafrika, die Verwüstungen im Pandjab und in Sri Lanka, die Flüchtlinge in Laos und Kambodscha, die Elenden Lateinamerikas und die Kriegsverstümmelten in Afghanistan — sie alle bilden das Pandämonium unseres Fernsehlebens zwischen Tagesschau, Weltspiegel und heute journal. Es ist Teil unserer Existenz und der objektiven Wirklichkeit, zugleich aber mediale Fiktion, der wir uns mit Knopfdruck entziehen können, um die vierte Wiederholung von Casablanca nicht zu verpassen. Die Gleichzeitigkeit von Elend und Wohlstand ist also real und fiktiv. In dieser Ambivalenz erlangen die elektronischen Medien tatsächlich tiefgreifenden Einfluß auf unser Leben.

Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, geriet das Fersehen als live-Medium in die Rolle eines authentischen Zeitzeugen für all jene, die in diesen Stunden nicht am Ort des historischen Ereignisses sein konnten. Als im Juni desselben Jahres das Bild eines Mannes um die Welt ging, der sich einer Panzerkolonne in Weg stellte, schien sich die Menschheit vor den TV-Geräten im Protest gegen das Massaker auf dem Tiananmen-Platz vereinen zu können. Auch die Friedensbewegung Anfang der achtziger Jahre wäre ohne Fernsehen undenkbar gewesen. Doch nicht erst, seit Bomben auf Bagdad fallen, wissen wir, daß wir zunächst und vor allem Zuschauer sind, daß wir nur Bilder sehen, die wirklich und unwirklich zugleich sind. Daran ändert die Militärzensur im Grundsatz ebenso wenig wie die journalistische Qualität einzelner TV-Berichte.

Wenn jetzt im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den Golfkrieg die fiktionale Struktur des Fernsehens attackiert wird, die das wahre Ausmaß des Schreckens verberge, schwingt eine gewisse Bigotterie mit. Acht Jahre lang tobte der mörderische Golfkrieg zwischen Iran und Irak, und die internationalen Fernsehketten versäumten durchaus nicht, in Wort und Bild über Tausende von zerfetzten Kindersoldaten zu berichten, die man als Minenhunde in den Tod gejagt hatte. Die Bilder vergaster Kurden, die das deutsche Fernsehen aus gegebenem Anlaß jetzt noch einmal zeigte, sind vor Jahr und Tag schon einmal gesendet worden. Reportagen über deutsche Waffenexporte in den Irak gab es immer wieder, und auch die durch den mit roter Farbe in Gang gehaltenen Blutbrunnen im iranischen Teheran symbolisierte Bereitschaft der Mullahs zum totalen Krieg schwappte buchstäblich in die bundesdeutschen Wohnzimmer. Doch wer rief damals: „Kein Blut für Öl!“ wahlweise „Kein Blut für Allah! Stoppt den Krieg!“?

Die Friedensbewegung der 80er Jahre wäre ohne Fernsehen undenkbar

Waren die Fernsehbilder nicht drastisch, nicht authentisch genug? Fehlten Hintergrundinformationen, warum man Kinder über Minenfelder und Kurden in den Gastod schicken mußte?

Die gegenwärtigen Massenproteste gegen den Golfkrieg haben sich gerade nicht an den Bildern von Kriegsopfern entzündet — sonst hätten sie schon mit der irakischen Besetzung Kuwaits am 2. August einsetzen müssen, als von ersten Greueltaten an Zivilisten berichtet wurde; ihre Motive leiten sich aus einer Abstraktion her, der zwei starke Motive zugrunde liegen: Moral und politische Ideologie. So sicher es ist, daß die Bilder des tausendfachen Grauens über den Bildschirm flimmern werden, weil es auch die Militärzensur nicht verhindern kann, so gewiß ist, daß die Friedensbewegung sie gar nicht braucht. Die diffuse Angst, die Millionen Menschen zu Recht erfaßt hat, ist zum Prisam der unterschiedlichsten Projektionen geworden, in deren Mittelpunkt die Vorstellung steht, selbst und vorrangig Opfer des Krieges zu sein.

Die Angst mobilisiert die Sehnsucht, ihre Quelle zu beseitigen. Da der reale Krieg aber — kurzfristig — nicht zu stoppen ist, schlägt man sich auf die Seite des Guten, der vermeintlichen Unschuld. Der Aggressor ist der andere, für viele in der Friedensbewegung Präsident Bush, besser: der US-Imperialismus, ein guter, böser Bekannter aus alten Tagen. Um Zweifel an der eigenen Unschuld zu zerstreuen, geht das gute Gewissen mit dem Opferstatus seine kongeniale Verbindung ein. Heraus kommt die reine Moral des Friedens um jeden Preis. Die Ohnmacht angesichts der geballten Zerstörungskraft der Kriegsmaschine verstärkt noch das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen und — wenigstens symbolisch — handeln zu können. Die Verve, mit der in der Bundesrepublik Kasernen, Bahnhöfe, Munitionsdepots und US-Konsulate belagert werden, die Leidenschaft, mit der schwarz drapierte Skelette durch die Straßen getragen, Trommeln gerührt und Ochsenblut vergossen wird, zeigt die enge Verzahnung von Angst, Moralbedürfnis und Opferinszenierung.

Wenn es um die realen Opfer und die wirklichen Täter geht, verzichtet man gerne auf genauere Angaben, denn die apokalyptischen Bilder sind jederzeit abrufbereit. Unser Kopf ist das Fernseharchiv aller Kriegstoten, Verletzten und Verstümmelten. In ihm bilden sich unsere Ahnungen von der tödlichen Gewalt des Krieges wie jene Todes- und Untergangsphantasien, in die sich derzeit viele flüchten.

Während Zehntausende von Schülerinnen und Schülern auf die Straße gehen, um für den Frieden zu demonstrieren, haben andere den ewig gerechten Krieg gegen Amerika im Kopf, wenn sie „Kein Blut für Öl!“ und „Amis raus aus Arabien!“ rufen. Neben dem Wiederaufleben eines virulenten Antiamerikanismus (der die UNO-Resolutionen gegen den Irak zum Beleg für die Weltherrschaft der USA degradiert) offenbart sich in diesen Tagen, da Israel die ersten Kriegstoten zu beklagen hat, ein erschreckender Antisemitismus unter linken Friedensfreunden. Israel habe durch seine Politik gegenüber den Palästinensern jedes Recht auf Schutz verwirkt, gab etwa eine Friedenskämpferin auf dem Frankfurter Opernplatz zu Protokoll. Eine andere äußerte gar Verständnis gegenüber Saddam Husseins Zwangslage und verlieh ihrer Erwartung Ausdruck, der irakische Diktator möge zwischen Tel Aviv und Haifa endlich einmal richtig zuschlagen.

Deutsche raten Juden, sich ruhig zu verhalten

Es mag vielen gar nicht bewußt sein, welch fatale Umkehrung des Täter- Opfer-Verhältnisses sie bei dem Versuch unterliegen, Ablaß von der Schuld zu erlangen. Der gute Rat der schwäbischen Hausfrau, die in einer Hörerumfrage von SWF3 den Israelis empfahl, trotz der irakischen Raketenangriffe „stillzuhalten“, verrät eine weit verbreitete deutsche Haltung. Man könnte es ein aggressiv unterwürfiges Spießertum nennen, obwohl selbst allenfalls durch Steuererhöhungen und mögliche ökologische Langzeitwirkungen betroffen, setzt man die eigene Angst absolut und erteilt den von Saddam Hussein unmittelbar bedrohten Juden den Ratschlag, sich bei Beschuß mit deutschen Giftgaswaffen ruhig zu verhalten und die eigene Verantwortung zu erkennen. Es ist durchaus kein Zufall, daß in einer Infratest-Erhebung unter 2.000 Deutschen 75 Prozent dafür plädierten, sich aus internationalen Konflikten herauszuhalten ('SZ‘, 4.1.91).

So wird die symbolische Friedensaktion zum kleinsten gemeinsamen Nenner deutscher Verantwortung in der Welt, angesichts der selbst Horst-Eberhard Richter so etwas wie Stolz auf Deutschland empfindet (ohne jedoch die letzte Umfrage zu kennen, derzufolge eine Mehrheit der Bundesbürger für den schnellen Sieg im Blitzkrieg votiert; auf das Volk ist auch in Friedensdingen kein Verlaß). Wenn Kirchenglocken läuten, Stadttheater ihre Aufführungen absagen und den Bombenteppichen ihr Prosamarathon einer Nonstop-rund-um-die- Uhr-Lesung von Koran und Bibel entgegenschleudern, wenn Solidaritätskomitees mit dem bewaffneten Kampf in aller Welt am Friedensgebet teilnehmen und Thomas Gottschalks Wetten, daß...? den Melodien für Millionen mit Dieter Thomas Heck als Fernsehpfarrer der Volksmusik weichen muß, dann steht die deutsche Mittelstandsgesellschaft als bekennende Friedensgemeinde in voller Blüte.

Die Klage über die historische Lüge der Fernsehbilder, die die Geschichte nicht zeigen, wie sie ist, verdeckt eine andere Wahrheit: daß die Geschichte noch weniger den Gesetzen von Vernunft und Fortschitt entspricht, als wir schon immer ahnten. Der dem Golfkrieg zugrundeliegende Nord-Süd-Konflikt, weit davon entfernt, auf den „Kampf ums Öl“ reduziert werden zu können, demonstriert schon jetzt seine ganze Komplexität, der weder mit „Entwicklungshilfe“ noch mit antiimperialistischen Parolen beizukommen ist.

Im Sudan gehen Hunderttausende für Saddam auf die Straße, während im Landesinnern noch mehr Menschen vom Hungertod bedroht sind. Das Nato-Land Türkei, wo zensiert und gefoltert wird und die Kurden wie Kriegsgegner behandelt werden, kritisiert die Bundesregierung wegen mangelnder Entschlossenheit zum militärischen Beistand. Von türkischen Stützpunkten aus soll derzeit zugleich das Völkerrecht verteidigt werden. Viele Linke reden andererseits vom Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser und der Araber, ohne auf die absolut undemokratischen, ja mörderischen Strukturen etwa innerhalb der PLO und der arabischen Regime von Rabat bis Riad einzugehen.

Die Ohnmacht angesichts des Krieges, die zunächst als Dispens von praktischer Verantwortung empfunden wird, erweist sich als Ausdruck einer strukturellen Unfähigkeit, schon im Frieden zu handeln. Gerade das europäische Jahr 1989/90 hat das „postmoderne“ Verhältnis zur Geschichte offenbart: Freude und Leid der historischen Stunde wird vor dem Bildschirm (und auf der Straße) geteilt, doch wenn die tatsächlichen Konflikte den Alltag irritieren, wendet man sich ab und sehnt sich nach der Eindeutigkeit der Fiktion.