Moralische Nachrüstung

■ Augstein und Krippendorff — zwei gute Deutsche und der Golf DEBATTE

Er hat Israel noch nicht vernichtet und Palästina noch nicht befreit. Aber in Deutschland hat Saddam Hussein sein Kriegsziel bereits erreicht: Der Karneval fällt aus, die Friedensbewegung geht um. Kein Rosenmontagszug, sondern Schweigemärsche, kein Konfetti, sondern Schweineblut. Keine Besoffen-, sondern Betroffenheit.

Der begrenzte Krieg im Nahen Osten hat in Deutschland ein grenzenloses Wunder vollbracht. Ostern fällt in die Winterzeit, denn die Deutsche Friedensbewegung ist plötzlich von den Toten auferstanden. Noch beim Überfall des Iraks auf Kuwait und bei den noch länger zurückliegenden Drohungen Saddam Husseins, Israel mit Massenvernichtungswaffen auszulöschen, schlummerte die Leiche friedlich vor sich hin. Einer der ersten, die sich am Grabe der deutschen Friedensbewegung zu schaffen machten, um ihr mit einem Elexier aus Chauvinismus und Betroffenheit neuen Odem einzuhauchen. Die Leiden des jungen Rudolf A., so der 'Spiegel‘ in der Ausgabe zur Wiedervereinigung Angang Oktober 1990, waren die Leiden einer noch unerwiderten Liebe zu diesem Staat. Daß andere, beispielsweise die Juden, ihre unerwiderte Liebe zu Deutschland nicht nachträglich als Gewinn verbuchen wollten, nimmt er ihnen übel. Es machte ihm ständig zu schaffen, was seiner Auskunft nach auch schon Göring beim Nürnberger Prozeß Magenschmerzen bereitet hatte. Göring hatte zu einem Mitangeklagten gesagt: „Wenn nur nicht dieses verdammte Auschwitz wäre! ... Ohne Auschwitz könnten wir uns richtig verteidigen. So ist uns jede Möglichkeit verbaut. Alle denken, wenn von uns die Rede ist, immer nur an Auschwitz und Treblinka.“ Gott sei Dank kam dann der kalte Krieg, und Augstein konnte aufatmen: „Die Kluft zwischen Ost und West hat uns aus der schlimmen Isolierung der Gaskammern herausgeholfen.“ Mit dem Ende der Nachkriegszeit, die Augstein als früher Sprecher der Friedensbewegung als Periode nationaler Demütigung durch die Alliierten begriff, war diese hilfreiche Kluft zwischen Ost und West plötzlich verschwunden. Und es drohte nun die vom 'Spiegel‘-Herausgeber des öfteren beschworene Gefahr, daß die Weltöffentlichkeit nicht an der deutschen Amnesie litt. Es konnten also auch die Juden daran erinnern, daß das neue Deutschland, dessen „Stunde Null“ Augstein nun proklamierte, immer noch das Land sei, zu dessen jüngerer Geschichte die Massenvernichtung gehöre. Die Erinnerung daran hatte er ihnen schon Jahre zuvor nicht verziehen, als er die Reputation des Kanzlers mit dem Hinweis verteidigte, es habe keinen moralischen Unterschied zwischen der Mehrheit der Deutschen und der von ihnen umgebrachten Juden gegeben. Wenn er also, um an ein Diktum Adornos zu erinnern, zähneknirschend zugab, daß Verbrechen geschehen waren, dann sollten wenigstens die Opfer mitschuldig sein. Seine journalistischen Trompetensignale vor Ausbruch des Golfkriegs, die er in die noch tauben Ohren der dahingeschiedenen Friedensfreunde blies, zeigen, daß er bei der Vollreinigung der deutschen Geschichte zum Meinungsführer des Volksempfindens geworden ist. Er ist nicht der verkannte große deutsche Historiker der zweiten Jahrhunderthälfte, sondern bloß der Stichwortgeber seiner kollektiven Einflüsterungen. Er ist nicht der Praeceptor der Nation, der zwischen Plato und Nato alles verwendet, um die deutsche Ehre zu verteidigen, sondern bloß der Biedermann als Anstifter, das Sprachrohr des gesamtdeutschen Voruteils. Während es in der Kneipe um einen Hocker am Tresen geht, geht es Augstein um einen deutschen Platz an der Sonne. Und wenn andere sich dazwischenstellen und einen Schatten darauf werfen, dann schreibt Augstein eine Kolumne. Seine Artikel sind Verlautbarungen des ehrbaren Antisemitismus, der zwar die Juden nicht verbrennen, aber sich umgekehrt, wie Augstein kürzlich schrieb, auch von diesen „nicht die Erinnerung an die Rampe von Auschwitz für immer ins Gedächtnis brennen“ lassen will.

Noch fehlte indes jene zündende Parole, welche die von Augstein behandelte Leiche dazu bewegen konnte, ins wirkliche Leben zurückzukehren. Mit „Kein Blut für Öl“ war sie gefunden, und als Antwort auf den Heiligen Krieg entstieg aus der Gruft die fundamentalistische Bewegung zum Heiligen Frieden. Lauter Gesinnungsträger wie ehedem, die trotz ihrer Jugendlichkeit den Veteranen gleichen wie aus dem Gesicht geschnitten und mit ihrer durch weiße Armbinden vollzogenen Verwandlung von Schülerlotsen in Luftschutzwarte nicht nur ihr Gefolgschaftsbedürfnis geltend machen, sondern auch insgeheim wünschen, der Krieg fände hier statt. Wer die Bettlaken aus den Fenstern hängen sieht, muß annehmen, nicht Kuwait, sondern Deutschland sei überfallen worden, dessen Bewohner nun auf den Balkon treten mit der Auskunft: Wir übergeben uns.

Schuld am imaginierten Weltuntergang sind die USA, doch die Drahtzieher sitzen in Israel — das ist die Botschaft der unbefangenen Apokalyptiker auf der Straße. Wenn Ekkehart Krippendorff, eine Art freier Mit- und Weiterdenker Augsteins, vorgestern in der taz schrieb: „Ohne Wenn und Aber für Israel“, dann war diese Überschrift nur die branchenübliche deutsche Tarnformel für ihr genaues Gegenteil. Es handelt sich bei dem Text von Krippendorff, der früher wie und bei Augstein von der „Fremdbestimmung der Siegermächte“ schwadronierte, um genau jenes Quantum moralischer Aufrüstung, dessen die neu erwachte Friedensbewegung ermangelte, um sich in der gegenwärtigen Situation mit der Parole vom Frieden das rechte Gewissen zum neuen Antisemitismus machen zu können. Vom Giftgas redet weder Augstein noch Krippendorff. Denn im Hause des Henkers redet man nicht vom Strick. Es könnte passieren, daß jemand das neue Deutschland, das Krippendorff im Unterschied zu Augstein schon auf den 2. Juni 1967 vordatiert, in einem Atemzug mit Gas nennt. Dorothee Sölle hat sich nicht bei Gildemeister Zutritt verschafft und betet dort nun ihr Mutterunser, und der Sitzheld von Mutlangen, Walter Jens, hockt nicht mit anderen nun in einem Büro des Wirtschaftsministerums, um die Ausfuhrgenehmigungen zu studieren. Bei den Demonstrationen gegen den Krieg am Golf kommt das Wort Gas nicht vor, auch nicht, wen es bedroht [einfach falsch, d.K.]. Die Juden Israels gelten bestenfalls als quantité négligeable oder aber als die eigentlich Schuldigen, wie man es bei Krippendorff nachlesen kann, der die irakische Propaganda in die Sprache der Betroffenheit übersetzt. Wenn Saddam Hussein tönt, was die Etikette Krippendorff verbietet, nämlich daß die Juden das Unglück der Araber seien, dann heißt das in der Sprache der moralischen Aufrüstung der Bewegung: „Man stelle sich vor, Israel würde sich noch heute bedingungslos aus den besetzten Gebieten zurückziehen...“ Bedingungslos — das hätte er gern. Außerdem müsse er darauf bestehen, daß die „rassistische“ israelische Politik für die Umgangsformen Saddam Husseins verantwortlich sei. Rassistisch schreibt er in Anführungszeichen und meint es doch so.

Krippendorffs Bekenntnis ohne Wenn und Aber zu Israel nimmt sich aus wie das Plädoyer des Advokaten in der Fledermaus, der sich dem schlecht vertretenen Klienten gegenüber mit den Worten rechtfertigt: „Ich wollte sie nicht beleidigen, sondern verteidigen.“ Denn nicht der Gedanke, daß der 2. Juni solange, wie einer der Giftgaslieferer seines Lebens hier sicher ist, nicht als Bruch mit der deutschen Geschichte, sondern Auftakt zur Runderneuerung der Volksgemeinschaft gelten muß, führte ihm die Feder. Er hat sich nur wie Augstein darüber geärgert, daß ein frecher Jude es vorzieht, nicht Krippendorfs Stallgeruch teilen zu müssen, den dieser „uns, die wir mitten drin stehen“, nicht als Mief des Kollektivs, sondern als Verdienst ausgeben möchte. [für Kr. lege ich persönlich meine Hand ins Feuer. d.K.] Eike Geisel