SHORT STORIES FROM AMERICA

■ Ein Logikkurs für Minderheiten

Ich möchte mich noch einmal mit dem Problem der Sezessionen befassen, das wegen der vielen Wahlen in Mitteleuropa wieder durch die Schlagzeilen geistert — mehr ethnische Minderheiten denn je streben in andere Länder oder möchten durch Abstimmungen neue konstituieren. Also versuche ich, das Prinzip, die unerbittliche Logik der Sache zu begreifen.

Ich höre, daß wir im demokratischen Westen den Wunsch nach Selbstbestimmung bewundern. Darum sympathisieren wir etwa mit den Bewegungen, die sich in Litauen und Estland von der Sowjetunion abtrennen wollen. Aber ich verstehe nicht, warum wir angesichts ähnlicher Bewegungen in Oberschlesien und Pommern nicht das Gleiche empfinden. Oder geht es nicht nur um Selbstbestimmung? Vielleicht spielt die Macht und Formbarkeit des entstehenden Landes auch eine Rolle bei unseren Sympathien?

Der amerikanischen Presse entnehme ich, daß wir den Wunsch der Volkspolen in Litauen nach Vereinigung mit ihren Brüdern in Polen unterstützen (obwohl ich nicht weiß, was dann von einem Litauen bliebe, das sich seinerseits von Rußland unabhängig macht). Aber wir übergehen die Bestrebungen der Weißrussen in Polen, sich mit ihren Brüdern in Weißrußland zu vereinigen. Ich fürchte, diese Vernachlässigung der Weißrußland-Frage rührt daher, daß viele Amerikaner nicht wissen, was Weißrußland ist — daß es eine eigene Republik ist zum Beispiel. Andererseits wird dadurch nicht erklärt, warum wir die Volkstürken in Bulgarien vernachlässigen, die ebenfalls mit ihren Brüdern in der Türkei eins sein möchten. Denn was die Türkei ist, wissen wir. Vielleicht mögen wir die Türkei einfach nicht. Was verstehen diese säbelrasselnden Sultane schon von Menschenrechten oder Formbarkeit durch den amerikanischen Freund?

Die religiöse Seite der Situation ist mir auch nicht klarer. Einerseits bekennt der Westen zumindest offiziell seine Sympathie für die Juden im russisch-orthodoxen Rußland, andererseits tritt niemand für die Katholiken in der russisch- orthodoxen Ukraine ein. Und erst recht nicht für die Moslems im christlichen Jugoslawien, die sich in einem unabhängigen Bosnien-Herzegowina, wo sie ihre Religion frei ausüben könnten, vielleicht wohler fühlen würden. Diese Vernachlässigung Bosnien-Herzegowinas ist ohne Zweifel der Tatsache geschuldet, daß selbst die meisten Europäer nicht wissen, was Bosnien-Herzegowina ist. Und was wissen diese Moslems mit ihren keffiyehs schon von Formbarkeit?

A propos Jugoslawien. Die Auflösung der UdSSR gefällt uns Westeuropäern und Amerikanern, die Auflösung Jugoslawiens aber bereitet uns Unbehagen. Das gibt denn doch zu kleine Stücke, sagen wir, und stellen uns den bürokratischen Aufwand der vielen Handelsverträge vor, die wir schließem müßten, und die kleinen Profite, die dabei herauskämen. Am liebsten würden wir die Serben als die Bösen sehen, die die Leute im Kosovo verfolgen und sie zwingen, sich abzutrennen. Dann sehen wir, wie die Kroaten die Serben in Kroatien verfolgen und wissen auf einmal nicht mehr, wer der Underdog ist. Das ist sehr schlecht für uns Amerikaner, denn wir möchten uns gern einbilden, daß sich unsere Interessen mit denen der Unterdrückten decken. Jedenfalls denken wir, daß sich die Jugoslawen nun wirklich mal berappeln sollten.

Tschechen und Slowaken sollten unserer Meinung nach zusammenbleiben. Als ewige Romantiker stellen wir sie uns als das glückliche Ehepaar im Herzen Europas vor (und vergessen dabei, daß die Slowakei von 41 bis 45 eine heftige und vor aller Augen ausgelebte Affäre mit den Nazis hatte). Als ewige Idealisten sehen wir in ihnen Europas große weiße Hoffnung mit Vaclav Havel als Thomas Jefferson und Dubcek als Churchill. Die UdSSR mag zur Hölle gehen, die Tschechoslowakei aber soll eins bleiben. Ich weiß warum: Die meisten Amerikaner haben gerade mal gelernt, wie das Land zu buchstabieren ist und würden sich ärgern, wenn diese Anstrengung umsonst gewesen wäre. Hätten sie sich in den letzten 45 Jahren damit befaßt, wie Weißrußland buchstabiert wird, dann würde es den Weißrussen in Polen jetzt nicht so schwer fallen, die amerikanische Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aber die Amerikaner können halt nur Polen buchstabieren, daher die viele Sympathie und die vielen Seiten in der Presse.

So ist das eben. West- und Ostdeutsche sollten wiedervereinigt werden, West- und Ostungaren (die aus Rumänien) aber nicht. Die Moldawier sollten sich von den Sowjets befreien, aber die Gagausen nicht von Moldawien („zu kleine Stücke“, siehe oben). Und zuguterletzt: Während die meisten Regierungen Unabhängigkeitsbestrebungen unterdrücken, versuchen die Italiener seit hundert Jahren, Sizilien rauszuschmeißen.

Das verstehe ich. Über Staten Island denke ich genauso. Dieser Stadtteil möchte sich nämlich von New York unabhängig machen und eine eigene Stadt werden. Ich schlage vor, daß es sich gleich als eigenes Land konstituieren sollte. Staten Islanders haben politisch, sozial und kulturell (und ethnisch, wie konnte ich das vergessen?) nichts mit New York gemein. Sie wählen wie Alabama, das man ebenfalls hätte gehen lassen sollen. Warum sollte man ihnen also nicht den Stiefel zu spüren geben, wie die Italiener sagen?

Die Staten Islander wollen sich als eigenständige Einheit von New York lossagen, damit sie der Stadt die Benutzung ihrer Müllhalden in Rechnung stellen können. Ich bin sicher, daß man ein internationales Handelsabkommen ausarbeiten könnte, in dem New York diesem Anspruch entgegenkäme und im Gegenzug die Staten Islander für die Benutzung seiner Geschäfte, Clubs, Diskos, Theater, Ballette, Konzertsäle, Museen, Restaurants usw. besteuerte. Man stelle sich diesen Geldsegen vor: jeder Staten Islander würde beim Nußknackerballett oder bei der Radio City Music Hall Christmas Show oder bei Macy's zur Kasse gebeten.

Eine elegante Lösung für viele Schwierigkeiten. New Yorks gegenwärtige Finanzkrise wäre behoben, und Staten Island wäre... frei. Ich sehe also nicht ein, warum sich Bürgermeister Dinkins Sorgen machen sollte, wenn sich der Stadtteil abtrennt. Er hat sowieso nicht für ihn gestimmt. Und was das Problem der „zu kleinen Stücke“ angeht: Wenn Estland mit 1.571.000 Einwohnern ein eigenes Land werden kann, dann kann sich auch Staten Island eine eigene Marine zulegen.

PS: Hut ab vor dem Staatssekretär im Erziehungsministerium Michael Williams und seiner Entscheidung, daß Privatstiftungen keine Stipendien speziell für Studenten ausschreiben dürfen, die ethnischen Minderheiten angehören. Die Wirtschaft stagniert, die Kluft zwischen Reich und Arm wird immer größer (das Einkommen der ärmsten Amerikaner ist im letzten Jahrzehnt um 25 Prozent gesunken, das der reichsten Amerikaner ist um 78 Prozent gestiegen), die Lebenserwartung der Schwarzen sinkt (die der Weißen steigt), immer weniger Amerikaner besuchen Höhere Schulen (ein Viertel der Doktorgrade an amerikanischen Universitäten wird von Ausländern erlangt, in den Naturwissenschaften ist es über die Hälfte). Da können wir mehr Leute an den Colleges wirklich nicht gebrauchen.

Mr. Williams begründete seine famose Entscheidung mit einem Urteil des amerikanischen Verfassungsgerichts, das ein Minderheitenprogramm in Richmond, Virginia, für verfassungswidrig erklärt hatte. Das Programm sah vor, daß 30 Prozent der Bauverträge in Richmond an Firmen gehen sollten, die einem Nicht-Weißen gehören. Das Gericht kam zu dem Schluß, daß weiße Firmeninhaber durch die hohe Minderheitenquote benachteiligt würden. Lassen wir die Frage beiseite, wie dieses Urteil einzuschätzen ist. Es gibt jedenfalls keinen Hinweis darauf, daß weiße Studenten durch Stipendien für Minderheiten benachteiligt wären. Keine einzige weiße Gruppe hatte sich je darüber beschwert. Mir ist jedenfalls klar, daß Mr. Williams, der schwarz ist, von einem solchen ungerechten Stipendium nicht profitiert haben kann. Sonst hätte er doch einen Logikkurs besuchen können

Übersetzung: thc

EINLOGIKKURSFÜRMINDERHEITEN