Ein Dorf — gegen Energie für zehn Tage

Groß Lübbenau: Ein Modellfall der ehrgeizigen Braunkohlepolitik der DDR und ihrer Begleiterscheinungen/ Braunkohlentagebau und Entschädigungslage — für die Betroffenen hat sich mit der Vereinigung noch nicht viel geändert/  ■ Von Irina Grabowski

Cottbus (taz) — Eingeklemmt zwischen der Autobahn Berlin-Cottbus und dem Braunkohlentagebau Seese- Ost liegt Groß Lübbenau — ein Rudiment dörflicher Idylle. Hinter einem drei Meter hohen Schutzwall gegen Lärm und Schmutz erodiert ein ausgesaugtes Stück Niederlausitz zur „Nachfolgelandschaft“. Das letzte Abrißhaus markiert die Eingangspforte zu dieser Einöde.

Im Mai 1979 teilte ein Sachverständiger des Ministerrates der DDR den Einwohnern mit, die Energiegewaltigen des Landes wollten nun auch einen Teil der Gemeinde Groß Lübbenau — 38 Grundstücke plus Kirche — ihren ehrgeizigen Kohleplänen opfern. Und das für nur sieben Millionen Tonnen Braunkohle, die den Energiebedarf der DDR für nur 10 Tage decken könnten, empörte sich der Pfarrer von Groß Lübbenau, Gottfried Vetter, in Briefen an Honecker und den Ministerrat.

Schon nach der Einwohnerversammlung war der Pfarrer von den Betonköpfen im Rat des Bezirks als Provokateur registriert. „Er (Pfarrer Vetter — d.A.) hätte weiter gefragt, ob es für die Menschen zumutbar sei, in KIM (Kombinaten intensiver Menschenhaltung) zu wohnen, und habe damit die Wohnhäuser in den Neustädten der Republik gemeint. [...]“, rekapitulierte Gottfried Forck, damals Superintendent, das Protokoll der Behörde, das ihm während einer Aussprache vorgelesen wurde. „Auf Grund der Rohstoffsituation ist ein vollständiger Abbau dieser Lagerstätte volkswirtschaftlich unumgänglich und die effektivste Lösung", setzte im Oktober der Ministerrat als Anwort auf die Eingaben von Pfarrer Vetter einen Schlußpunkt unter jegliche Diskussionen.

Da das Erdöl aus dem Osten keine unerschöpfliche Quelle war, hatte das SED-Politbüro Mitte der 70er Jahre beschlossen, dem Klassenfeind im Westen die kalte Schulter zu zeigen, indem besinnungslos einheimische Braunkohle und mit ihr Besitz und Existenzgrundlage vieler Menschen verheizt wurden.

Für sein Einfamilienhaus habe ihm der Staat 18.000 Mark gezahlt, erzählt ein Mann aus Groß Buckow in der Niederlausitz, die 1983 von der Kohle verschluckt wurde. Grundlage der Berechnung war der Zeitwert und modifizierte Preisfestlegungen aus dem Jahr 1914. Der Boden war danach 17 bis 23 Pfennig, Waldboden nur 5 Pfennig wert. Als Querulanten beschimpften die Behörden die Bürger, weil sie vorschlugen, ihr Dorf an sicherer Stelle neu aufzubauen. Der Staat hatte bereits vorgesorgt: mit elfgeschossigen „Buden“ in Spremberg.

Die wenigsten Betroffenen hatten die Kraft und die nötigen Beziehungen, um auf eigene Faust ein neues Haus zu bauen. Grundstücke waren rar, von den Baumaterialien ganz zu schweigen. Dazu kam, daß bis 1984 von der Entschädigungssumme nur 3.000 Mark im Jahr beansprucht werden durften.

Erst ab 1987 bequemte sich die Partei- und Staatsführung der DDR, Häuser aus vorgefertigten Elementen in Montagebauweise vorrangig errichten zu lassen.

Nach dem Herbst 1989 sammelten sich die Betroffenen in Bürgerinitiativen. Doch alle Briefe an Modrow und de Maizière verschwanden im Nichts. Den „Umsiedlern“ wurden erneut die Daumenschrauben angezogen. Die Währungsunion halbierte das Guthaben für den Ausbau, Baupreise und Kreditzins schnellten in die Höhe (von 1,1 auf 9 Prozent!).

Bürgerinitiativen und Kirchenleute einigten sich mit dem ehemaligen DDR-Umweltministerium, den Räten der Bezirke Cottbus, Halle und Leipzig sowie den Braunkohlenkombinaten auf eine Gesetzesvorlage, nach der rückwirkend bis 1976 angemessen entschädigt werden sollte. Gefordert wurden die Neubewertung des verlorengegangenen Eigentums und Ausgleichszahlungen in einem Gesamtumfang von 370 Millionen Mark. Chefunterhändler Krause ließ auch dieses Anliegen bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag unter den Tisch fallen. Klar die Antwort von Wirtschaftsminister Haussmann vom 25. 10. 1990: „Für in der Vergangenheit erfolgte Enteignungen können die geleisteten Entschädigungen jetzt nicht nach rechtsstaatlichen Maßstäben aufgebessert werden.“

Weniger verbissen sieht die Bundesregierung das für die „rechtmäßigen“ Besitzer der sogenannten Westgrundstücke. Flugs wurde erklärt, jene seien nur für den entgangenen Nutzen, nicht aber für das verlorengegangene Eigentum entschädigt worden. Damit bleibt ihnen der Anspruch auf materielle Wiedergutmachung erhalten — im Klartext: sie können auf die Rückgabe „ihrer“ Grundstücke hoffen. Aus Protest gegen diese Ungerechtigkeit wollten die „abgebaggerten“ Bürger des Ostens in der Woche vor Weihnachten die Gleise der Grubenbahnen blockieren. Kurz vor ultimo lenkte die Brandenburger Regierung ein. Am 16. Dezember erschien Ministerpräsident Stolpe, flankiert vom Fraktionsführer des Bündnis 90, Günter Nooke, und dem Energieverantwortlichen aus dem Wirtschaftsministerium höchstselbst in Groß Lübbenau. Vor den Politikern und dem Chef der Lausitzer Braunkohlen AG (Laubag) luden die Betroffenen, unterstützt von ihren Kommunalgrößen, ihr Problempaket ab. Das Land, das nicht für den Abbau genutzt wurde, solle zum Entschädigungspreis zurückgegeben oder Austauschflächen bereitgestellt werden. Jene, die in die Städte ziehen mußten, sollten ihre Wohnungen als Eigentum erwerben können. Für Handwerker, die ihre Werkstätten vollkommen neu einrichten mußten und deshalb bis zum Hals in Kreditschulden stecken, müsse schnell und unbürokratisch finanzielle Hilfe her. Warum sollen nur der Laubag, deren Unternehmensanteile zu hundert Prozent von der Treuhandanstalt gehalten werden, die Liquiditätskredite bis März verlängert werden?

Lebensbedrohlich für die Kommunen ist die Unklarheit, wo weiterhin Bergbauschutzgebiete bestehen und Kohle abgebaut werden soll. Kein Unternehmer investiert in unsicheres Terrain. Der neue Chef der Laubag, Dieter Henning, von der Rheinbraun AG für diese neue Aufgabe freigestellt, zeigt sich „hundertprozentig sensibilisiert, aber nicht belastet“. Die Politiker müßten zunächst die Rahmenbedingungen für den Bergbau festlegen. Unbekannt sei zum Beispiel auch, wie sich die erhöhten Energiepreise auf den Energiebedarf auswirken. Günter Nooke paßt diese Abwartehaltung und die lancierte Unsicherheit über die Zukunft des Bergbaus nicht. Er verweist auf die Positionen der Brandenburger Ampelkoalition zur Energiepolitik in Stolpes Regierungserklärung: schrittweise Verminderung des Kohleeinsatzes bei der Verstromung, Förderung eines Systems dezentraler Energieversorgung mit Kraft-Wärme-Kopplung und Marktchancen für Sonnenenergie sowie die Unterstützung von Projekten im Bereich regenerativer Energien (Wind und Erdwärme). Eine Voraussetzung dafür: „Energieversorgungsunternehmen und Verteilernetze sollen rechtlich und wirtschaftlich in kommunaler Trägerschaft betrieben werden können.“ Es gehe nicht darum, die Tagebaue ad hoc zu schließen. Die jährliche Förderung (168 Millionen Tonnen 1989) soll zunächst um rund 10 Prozent zurückgefahren werden, von 17 Tagebauen sieben bzw. acht erhalten bleiben. Doch eine Zukunft habe die Braunkohle nur, wenn sie umwelt- und sozialverträglich gefördert und verwendet wird. Doch natürlich werden sich die Kohleunternehmen nicht selbstlos in Zurückhaltung üben, noch bevor die entsprechenden gesetzlichen Regelungen den Landtag passiert haben. Was die Devastation ganzer Ortschaften, wie der Abbruch in der Fachsprache heißt, betrifft, bietet Henning seine Mitarbeit in der Arbeitsgruppe des Potsdamer Wirtschaftsministeriums an. Doch die ökologischen und wirtschaftlichen Altlasten — mit 20 Milliarden Mark wurden sie in der Eröffnungsbilanz der Laubag beziffert — könnten nicht auf das schwächliche Kohleunternehmen abgewälzt werden. Ministerpräsident Stolpe hakt ein: Dafür sei als Rechtsnachfolger des Altlastenverursachers DDR die Bundesrepublik verantwortlich — Länder und Bund.

Doch wenn in den Abbaugebieten Autos auch tagsüber wegen Flugasche nur mit Licht vorwärtskommen, die Tomatenstauden wegen der Grundwasserabsenkung verrecken und den Menschen am Rand der Tagebaue die Lunge piept, dann sind das keine Altlasten, sondern aktuell einklagbare Schädigungen, für die die Laubag verantwortlich zeichnet. Die betroffenen Kommunen können sich dazu im Potsdamer Wirtschaftsministerium, Abteilung Energiepolitik und Bergwesen, über ihre Rechte beraten lassen.