SPANNUNGSFELD NORD-SÜD
: Ein weiteres „verlorenes Jahrzehnt“?

Die Schulden der Dritten Welt sind 1990 wieder gewachsen. Und das, obwohl die Länder des Südens mit ihren Zinszahlungen seit Jahren „umgekehrte Entwicklungshilfe“ an die Gläubiger geleistet haben. Bei aller weltweiten Markteuphorie wäre es notwendig, Rohstoffpreise und Zinsen politisch zu regulieren. Doch derzeit gehen die Umbrüche in Osteuropa und Ostelbien tiefer unter die Haut als die Nöte der Dritten Welt. Die Schuldenkrise wird in den neunziger Jahren wohl weitergehen.  ■ VON ELMAR ALTVATER

Noch im 19. Jahrhundert und selbst in den dreisiger Jahren wurden Schuldenkrisen dadurch beendet, daß verschuldete Länder in den Bankrott gingen und die Gläubiger dadurch zur Abschreibung ihrer Forderungen gezwungen wurden. Das taten sie natürlich nur zähneknirschend. Wenn ihnen die Macht gegeben war, haben sie den Schuldendienst mit militärischer Gewalt eingetrieben wie 1882 in Ägypten, das von Großbritannien kurzerhand militärisch besetzt wurde. 1915 okkupierten die USA Haiti und die Dominikanische Republik, um aus den Zoll- und Steuereinnahmen dieser Länder die Forderungen US- amerikanischer Geschäftsleute und Banken befriedigen zu können. Die militärische Intervention der Westmächte in Rußland nach der Revolution wurde unter anderem mit dem schnöden „Rechtsbruch“ der jungen Sowjetmacht vom 3. Februar 1918 begründet, als sie alle ausländischen Anleihen ohne Ausnahme annulierte. Am ausgehenden 20. Jahrhundert ist die militärische Intervention zur Eintreibung ausstehender Zinsen und Tilgungen eher unwahrscheinlich, doch ausgeschlossen ist weder die militärische Disziplinierung von Schuldnern noch die Auslöschung lästiger Gläubiger: Der Irak ist mit der Besetzung Kuwaits Schulden in der Höhe von etwa 20 Milliarden Dollar losgeworden. Im Buch des Ecclesiasticus aus dem 2. vorschristlichen Jahrhundert heißt es schon: „Borge niemandem, der stärker ist als Du; hast Du ihm aber geborgt, sieh es als verloren an.“ Die Gläubiger der USA, die immerhin an die 600 Milliarden Dollar guthaben, sollten sich diese Warnung hinter die Ohren schreiben, wenn ihre Dollaranlagen mit dem Kursverfall der amerikanischen Währung dahinschmelzen.

Schulden sind in einer Geldwirtschaft normal, und dies gilt auch für internationale Schulden, zumal wenn der Weltmarkt expandiert. Die Wachstumsraten des Welthandels waren im Durchschnitt der vergangenen vier Jahrzehnte fast doppelt so hoch wie diejenigen des Sozialprodukts. Die internationale ökonomische Verflechtung ist intensiver geworden, auch bei den Finanzbeziehungen. Im nationalen Rahmen wird davon ausgegangen, daß Unternehmen mit dem bei Banken aufgenommenen Kredit die Produktivität so steigern, daß die erzielte Rendite die Kreditzinsen übersteigt. Im internationalen System allerdings ist dies etwas anders. Denn erstens sind die Kredite in der Regel staatlich verbürgt, so daß de facto der Staat für Schulden und Schuldendienst von Privaten geradestehen muß. Zweitens müssen die Schulden in fremder Währung bedient werden, so daß ein verschuldetes Land unbedingt Exportüberschüsse und entsprechende Deviseneinnahmen braucht.

Die Fähigkeit zum Schuldendienst ist so lange gewährleistet (und das „Länderrisiko“ ist dementsprechend gering) wie die Zinsen nicht größer als die Zuwachsraten der Exporte sind. Denn dann lassen sich ja aus den jährlichen Zuwächsen der Deviseneinnahmen die Zinszahlungen abzweigen und die Schulden – gemessen an den Exporten – bleiben konstant. Dies war in den siebziger Jahren der Fall. Das Verhältnis der Schulden zu den Exporteinnahmen von Entwicklungsländern veränderte sich von 1973 bis 1980 nur minimal, von 115,4 auf 112,9 Prozent, und in Lateinamerika alleine von 176,2 auf 178,4 Prozent. In den achtziger Jahren bis zum Höhepunkt 1986 aber stieg die Quote für die nicht-erdölproduzierenden Entwicklungsländer auf 170,7 Prozent und für Lateinamerika auf 349,6 Prozent.

Ob die Schuldzinsen aus den Exportzuwächsen finanziert werden können, hängt von der Höhe der Zinsen und von den Exporteinnahmen und deren Zuwachs ab. Die siebziger Jahre waren durch niedrige Realzinsen und (nach dem Erdölschock von 1973) steigende Rohstoffpreise gekennzeichnet. Als dann zu Beginn der achtziger Jahre die Zinsen in die Höhe gingen und gleichzeitig die Rohstoffpreise in den Keller fielen, war der Mechanismus zerstört, der den problemlosen Schuldendienst möglich gemacht hatte. Der Süd-Nord-Transfer finanzieller Mittel setzt ein und macht im Zeitraum 1983 bis 1989 – netto! – rund 243 Milliarden Dollar aus. Daß unter diesen Bedingungen das Pro- Kopf-Wachstum rückläufig und in manchen Ländern der Dritten Welt negativ wird, daß die Investitionen verringert werden und der Lebensstandard (gemessen am Konsum pro Kopf) für breite Massen in den Ländern der Dritten Welt zurückgeht, kann nicht verwundern. Nach Angaben der Weltbank leben in Lateinamerika 183 Millionen Menschen – das sind 44 Prozent der Gesamtbevölkerung – in Armut; sie verfügen über weniger als 370 US-Dollar Einkommen pro Jahr. In Afrika ist das Elend nicht geringer. Die achtziger Jahre, das Jahrzehnt der Schuldenkrise, sind ein „verlorenes Jahrzehnt“.

Dies ist die unschöne Wirklichkeit, die schon längst mit der Strategie des „growth with debt“ (Wachstum mit Verschuldung) und Weltbank 1988 in Berlin die versammelten Banker und Politiker versprochen hatten. Zwei Jahre später sieht sich die Weltbank veranlaßt, ihren „Weltentwicklungsbericht“ der wachsenden Armut zu widmen. Die Banken ihrerseits sind gezwungen, Rücklagen zu bilden und zum Teil Außenstände abzuschreiben. In den ersten Jahren nach Ausbruch der Schuldenkrise 1982 bis 1984 schießen die Banken netto 129,3 Milliarden US- Dollar an die Entwicklungsländer nach. In den Jahren 1985 bis 1990 verringern sie ihre Außenstände um insgesamt 33,6 Milliarden US-Dollar. Die Abschreibung von Krediten und die Bildung von Rücklagen zehren an den Gewinnen, zumal inzwischen die Risiken aus der Immobilienbonanza und dem Spekulationsfieber mit Unternehmensübernahmen in den USA selbst enorm gestiegen sind. Die privaten Banken halten sich also mehr als bedeckt, so daß nun die offiziellen Kreditgeber den Finanzierungsbedarf der Drittweltländer für die allfälligen Umschuldungen übernehmen müssen. Obwohl die offiziellen Institutionen von 1982 bis 1990 268,6 Milliarden US-Dollar langfristige Kredite an die Dritte Welt vergeben, ist die Bilanz der Finanzflüsse zwischen dem Norden und dem Süden für die Dritte Welt negativ: eine umgekehrte Entwicklungshilfe. Und nicht nur dies; die Schulden wachsen, so daß die Verlängerung der Schuldenkrise programmiert ist.

Leider ist die geläufige Rede vom „verlorenen Jahrzehnt“ eher eine Verniedlichung des Problems, das durch die Schuldenkrise entstanden ist. Erstens sind ja nicht nur die Länder der Dritten Welt verschuldet, sondern Staat und Private in den USA in einem das gesamte internationale Finanzsystem destabilisierenden Ausmaß; allein die (langfristigen) Außenschulden der USA betragen Ende 1988 532 Milliarden US-Dollar. Zweitens hat die Art und Weise der Finanzierung des äußeren Schuldendienstes in den meisten hoch verschuldeten Ländern die Zerstörung des nationalen Geldsystems zur Folge; beredtester Ausdruck ist die galoppierende Inflation. Während in den Industrieländern die Inflationsrate in den achtziger Jahren aufgrund der restriktiven Geldpolitik gesenkt werden konnte (von einem Durchschnitt von 8,8 Prozent 1972-1981 auf weniger als die Hälfte in den achtziger Jahren), hat sie sich in den Schuldnerländern von 29,6 Prozent im Durchschnitt der Jahre 1972-81 auf bis zu 288,8 Prozent im Jahre 1989 verzehnfacht. In den lateinamerikanischen Ländern betragen die entsprechenden Preissteigerungsraten sogar 44,6 Prozent 1972-1981 und 531,0 Prozent 1989.

Niemand bestreitet, daß die galoppierende Inflation etwas mit der Außenverschuldung zu tun hat. Um Mittel für den Schuldendienst aufzubringen, muß der Staat entweder die Steuern erhöhen und die Ausgaben senken (dies ist gängige Auflagenpolitik des IWF) oder die interne Staatsverschuldung ausweiten. Um die Güter auf den Weltmärkten konkurrenzfähig zu halten, muß die nationale Währung abgewertet werden. Die äußere Abwertung wirkt nach innen inflationär. Da der Bestand der Staatsverschuldung angestiegen ist, steigen in der Zukunft die Finanzierungsanforderungen zur Bedienung der inneren Staatsschulden noch weiter an. Es wird immer schwieriger, die Inflation unter Kontrolle zu bringen.

Die Folgen des Wechselspiels von interner Inflation und externem Schuldendienst sind verheerend. Ein „verlorenes Jahrzehnt“ ließe sich nachholen oder aufholen, wenn nicht inzwischen irreparable ökonomische, soziale und ökologische Schäden entstanden wären, über deren Ausmaß auch die deprimierende Armutsstatistik der Weltbank nur unvollständig informiert. Nicht nur, daß die Länder der Dritten Welt und gerade die Schwellenländer (die nicht zum Erfolgsclub der „vier Tiger“ Südostasiens – Südkorea, Taiwan, Hongkong, Singapur – gehören) gegenüber den Industrieländern zurückgefallen sind, und die mit Außenkrediten beabsichtigte Industrialisierung und Modernisierung im Zustand der „verschuldeten De-Industrialisierung“ begraben werden mußte; nicht nur, daß das „verlorene Jahrzehnt“ auch eine verlorene Generation hervorgebracht hat: Mit der Zerstörung des Geldsystems sind die Gesellschaften politisch unregierbar und darüber hinaus durch den formellen Markt ökonomisch unregulierbar geworden.

An die Stelle von formellen Markttransaktionen, durch die Einkommen zugewiesen, die Produktionsfaktoren gelenkt und Güter gekauft und verkauft werden, treten die manchmal verzweifelten Überlebensstrategien von Subsistenzökonomien, die auf den Schultern vor allem der Frauen lasten. Soziale Sicherheiten gehen mit den finanziellen Instabilitäten weitgehend verloren. So werden sie außerhalb des formellen Systems gesucht, in der illegalen und kriminellen Ökonomie (zum Beispiel in der Drogenwirtschaft oder der Straßenkriminalität in den großen Städten), wo noch Einkommen erzielt werden können, die „das Überleben sichern“. Die Normalität einer Geldwirtschaft: Die Zinsen auf die Außenschulden und die Preise für die zu vermarktenden Produkte (insbesondere mineralische und agrarische Rohstoffe) sind extern vorgegeben. Daran müssen die nationalen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Verhältnisse angepaßt werden. Wie soll dies aber gelingen, wenn im Jahre 1989 der durchschnittliche Zinssatz für Sechsmonatskredite (in Dollar) 9,3 Prozent beträgt, das Welthandelsvolumen um 7,3 Prozent zunimmt und das Sozialprodukt der Entwicklungsländer im Schnitt nur um 3,0 Prozent steigt? Bei Zinsen von mehr als neun Prozent (im Durchschnitt, dazu kommen dann noch Aufschläge, sogenannte „spreads“) kann sich ein Land noch so anstrengen und noch so musterhaft den Auflagen von Internationalem Währungsfonds und Pariser Club der Gläubigerländer nachkommen – es kann die Schulden nicht abtragen und die Zinsen nicht ohne neue Kredite finanzieren. Das Management der Schuldenkrise, darauf ausgerichtet, die internationalen Gläubiger zu schützen, beschert also den Schuldnerländern ein zweites verlorenes Jahrzehnt.

In der „einen Welt“ ist es freilich unhaltbar, wenn die nördlichen Industrieländer reicher und die südlichen Entwicklungsländer ärmer werden, wenn also in der „one world“ „two life- styles“ nebeneinander existieren. Die Migrationswellen zeigen bereits heute, welche soziale und politische Dynamik durch ökonomische und finanzielle Krisenprozesse ausgelöst werden kann. Wenn die Bedienung von Auslandsschulden – und das heißt: der Erwerb von harten Devisen – oberste Priorität hat, dann muß alles vermarktet werden, was vermarktet werden kann. Der ökonomische Druck auf die in Wert zu setzenden natürlichen Ressourcen wird enorm erhöht. Die irrational erscheinenden Zerstörungsorgien in den Regenwaldgebieten sind also ganz rational, solange der ökonomische Teufelskreis von Zinsen und Preisen nicht durchbrochen wird.

Die Zinsen lassen sich reduzieren, entweder durch eine Streichung der Auslandsschulden oder durch eine Beschränkung der Zinshöhe. Die Exporteinnahmen lassen sich steigern, indem die Preise der Exportgüter stabilisiert werden, um die Verschlechterung der „terms of trade“ (von 1982 bis 1990 Jahr für Jahr ca. 2,2 Prozent) zu stoppen. Durch das bloße Wirken der Marktmechanismen ist dieses Ziel mit Sicherheit nicht zu erreichen. Auch wenn derzeit nach dem Zusammenbruch der planwirtschaftlichen Kommandosysteme Osteuropas eine globale Markteuphorie ausgebrochen ist, muß der Notwendigkeit politischer Regulation von Rohstoffpreisen und Zinsen das Wort geredet werden. Die Schuldenkrisen der Vergangenheit endeten mit dem heilsamen Bankrott von Schuldnern. Die Rettungsversuche der internationalen Finanzen durch IWF, Pariser Club oder Bank für Internationalen Zahlungsausgleich haben den Bankrott verhindert, doch zugleich dazu beigetragen, daß in vielen Ländern die ökonomische Lage trostlos, die sozialen Verhältnisse vergiftet und die natürlichen Lebensgrundlagen schwer geschädigt worden sind. Es geht gar nicht mehr anders, als daß der größte Teil der Schulden durch die Gläubiger erlassen wird. Sonst wird den Schuldnern gar nichts anderes übrigbleiben, als von sich aus die Zahlungen zu stoppen – wie dies Brasilien, das größte Schuldnerland, bereits seit Monaten praktiziert. Freilich ist die (totale oder partielle) Schuldenstreichung keine Garantie für eine bessere, ausgeglichenere und gerechtere Entwicklung, sie ist aber die Vorbedingung dafür, daß aus der derzeit so verfahrenen globalen Situation ein Ausweg gefunden werden kann. Im Jahre 1988 forderte in Berlin der „Gegenkongreß“ gegen IWF und Weltbank die „bedingungslose“ Schuldenstreichung; doch darum kann es heute nicht mehr gehen. Damit nicht eine neue Schuldenkrise programmiert wird, muß die Streichung von Schulden an eine zentrale Bedingung geknüpft werden: Ähnlich wie dies auf der letztlich erfolgreichen KSZE in mehr als 15 Jahren für Europa geschehen ist, müssen die Länder des Nordens und des Südens in einem wahrscheinlich lange dauernden Dialog im Rahmen der UNO nach der Schuldenkrise nicht nur über Marktquoten und einzelne Preissubventionen verhandeln, sondern über einen neuen weltgesellschaftlichen Rahmen für den Schutz der globalen Umwelt und die soziale und ökonomische Entwicklung in der Dritten Welt. Die Umweltkonferenz der UNO vom Juni 1992 in Rio de Janeiro wäre ein guter Beginn für die Verwirklichung einer solchen Perspektive. Sie wird diese Chance aber nur ergreifen können, wenn zuvor ein Modus der Streichung eines großen Teils der Schulden der Dritten Welt gefunden wurde. Ohne diesen ersten Schritt zu tun, braucht man über die nächsten gar nicht erst zu reden...

Elmar Altvater ist Professor am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin.