Kein Wintermärchen

■ Borussia Dortmund fliegt trotz des 2:1 gegen RSC Anderlecht gloriös aus dem UEFA-Pokalwettbewerb

Leise rieselte der Schnee an den Flutlichtmasten vorbei. Eine verirrte Taube flatterte zwischen den Schneeflöckchen herum und entschwand ins Licht. Die Spieler unten auf dem Rasen rannten und schossen hinter einem dämpfenden Gazevorhang, die Schlachtrufe von den Tribünen brachen sich an den Schneekristallen und verloren sich im Niemandsland dazwischen. Bald war das Spielfeld eingeweißt, als es aufhörte zu schneien.

25 Minuten waren da gespielt, und der Ball wurde ausgewechselt. Für den camouflage-weißen kam ein telegener roter und Borussia hatte die erste Chance. Povlsen wuchtete einen Freistoß am rechten Winkel des Tors von Filip Dewilde vorbei. Noch war der Schnee nicht Matsch geworden, da verlor Peter Quallo in der eigenen Hälfte den Ball an Luc Nilis, jagte ihm hinterher, stellte ihn zum Zweikampf — und rutschte aus. Den Flankenball legte Marc Degryse zurück und Alain van Baekel nickte ihn über die Linie. Borussia Dortmund hatte noch 54 Minuten Zeit, um drei Tore zu schießen, keins zu kassieren und damit weiterzukommen.

In der englischen Fußballberichterstattung gibt es die wohlklingenden Begriffe der „epic battles“ oder „epic cup-games“, was blank übersetzt zwar auch nur dumpf militärisches wie „heldenhafte Schlachten“ bedeutet, aber doch eine bestimmte Form von Spiel klassifiziert. Um eine Qualität geht es dabei besonders: die Leidenschaft nämlich, mit der die Spieler zur Sache gehen. Alles Scheitern und jeder Triumph erhalten erst dadurch ihren Glanz.

Kaum war die zweite Hälfte angepfiffen, schienen die Borussen wild entschlossen, in diesem Sinne Europapokalgeschichte zu schreiben. Bereits nach wenigen Sekunden hatte Povlsen die erste Chance und vergab. Vier Minuten später traf Sergej Gorlukowitsch — „Der Russe“, wie die BVB-Fans sagen — zum Ausgleich. Danach beseitigten die Dortmunder auch die letzten ornamentalen Verzierungen an ihrem Spiel.

Jetzt hievten sie die Bälle immer wieder nur noch hoch und lang in den Strafraum. Dort warfen sich Stürmer und Verteidiger in Trauben dem Ball entgegen. Längst war der Schneeboden keiner mehr, die Fußballbühne war nur mehr Morast und Schlamm. Auch der winterlich rote Ball war längst wieder durch einen weißen ersetzt. Hinter dem Tor von Anderlecht vibrierte die Südtribüne, wo 15.000 Borussen-Fans rauf und runter hüpften. Aber es dauerte bis zur 79. Minute, ehe Michael Schulz die Flanke von Michael Lusch ins Tor köpfen konnte und damit ein perfektes Finale einläutete.

In diesen letzten elf Minuten löste sich das Spiel nämlich völlig auf: Leidenschaft pur. Torwart Teddy de Beer war weit jenseits seines Strafraums und die Flankenbälle in Richtung Tor des RSC Anderlecht wurden geschlagen, sobald es möglich war. Wäre der Ball noch ein drittes Mal über die Linie gerutscht, ein Epos vom heldenhaften Kampf der Borussen („damals gegen Anderlecht“) hätte gedichtet werden können.

So war es nach 90 Minuten aber einfach vorbei. Borussia Dortmund hat im besten Heimspiel der Saison eine große Niederlage errungen. Kein Pfiff oder Buhruf trübte den Abgang der Mannschaft. Eisesstille herrschte im Stadion, nur die 4.000 belgischen Fans jubelten erleichtert.

Beim enttäuschend prosaischen internationalen Schnittchengerangel nach dem Spiel sagte Horst Köppel noch: „Weinen gibt's im Fußball nicht.“ Da hatten meine Tribünennachbarn ihre Tränen aber schon wieder abgewischt. Christoph Biermann

Anderlecht: de Wilde — Kooiman — van Tiggelen, Rutjes, de Wolf — Crasson, van Baekel (83. van Loen), Musonda, Degryse — Oliveira (65. Verheyen), Nilis

Zuschauer: 40.120.

Tore: 0:1 van Baekel (35.), 1:1 Gorlukowitsch (49.), 2:1 Schulz (78.).

Dortmund: de Beer — Helmer — Gorlukowitsch, Quallo, Schulz — Lusch, Kutowski, Rummenigge, Poschner (66. Nikolic) — Povlsen, Wegmann.