Seit dem Stasi-Verhör querschnittsgelähmt

Ein Vierteljahrhundert liegt Jörg Walter (50) in Saalow/ Die Stasi hatte ihm Sabotage an der Hobelmaschine unterstellt/ Rehabilitation und Entschädigung wurden bisher wegen „fehlender Kausalität“ zwischen Stasi-Angriff und Lähmung abgelehnt  ■ Aus Saalow Petra Bornhöft

An jene Sommernacht im August 1963 erinnert sich der heute 50jährige Jörg Walter genau. Er hatte Nachtschicht, schob Brett um Brett in die Hobelmaschine. Während der Holzarbeiter gerade eine Pause einlegen wollte, hörte er plötzlich einen leichten Knall. Er lief zurück, besah sich den Schaden: „Ein Treibriemen war eingerissen.“ Er schnitt die beschädigte Stelle heraus und flickte die Enden zusammen. Weder ein ungewöhnlicher Schaden, noch eine komplizierte Reparatur. Nach kurzer Zeit lief die Maschine wieder.

Der Schaden aber, den Jörg Walter erlitt, ist irreparabel. Seit über einem Vierteljahrhundert „liege ich hier in Saalow“. Querschnittsgelähmt von der Brust abwärts. Alle Versuche, ein Minimum an Rehabilitation und Entschädigung zu erlangen, scheiterten an der alten und neuen Bürokratie.

„Sie wollten nur einen Spitzel“

Zwischen den Schlägen der Stasi für den „Saboteur“ Walter und seiner Lähmung bestehe „kein kausaler Zusammenhang“, beschied kürzlich noch ein Gutachter. Das Gegenteil ist schwer zu beweisen. Ohne Geld, Unterlagen, Namen und Bewegungsfähigkeit schon gar nicht. Und doch ist die (Kranken-)Geschichte Jörg Walters ohne die Stasi undenkbar.

Bereits am Tag nach dem Knall an der Hobelmaschine tauchten die Stasi-Männer an Walters Arbeitsplatz auf. Er hatte den Vorfall ordnungsgemäß seinem Meister gemeldet, der die Polizei verständigte, „um den Täter zu ermitteln“.

Im Stasi-Gebäude von Zossen „quetschten die mich wie eine trockene Zitrone aus“. Drei Tage wurde Walter ununterbrochen verhört. „Entweder Sie arbeiten für uns, oder sie kriegen eine Anklage wegen Sabotage“, drohten die Namenlosen. Daß der Treibriemen bereits öfter nach einer Dehnung gerissen und wieder geflickt worden war, interessierte die Stasi nicht. Sie wollte einen Spitzel. Zwei Monate mußte Walter sich wöchentlich in Zossen melden. „Ich sollte ihnen etwas über meine Kollegen erzählen. Aber da war nichts zu berichten, und ich wollte es auch nicht.“

Die Stasi revanchierte sich mit einer Verhaftung Ende Oktober 1963. Von Zossen nach Potsdam verlegt, begann die Tortur der Verhöre von neuem. Fast vier Monate lang. Tag und Nacht. Walter streicht mit der schmalen, verkrüppelten Hand über die Augen und sagt: „Ich war fast abgetreten.“ Schließlich riet ihm ein Mitgefangener, ein Geständnis zu unterschreiben. „Das ist die einzige Chance, an einen Rechtsanwalt zu kommen.“

Ohne den geringsten Beweis zu präsentieren, unterstellte die Stasi Sabotage, Brandstiftung und Hetze gegen den Sozialismus. „Schreiben Sie auf, was Sie wollen“, resignierte Walter, „ich unterzeichne alles.“

Der Rechtsanwalt empfahl, das Geständnis zu widerrufen. Kurz darauf, am 25.Februar 1964, wurde Walter aus seiner Zelle zum Verhör gezerrt. Plötzlich spürte er einen heftigen Schmerz im Genick: „Der Mann, der mich geschlagen hat, stand hinter mir. Ich hab ihn nicht gesehen.“ Was danach geschah, weiß Walter nicht mehr.

Ein Gedanke läßt ihn nicht los: „Die brauchten nicht zu schlagen. Ich war doch innerlich schon zusammengebrochen.“ Vermutlich halb bewußtlos wurde Walter in seine Zelle zurückgebracht. „Am nächsten Tag verspürte ich die ersten Lähmungserscheinungen.“ Rasch verschlimmerten sie sich. Doch die Stasi ließ Walter ohne jede ärztliche Hilfe eine Woche in der Potsdamer Zelle liegen. Über Niederschönhausen gelangte er schließlich ins Krankenhaus Buch. Walters Schwester gegenüber räumte der behandelnde Arzt ein: „Wenn Ihr Bruder rechtzeitig in die Hände eines Fachmannes geraten wäre, hätte er eine Chance gehabt.“

Aber dafür war es zu spät. Eine Operation blieb erfolglos. Walter wurde in die Nervenklinik Weißensee abgeschoben, „in der es keinerlei Voraussetzungen für die Behandlung von Querschnittsgelähmten gab“. Er lag sich wund und bekam „offene Beine“. Deshalb, und weil Jörg Walters Familie in Saalow lebt, bemühte er sich erfolgreich um ein Bett im „Maxim Zetkin Pflegeheim“ am Rande von Saalow. „Tja“, lächelt der Vater von zwei erwachsenen Söhnen, „jetzt liege ich hier seit 25 Jahren.“ Bald mehr als ein halbes Leben.

Leben? Der Blick schweift durch den etwa acht Quadratmeter kleinen Schlauch: vielleicht zwei Meter trennen das Bett von der Tür, dazwischen ein Fernseher und Bücherregale. Auf der anderen Seite stoßen ein winziger Tisch und der Besucherstuhl gegen die dunkle Schrankwand. Für Fremde eine beklemmende Enge.

Als wolle er die beklommenen Gefühle der Besucherinnen wegwischen, sagt Walter: „Ich stelle mir dieses ,Handtuch‘ hier als großen Saal vor.“ Fast fröhlich klingt die Stimme. „Man braucht nur genügend Phantasie dazu.“ Und vermutlich die elenden Erfahrungen des Eingesperrtseins mit sechs Personen auf einem Zimmer. „Wie im Strafvollzug“, so erinnert sich der Patient an die ersten Jahre, sei es in den Baracken und anderen Häusern gewesen: „Die Fenster mit Pappe vernagelt und die Kohlen neben der Badewanne.“ Erst vor sieben Jahren „bin ich in dieses Einzelzimmer eingezogen, ein Privileg“.

Die Ärzte können ihm nicht helfen

Seither „geht's mir gut“. Strahlende Augen und nur ein Satz zu dem immer wieder wund gelegenen Rücken: „Ich mußte mal ein Jahr lang auf der Seite liegen.“ Rasch und mit einer energischen Armbewegung kommt Walter der Frage zuvor: „Das war kein Vergnügen.“ Medizinisch konnten und können ihm die Saalower Ärzte nicht helfen. Oberärztin Anni Heilscher: „Herr Walter gehört hier eigentlich nicht her.“

Früher nahm er an der „Arbeitstherapie“ teil: Lampenschirme basteln, Teppichknüpfen. Sieben Jahre für eine Mark pro Tag. Das Heim verkaufte die Produkte mit „3.000 Prozent Aufschlag“. Walter begann „privat zu produzieren“. Die Heimleitung verbot anderen den Kauf. Drei Jahre starrte er die Wände an. Dann, 1975, „hatte ich Glück. Ich bekam die gesellschaftliche Buchverkaufsstelle“ in der Saalower Anstalt. Walter organisiert, verschlingt und vertreibt Bücher an die anderen PatientInnen.

Seit der Währungsunion stockt das „Geschäft“ der „Buchverkaufsstelle“ ebenso wie im HO-Laden, den Walters Frau auf dem Heimgelände leitet.

Walter erzählt von seinen Aktivitäten als Buchhändler und Mitglied des Patientenrates, als sei er ein Gesunder. Er scherzt, politisiert — längst vorbei die Zeiten, als fiese Ärzte mit Fernsehentzug drohten, weil sie den lebenslänglich Gelähmten bei Westprogrammen erwischten — und wiederholt immer wieder den Satz: „Man gewöhnt sich nicht an diese Krankheit, man muß sie akzeptieren.“ Medizinisch-therapeutische Hilfe in einem Rehabilitationszentrum schließt der 50-jährige aus: „Mir bringt das nichts mehr. Bei mir ist die Zeit hinüber. Das ist keine Resignation, so ist es einfach.“ Vertrautes Saalow, die beiden Söhne, Enkel, die Ehefrau — und die Angst vor schmerzhaften, langwierigen Untersuchungen, Punktionen.

Im Januar 1989 zeigte Walter das Ministerium für Staatssicherheit an. Knapp ein Jahr benötigte der Bezirksstaatsanwalt für die schriftliche Antwort. Er habe, heißt es dann, die Angelegenheit an die Militärstaatsanwaltschaft Potsdam weitergeleitet. Aus Potsdam schreibt der „Arbeitsstab des Komitees zur Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit“, er habe die Sache an die Generalstaatsanwaltschaft der DDR übergeben.

Das war Anfang April 1990. Seither hat Jörg Walter nichts gehört. Telefonieren kann er, der nur dreimal in der Woche kurzzeitiges Sitzen im Rollstuhl aushält, nicht. Auf seinem Zimmer gibt es keinen Apparat. Angeblich ist es nicht möglich, ein Kabel vom zwei Räume weiter gelegenen ärztlichen, selten genutzten Dienstzimmer zu ziehen.

So schreibt Jörg Walter dreißig Briefe im Monat. „Es ist verdammt schwer, den Kontakt nach außen zu halten. Der Faden wird immer dünner.“ Ein (Wahlkampf-)Besuch Lothar de Maizières machte ihm wenig Hoffnung. In der Gefangenenakte von 1963/64, die Walter in diesem Jahr erstmals kurz zu Gesicht bekam, besagt angeblich, daß die Lähmuungserscheinungen nicht am Tag nach sondern am Tag vor dem Verhör der Zossener Stasi-Schläger eingetreten seien.

Ist das erheblich? „Für die Entscheidung über eine Rente schon.“ Zum ersten Mal schwingt ein bitterer Ton mit.