DIAVORTRAGDESGESPRÄCHSKREISESHOMOSEXUALITÄT

DERTÖDLICHETIP:FRIEDHOFSLEBEN  ■  DER SCHWULEN LETZTE RUH'

Zum Friedhof müssen Schwule ein ganz besonderes Verhältnis haben, möchte ich manchmal glauben, und das nicht erst durch die Krankheit Aids. Die Räumung des Tuntenhauses beispielsweise gelang der Polizei doch nur über die nicht verbarrikadierten letzten Ruhestätten, die bis an die Hinterhöfe der Mainzer Straße heranreichen. Und daß viele bürgerliche Trinen des Nostalgiegefühls wegen allsonntäglich zwischen Grabsteinen spazierengehen, kann auch niemand widerlegen. Welche weiteren homosexuellen Aspekte es nun in Bezug auf Bildhauerkunst und Architektur auf Friedhöfen gibt, können wir heute abend auf einem Diavortrag des Ostberliner »Gesprächskreises Homosexualität« erfahren.

Referent Dieter Berner möchte zwar in erster Linie verschiedene Friedhofslandschaften aus kulturgeschichtlicher Sicht beleuchten, beweist dabei aber didaktisches Geschick, indem er mit erotischen Jesusbildchen sein Programm zielgruppenorientiert abrundet. Ein keckes Augenzwinkern Gottes Sohns, ein unter dem Leintuch wohlgewölbtes Gliedchen des Gekreuzigten schließlich kann schon mal einen schwulen Künstler verraten. Daß sich dieses »kulturhistorische Outing« Berners auf Männer beschränkt, obwohl sich der Gesprächskreis ausdrücklich auch an »homosexuell empfindende« Frauen richtet, mögen wir dem Mann noch einmal verzeihen. Lüsterne Madonnenstatuen in Nonnenklostern aber (so mein Wink an die lesbischen Leserinnen) wären mit Sicherheit ein gleichwohl ergiebiges Thema.

Berners Betrachtungen von Grabsteinen berühmter Homo-Persönlichkeiten der 20er Jahre mögen zwar (für Nicht-Fetischisten) weniger erotisch, dennoch äußerst lehrreich sein: von der Frauenrechtlerin Minna Cauer bis zum Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld hat er nicht nur die letzten Ruhestätten, sondern auch die Lebensgeschichten parat.

Dieser Friedhofs-Vortrag nun wurde nicht von ungefähr gerade von einer Ostberliner Schwulengruppe organisiert: Durch die schleichende BRDigung der DDR lernten viele Homos (Ost) die Gay-Sub (West) zwar schätzen, die eigenen Ansätze schwuler Kultur aber warf man mit dem sexualfeindlichen SED-Staat gleich mit ins Grab. Dem »Gesprächskreis Homosexualität« der Advent-Gemeinde allerdings gelang das Überleben. Vor acht Jahren von drei Kirchenheteros ins Leben gerufen, hatte man von Beginn an das gesellige Beisammensein der politischen Aktion vorgezogen und konnte durch die so entstandenen persönlichen Bindungen gar die Maueröffnung überstehen. Die Veranstaltungen allerdings sind noch ganz wie früher. Auch heute abend können wir bei Tee, Kerzenschein und Grabstein-Dias gemütlich zusammensitzen, alle miteinander, Christ und Marxist, Bubi und Opi, Ost und West, Hetero und Homo, und ohne uns bös' zu streiten.

Der »Gesprächskreis Homosexualität«, einst die kleine Urania des homophilen DDR-Bürgers, heute ein beschaulicher Friedhof der östlichen Homo- und Monokultur, wie wir Westler sie zu Honnis Zeiten liebten. Micha Schulze

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