Wir alle sind Geiseln

■ Das Ausmaß der Katastrophe, die der „Sheriff“ Bush durch seine „militärische Option“ anrichten würde, wird völlig verschleiert KURZESSAY

Die gefährlichste, aber weit verbreitete Illusion dieser Tage ist die Vorstellung vom Golf- Konflikt als einer Art Western-Spektakel. Dort ist der Schurke Saddam, hier der Sheriff Bush. Der Ruchlose hat ein Verbrechen verübt. Jetzt tritt ihm der Sheriff mannhaft entgegen. Wie kann das Western- Drama anders enden als mit der gebührenden gnadenlosen Bestrafung des Gangsters? Langes Zögern oder gar Palavern mit dem Verbrecher gehört nicht zum Part eines tapferen Sheriffs. Also erwartet das auf diese Handlungsschablone eingestimmte Publikum, daß der Held sich endlich zum Krieg aufrafft und siegt.

Es ist inzwischen längst üblich, Politik mit ihrer Darbietung in den Medien zu verwechseln. Diese wiederum sind darin geübt, das Geschehen in die Schablonen archetypischer Konstellationen einzupassen. Zweifellos hat Saddam Hussein seine Eignung für die Rolle des Erzschurken hinlänglich bewiesen. Daß Bush nicht nur edelsinnig am Recht, sondern sehr dringlich an der Macht über das Golf-Öl gelegen ist, wird ebenso retuschiert wie die Peinlichkeit, daß seine Helfer durch Waffenexporte den Diktator erst hochgerüstet haben. Vollends verschleiert wird das Ausmaß der Katastrophe, die der Sheriff durch die geplante „militärische Option“ anrichten würde:

Mit hoher Wahrscheinlichkeit würden Chemie- und sogar auch Atomwaffen eingesetzt werden (400 atomare Sprengköpfe lagern auf amerikanischen Kriegsschiffen). Viele Zehntausende würden schwere und zum Teil tödliche Folgekrankheiten und Verelendung erleiden.

Die für das längerfristige Überleben der Weltgemeinschaft notwendige Ansätze für eine verantwortungsbewußte Abrüstungs-, Umwelt- und Nord-Süd-Politik würden vorerst zunichte gemacht.

Warum verleugnet die westliche Öffentlichkeit die Wahrheit? Der Golf ist weit weg. Man fühlt sich nicht wie einst im Kalten Krieg durch weittragende Raketen persönlich bedroht. Also wähnt man, man könne sich als Zuschauer zurücklehnen und ein spannendes Drama des Typs erwarten, wie er seit altersher zu projektiven Entlastung von einem existentiellen inneren Konflikt inszeniert wird:

Das ewige Problem ist die Bewältigung der eingeborenen Aggression. Je mehr diese in den westlichen Kulturländern durch Ächtung von Folter und Todesstrafe oberflächlich eingedämmt wurde, umso mehr entzieht sie sich der kollektiven Eigenwahrnehmung. Das Bewußtsein ringt vielmehr um die Verteidigung eines Selbstideals: Wir sind die Wertegemeinschaft schlechthin, die guten Hüter von Menschlichkeit und Recht. Diese kollektive Selbstidealisierung bedarf, um sich stabil zu halten, eines absoluten Feindbildes, auf welches das eigene Verdrängte projiziert werden kann. Daher die Unruhe, als Moskau aus der Weltfeindrolle ausscherte, und daher die — geheime — Genugtuung, als der Diktator von Bagdad das entstehende Vakuum rasch wieder ausfüllte — zur Rechtfertigung der weiteren Hochrüstung und, wie es der Züricher 'Tagesanzeiger‘ titelte, zur Rettung der Nato. Die relative Schwäche Saddams im Vergleich zu dem Ex-Feind Moskau ermutigt nun zur Realisierung der Kreuzzugsvision unter fataler Verkennung der verheerenden Folgen.

Da spürt man schon ein heimliches Lauern auf den großen Knall, der von der untergründigen Spannung befreien soll. Voyeuristisch will man an der Inszenierung der gigantischen Aggressionsorgie teilhaben. Aber für das Bewußtsein soll das selbstverständlich nur ein sittliches Läuterungsdrama sein, eine tapfere Strafaktion zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung, und keineswegs, was es in Wahrheit wäre, die Beantwortung des einen Verbrechens mit einem anderen von tausendfacher Größenordnung.

Wenn es noch eines Beweises für die Wirksamkeit einer paranoiden Teufelsphantasie bedürfte, so wird diese für jeden, der genau hinsieht, durch die laufende Verdächtigung derjenigen sichtbar, die mit Saddam um eine friedliche Lösung ringen wollen. Noch jeden nach Bagdad reisenden Westpolitiker begleitete das Verdikt, ein Kapitulant oder Verräter zu sein. Mit dem Teufel spricht man nicht. Erst recht ist es sündhaft, sich mit ihm friedlich arrangieren zu wollen.

Keine Frage, der Diktator muß irgendwann zurückweichen, wenn das funktionierende Embargo ihn zunehmend unter Druck setzt. (Hier versagt übrigens der von Bush bemühte Vergleich mit München: Hitler erfuhr eben keine ihn abschnürende Wirtschaftsblockade der Weltgemeinschaft.) Warum wartet man nun den sicheren Effekt des Embargos nicht ab, da man doch genau weiß, daß dieser Zeit braucht?

Stumm bleibt die deutsche Regierung. Der Kanzler läßt nur seine Scham durchblicken, daß er dem amerikanischen Präsidenten wegen des leidigen Verfassungsverbots (noch) keine Soldaten an den Golf schicken darf. Dabei könnte und sollte dieses neue Gesamtdeutschland, befreit vom Korsett seiner doppelten Frontstaatrolle, heute durchaus ein offenes Wort sprechen, um zu einer friedlichen Lösung zu mahnen, eben weil es am Ort der Krise nicht militärisch präsent ist. Statt dessen hätte man Willy Brandt am liebsten verboten, daß er mit Saddam nicht nur über Geiseln, sondern auch über Möglichkeiten der Kriegsverhinderung redet.

Aber offensichtlich ist einer Mehrzahl der Deutschen dieser Kanzler gerade deshalb recht, weil er in konfliktträchtigen Fragen die Amerikaner für sich denken läßt. Autoritätsgegebenheit als Anstand und Moral, diese Gleichung steckt noch immer in den Köpfen. Mehr Verantwortung für Gesamtdeutschland, wozu sich der Kanzler bekennt, liest sich heute zuallererst als Versprechen, dem Sheriff künftig auch dort Waffenbrüderschaft zu leisten, wo sie heute noch nicht sein darf.

Die Welt taumelt einem entsetzlichen Unheil entgegen. Indem sie sich, zu Recht, um die Geiseln des Irak sorgen, übersehen viele Millionen, daß sie sich unbewußt selber zu Geiseln einer abenteuerlichen High- Noon-Politik haben manipulieren lassen, aus der die Entscheidungsträger kaum mehr einen Ausweg sehen.

Was könnte noch helfen? Etwa doch ein enormer Druck von unten? Der gewaltige Aufschrei einer internationalen Gemeinschaft der Unbeirrbaren und der Empörten?

In Amerika wird der Präsident gerade von führenden Demokraten und von über zwanzig Friedensorganisationen bedrängt. Wie in anderen Ländern macht auch die Friedensbewegung in Deutschland erneut mobil. Was in dieser noch oder schon wieder an politischer Kraft steckt, dafür wird der 24.November 1990 ein Testfall sein. Für diesen Tag hat sie zu einer Großdemonstration auf dem Marktplatz in Bonn aufgerufen. Horst-Eberhard Richter