Bei der Instinktdrüse gepackt

Peinliche Entgleisung bei AK-zwo/ Mangelnde Sensibilität beim Umgang mit dem Gedenken an die Juden-Pogrome/ Von Westen lernen, heißt Grinsen lernen  ■ Von Eike Geisel

Die Philosophen können die Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält, nicht mehr beantworten. Sie haben die Welt nur verschieden interpretiert, doch es kommt darauf an, sie zu moderieren. Der TV-Moderator ist deshalb heute der wahre Sachwalter einer ganzheitlichen Weltsicht. Während die Sozialwissenschaftler sich jahrelang verbissen mit Ableitungen und Herleitungen abgequält haben, demonstriert allabendlich der Fernsehmoderator, daß die Überleitung die legitime Nachfolgerin der Gesellschaftstheorie ist.

In einer knappen halben Stunde arrangiert er mit lockerem Tonfall die Bilder und Nachrichten aus aller Welt, so daß man versteht, daß alles mit allem zusammenhängt. Die Golfkrise mit der Wintermode, die Perestroika mit dem Atommüll, die Mafia mit der Geburtenkontrolle oder beispielsweise der Fußballstar Maradonna mit der „Kristallnacht“.

Am vergangenen Freitag, dem 9. November 1990, bewies ein Moderator der Nachrichtensendung AK- zwo (Aktuelle Kamera , zweites Programm Deutscher Fernsehfunk), daß vermittels der Überleitung zusammenwächst, was zusammengehört. Auf einen zweifellos sehr wichtigen Bericht über die Hochzeit des Fußballspielers Maradonna folgte ein Rückblick auf den Pogrom vom November 1938.

Im sicheren Gefühl, den Zusammenhang auf den Begriff gebracht oder den Zuschauer bei der Instinktdrüse gepackt zu haben, lächelte der Moderator — vom Westen lernen, heißt grinsen lernen — in die Kamera und kündigte den folgenden Beitrag an: „Ein Eigentor schossen auch die Deutschen.“ Dann sah man brennende Synagogen. Bekanntlich verzeiht die deutsche Nationalmannschaft den Juden dieses Eigentor nicht. Ein Schiedsrichter namens Göring verdonnerte die gegnerische Elf zu einer Strafe von einer Milliarde Reichsmark, und spätestens nach dem Elfmeter in Auschwitz war der Rückstand wettgemacht, und es stand 1:1. Doch vielleicht grinste uns mit dieser Überleitung nicht das Unbewußte der ganz späten Geburt an, sondern es handelt sich bei dieser Ansage um eine versteckte Botschaft?

Wenn, wie seit der Fußballweltmeisterschaft überall in Deutschland sichtbar, ein Fußballmatch als Vorspiel für den Pogrom gilt, warum dann nicht umgekehrt und rückwirkend den Pogrom als Fortsetzung des Sports mit anderen Mitteln begreifen? Oder war die Überleitung gar als Hinweis auf ein längst vergessenes Buch gemeint?

Im 1934 erschienenen Deutschland ist Caliban von Walter Rode heißt es: „Kino und Radio und die Verherrlichung von Spiel und Sportmannschaft haben das Mitspielen in der Politik zum Sport der Handfesten, der Renner und Treter gemacht. [...] Was eine tüchtige Fußballriege ist, die kann im Nu dreißig und mehr mit der Robe bekleidete jüdische Rechtsanwälte durch richtig applizierte Tritte in den Hintern aus den Hallen der Gerechtigkeit auf die Straße befördern. [...] Die Fußballer haben dem bisherigen trägen politischen Leben einen gewissen Schmiß gegeben.“

Die schlagende Verbindung im Deutschen Fernsehfunk wußte am Morgen nach der Sendung (die im Kulturkanal des ZDF, in 3SAT, kommentarlos wiederholt worden war) auf alle diese Fragen keine Antwort. Der Chef vom Dienst war sich nur klar darüber, daß er nicht zuständig war und deshalb auch keine Meinung hatte. Allein der Redakteur des Beitrags über die „Kristallnacht“ war empört über die Einleitung zu seinem Bericht, den er zu Hause gesehen hatte. Doch so groß kann seine Empörung nicht gewesen sein, er hätte während der Sendung noch protestieren und eine Entschuldigung am Ende des Beitrags verlangen können. „Wir müssen uns erst noch sensibilisieren“, drohte er an.

Immerhin versprach er jedoch, die Redaktion werde sich in aller Form entschuldigen, was vorgestern dann zu später Stunde in der Nachrichtensendung auch geschah. Noch knapp, präzise und korrekt. Wenn er sich erst sensibilisiert hat, werden die Distanzierungen anders lauten. 1986 erklärte der CSU-Abgeordnete Fellner: „Es wird der Eindruck erweckt, daß die Juden sich schnell zu Wort melden, wenn irgendwo in deutschen Kassen Geld klimpert.“ Und der Kanzler wies den Parlamentarier damals energisch zurecht: „Wenn ich den Kollegen Fellner sehe, werde ich ihm sagen: Bitte formulieren Sie so nicht!“