Ein Mauerbauer nach dem Fall

■ Wie verarbeiten Menschen, die voll hinter dem DDR-System und dem Bau der Mauer gestanden haben, die Tatsache, daß beides nicht mehr da ist? Dr. Helmut Rieger ist einer, der es wissen müßte. Als „150-prozentiges“ SED-Mitglied und Angehöriger einer Betriebskampfgruppe hat der heute 59jährige 1961 mitgeholfen, die Mauer zu bauen. 1986 schilderte er der taz voll Stolz seinen damaligen Beitrag zum Mauerbau. Vier Jahre später, nach der Wende, stellte er sich wieder den Fragen der taz. Als Kaderleiter —oder auf westdeutsch ausgedrückt — Personalchef des größten Ostberliner Chemiebetriebs war Rieger nach der Wende einer der ersten geschaßt wurde. Rieger bemüht sich, ehrlich auf die Fragen zu antworten. Nur: Die wichtigsten Fragen hat er für sich selbst bisher einfach nicht gestellt.

taz: Herr Rieger, als wir uns das letzte mal vor vier Jahren getroffen haben, haben Sie mir mit leuchtenden Augen erzählt, wie Sie am 13. August 1961 die Mauer mitgebaut haben. Was haben Sie am 9. November 1989 gemacht, als eben diese Mauer fiel?.

Rieger: Am 9. November war ich zu Hause und habe Nachrichten gehört. Ich war dabei war echt besorgt über die Entwicklung und die Konsequenzen, die sich möglicherweise daraus ergeben könnten. Heute kann ich sagen: Ich bin froh, daß der Frieden erhalten geblieben ist.

Wie ist es Ihnen ergangen, als Sie die Bilder sahen von den Menschen, die durch die Mauer strömten, die lachten, die weinten, die Sekt tranken vor Freude über die Öffnung eines Bauwerks, das Sie ja mit geschaffen haben und zu dem Sie immer gestanden haben.

Ich kann das Fühlen und Handeln dieser Menschen nachempfinden. Ich habe aber auch die Folgen gefürchtet. Und wenn ich das Schicksal vieler Menschen in der DDR heute mit ansehen muß, glaube ich, daß diese Befürchtungen nicht ganz unbegründet gewesen sind. Die Öffnung der Grenze ist sicher positiv. Als wir 1986 miteinander sprachen, hatte ich ja gesagt, die Mauer muß von der BRD aus abgetragen werden. Diese Einschätzung ist heute sicher nicht mehr tragfähig. Aber daß die Mauer am 9. November geöffnet worden ist, das halte ich auch heute noch für eine Kurzschlußreaktion, so gut sie für die Menschen gewesen ist, und die Begeisterung auf den Straßen sprach ja für sich. Aber es gab auch sehr viele nachdenkliche Menschen, und zu denen gehörte ich.

Vor vier Jahren, bei unserem letzten Gespräch, haben Sie sehr klar verteidigt, daß die Mauer notwendig war und ihre Existenz auch noch für viele Jahre nötig sein wird. Das war doch wohl eine glatte Fehleinschätzung, oder?

Ich bin nach wie vor der Auffassung, daß der Mauerbau notwendig war, sonst wäre es '61 zum Krieg gekommen, zumindest zu einem Bürgerkrieg. Die Situation 1990 war sicher nicht die von 1961 und auch nicht die unseres Gespräches 1986.

Ist nicht am 9. November mehr für Sie zusammengebrochen als ein paar Steine aus der Mauer?

Ja, für mich ist mehr zusammengebrochen als die Mauer. Das, wofür ich eigentlich in diesem Staatswesen DDR gearbeitet und gelebt habe, was ich gedacht und gefühlt habe, die Rechnung Sozialismus ist ja nicht aufgegangen. Und das ist bitter, weil ich nach wie vor der Auffassung bin, daß das sozialistische Ideal und die sozialistischen Wertvorstellungen gut sind. So wie es im Augenblick aussieht, bleibt davon, von der DDR, ja nichts übrig. Und es gibt eine ganze Reihe von Werten, die für meine Begriffe durchaus erstrebenswert sind. Das ist eigentlich das Bittere. Sicher, es hat mich auch empört, wie die Regierungsvertreter gelebt haben. Natürlich hat mich auch gestört: Warum muß ein Honecker sich mit Westtoilettenpapier den Hintern abwischen und einen Grundig-Fernseher haben. Das ist unmoralisch. Aber das ist nicht das Entscheidende gewesen. Dafür bin ich nie in die SED eingetreten. Ich bin in die Partei eingetreten wegen der sozialistischen Ideale, und die hat man mir nicht nehmen können — auch nach dem 9. November nicht.

Und Sie sind nie ins Zweifeln gekommen? Haben Sie nie gespürt, daß so viele Menschen diesen Sozialismus, den Sie aufbauen wollten, partout nicht wollten?

Natürlich sind mir auch Zweifel gekommen. Aber ich hatte so viel Freiraum. Ich konnte mitarbeiten, ich konnte im Rahmen meiner Aufgabe als Kaderleiter auch mitregieren, Entscheidungen treffen. Insofern fühlte ich mich ja nicht unfrei.

Aber gerade in Ihrem Beruf hatten Sie doch viel mit Menschen zu tun. Haben Sie nie gemerkt, daß die alles andere wollten als diesen Sozialismus?

Ich kann Ihnen heute freimütig sagen, denn das weiß ja jeder im Betrieb, ich war persönlich für die Arbeit mit den sogenannten Antragstellern verantwortlich, also für diejenigen, die einen Ausreiseantrag gestellt haben. Ich habe diese Arbeit sehr ernst genommen. Und ich glaube, auch wenn ich harte Gespräche geführt habe, oder prinzipielle Gespräche ist vielleicht besser gesagt, aber ich habe nie die Achtung vor diesen Menschen verloren. Ich habe einige überzeugen können, und das war meine ehrliche Überzeugung, daß sie besser hier aufgehoben sind. Ich habe einmal gesagt: Der Unterschied zwischen unserem Parteiprogramm, also zwischen dem Sozialismus, und dem Christentum ist gar nicht so groß. Von dem, was wir sozial wollten, ist das kein großer Unterschied. Das ist auch der Grund, warum ich jetzt in der PDS bin, wegen der Überzeugung, daß der Sozialismus etwas Gutes ist.

Aber Ihr ganzes Weltbild ist doch kaputtgehauen worden.

Puh. Mein ganzes Weltbild nicht. Ich komme nochmal auf den Vergleich von Christentum und Sozialismus zurück. Das Christentum hat in seiner Geschichte auch so manches falsch gemacht, ob das nun die Inquisition war oder andere Dinge. Trotzdem hat das Christentum doch Bestand.

Sind Sie eigentlich enttäuscht von ihren Mitmenschen?

Nein. Ich kann von einzelnen Menschen enttäuscht sein, aber von den Menschen generell nicht. Ich glaube, ich bin im Grunde meines Wesens doch ein bißchen Optimist — obwohl ich im vorigen Jahr, das kommt dazu, persönlich sehr viel Leid durchgemacht habe. Ich habe nicht nur das große Leid erlebt, sondern auch das kleine im Privatleben. Meine zweite Frau, die ich shr geliebt habe, ist im Mai dieses Jahres an Krebs gestorben. Das kam 1990 noch alles dazu. Das war ein bißchen sehr viel. Aber vielleicht hat das auch dazu beigetragen, daß man das verkraftet hat, weil irgendwie ist der Mensch nur bis zum bestimmtem Maß leidensfähig. Natürlich spielt man auch mit solchen Gedanken ... Es gab ja SED-Funktionäre wie den ersten Kreissekretär von Perleberg, der sich erschossen hat, weil er das nicht verkraftet hat.

Und Sie, haben Sie auch das Gefühl gehabt, das nicht mehr verkraften zu können?

Ja, ja! Ich hab auch schon mal dran gedacht.

An Selbstmord?

So nennt man das ja wohl, aber damit hätte ich ja nichts gelöst.

Was war für Sie so bitter, daß Sie an Selbstmord dachten?

Sie wissen ja, daß ich nicht mehr Kaderleiter bin. Im Januar rief mein Direktor mich sich, um mir mitzuteilen, daß ich mit sofortiger Wirkung von meiner Funktion als Kaderleiter entbunden bin. Ich habe ihm vier Fragen gestellt: Werde ich abgelöst wegen Amtsmißbrauch? Nein. Werde ich abgelöst, weil ich mir Privilegien angemaßt habe? Nein. Werde ich abgelöst wegen Korruption? Nein. Werde ich abgelöst wegen Nichteignung. Nein. Aber für den Betrieb ist es besser, wenn du nicht mehr in dieser Funktion bist. Und dagegen hatte ich kein Argument, denn ich bin 40 Jahre in dem Betrieb und ich hatte immer das Gefühl, das ist mein Betrieb.Ja, das war mein Betrieb! Und das war eine bittere Stunde.

Haben sich seit der Wende Freunde von Ihnen distanziert?

Ja, auch da gab es einiges Bittere. Ich habe im Betrieb kaum gespürt, daß man mich schneidet oder nicht mehr kennen will — höchstens bei einigen ehemaligen Genossen, die möglichst schnell — ach was soll's. Es gibt den einen oder anderen, der zu Zeiten, als die SED am Ruder war, mich links überholen wollte und heute nicht laut genug schreien kann, wie schlimm damals alles war. Das empfinde ich als charakterlos. Das versteh ich nicht, und ich gebe mir auch gar keine Mühe, das nachvollziehen zu wollen. Es gibt aber auch Kollegen, Parteilose und Leute, mit denen ich mich immer gestritten habe, die jetzt sagen: Du, wir müssen uns nochmal zusammensetzen, ich will mit dir reden. Das ist mir dann Entschädigung für vieles andere.

Haben Sie Freunde, denen das ähnlich geht, mit denen ein Stück Aufarbeitung stattfindet?

Wissen Sie, so viel wie ich jetzt mit Ihnen gesprochen habe über mein Schicksal, rede ich sonst kaum, weil das nichts bringt. Die meisten Menschen haben so viele Sorgen, daß ich nicht meine Sorgen da auch noch abladen möchte. Das sind verschwindend wenige, mit denen ich darüber spreche.

Aber die Politik, die Partei, der Sozialismus — das war doch Ihr Leben.

Ja, aber ich bin nicht der Auffassung, daß ich 40 Jahre meines Lebens umsonst gelebt habe — auch wenn viele meiner Ideale sich nicht verwirklicht haben. Eines macht mich im Moment allerdings doch sehr nachdenklich: Ich habe eigentlich immer nach vorne gedacht und nun — ich weiß ich nicht, ob's nur am Alter liegt — denke ich weniger an vorne als an die schönen Tage in der Vergangenheit. Ich hatte nie viel Freizeit, aber 'ne schöne Zeit war es doch. Ach, was soll's!

Viele DDR-Bürger sagen: Die haben uns um unser Leben betrogen! Haben Sie das Gefühl von Schuld?

(lange Pause, Durchatmen) Ich hab mich mit diesem Problem der persönlichen Schuld auch versucht auseinanderzusetzen. (Pause) Ich bin da mit mir heute noch nicht eins. Die Fehler, die gemacht wurden, muß ich ja mittragen. Ich hatte ja was zu sagen und hatte auch immer das Gefühl, daß ich was zu sagen habe. Aber ich spreche mich im Augenblick von Schuld für meine persönliche Arbeit frei. Ich hab ja auch in den Gesprächen über meine Ablösung immer gefragt: Was werft ihr mir vor? Ich bin ja bereit, mich dem Gericht zu stellen. Es kam ja nie was. Gut, ich habe Fehler gemacht, aber Fehler setze ich nicht gleich mit Schuld. Wenn ich jemandem was gestohlen hätte, würde ich mich schuldig fühlen, wenn ich Amtsanmaßung in großem Umfang gemacht hätte oder anderen BEWUßT unrecht getan hätte.

Sie waren immerhin jahrelang Mitglied der Kreisparteikontrollkommission und hatten dort u.a. über Parteiausschlüsse von abtrünnigen und nicht linientreuen Parteimitgliedern zu entscheiden. Auch da kein Gefühl von Schuld?

Von einer Reihe von Beschlüssen, die ich damals getroffen habe, würde ich mich heute distanzieren, einige andere, wo es z.B. um die Aufdeckung von Korruption ging, würde ich auch heute noch unterschreiben.

Auch die Parteirausschmisse?

Das ist schwer zu sagen. Alles fließt. Was ich heute falsch finde, kann ja damals richtig gewesen sein. Meine mangelnde Zivilcourage, das ist allerdings etwas, wo ich heute vor mir rot werde.

Wie würden Sie selber im Moment Ihre Gefühlslage beschreiben, optimistisch, resigniert, deprimiert?

Das fällt mir schwer, furchtbar schwer. Es stimmt alles. Das ist ein derartiges Konglomerat von Gefühlen. Wenn ich mit meinem ältesten Sohn zusammen bin, der sagt: alles Mist! dann sag ich: Hör doch auf! Du bist jung, Mensch, krempel die Ärmel auf und arbeite! Da strahl' ich Optimismus aus, da zeig ich das nicht. Aber wenn ich manchmal alleine bin ... deswegen ja das Rückwärtsgewandte. Manchmal bin ich traurig, und wenn man dann die Zeitung liest, dann bin ich auch wieder zornig. Wenn man liest, der Vorsitzende der Treuhandgesellschaft, der macht das sechs Wochen, tritt dann zurück und fordert dann 3,2 Millionen Abfindung. Da sag ich mir: Mensch, siehste, da ist der Honecker ein Waisenknabe dagegen. Na, das muß man eben lernen. Aber ich bin zu alt, um noch völlig umzulernen. Was ich vielleicht noch lerne, ist, daß ich mir die Preise angucke: Wie sind sie bei Aldi und wie sind sie bei uns, und dann ergreift mich auch wieder Zorn.

Sehen Sie, es gab in der DDR unter den Menschen eine bestimmte Solidarität. Das kann man so schlecht beschreiben, da kann man nur immer Beispiele nennen und sagen: So war das eben, aber so wird es nicht mehr sein. So gesehen ist es gut, daß ich jetzt nicht mehr Kaderleiter bin. Denn jetzt müßte ich den Menschen sagen: Wir haben für euch keine Arbeit mehr. Ihr werdet nicht mehr gebraucht! Gleichzeitig denke ich, du darfst dich jetzt nicht zurückziehen. Die einzige Chance, die wir noch haben auch im Gesamtdeutschland, wäre eine starke Opposition, eine echte Opposition!

Sie werden sich also weiter politisch engagieren?

Ja, wobei in mir zur Zeit eine große Müdigkeit ist. Aber vielleicht ist das auch ganz gesund. Mit vielen Dingen muß man ins reine kommen, das ist richtig, ich bin ja kein abgeklärter Mensch.

Können Sie sich eine Zukunft vorstellen, Ihre eigene Zukunft?

Also wenn die Rechnung aufgeht, und ich hab' ja keine andere Chance, werde ich in den Vorruhestand gehen. Ich habe eines schon seit Jahren gemacht: Ich habe mir ein paar Hobbys gesucht für den dritten Lebensabschnitt. Ich angle ein bißchen und mache ein bißchen Holzarbeiten.

Aber Sie sind mit 59 ja noch jung.

Na klar, daß dieser dritte Lebensabschnitt jetzt schneller kommt, das ist auch ein Stück der Bitterkeit. Es ist nicht so, daß ich das nicht zugeben würde.

Haben Sie noch Träume für die Zukunft?

Sicher hat man noch Träume. Ein Traum wär 'ne Weltreise. Der andere ist ein Kindheitstraum, den werde ich mir im nächsten Jahr vielleicht auch erfüllen: einmal die Alpen zu besuchen. Dieser Traum von den Alpen, der begleitet mich ein ganzes leben lang, ich habe ihn bisher nie verwirklichen können, aber deswegen fühlte ich mich nicht unfrei. Sehen Sie, heute könnte ich nach Mallorca, aber ich habe das Geld nicht. Nun sagen Sie mal, wo liegt denn da der Unterschied!

Die DDR ist ja ganz stark Ihr Land gewesen, fühlen Sie sich eigentlich noch richtig zu Hause?

(Pause) Es wäre schön, wenn ich sagen könnte: Die DDR ist größer geworden, ohne daß wir die BRD eingemeindet hätten. Wenn wir echt zusammengewachsen wären, das wäre gut gewesen. Sie sind noch jung, meine Kinder auch, die können es packen. Für mich wird das ganz kompliziert. Ich weiß auch, daß ich die Umsetzung meiner politischen Überzeugungen nicht mehr erlebe. Die DDR war meine Heimat, das will ich nicht leugnen, und ich kann nur hoffen, daß ich das größere Deutschland als meine Heimat empfinden kann. Ich muß es doch akzeptieren, ich hab doch keine Alternative. Entweder ich verkrafte es, oder ich verkrafte es nicht, und wenn ich es nicht verkrafte, bleibt nur wieder der Suicid.Interview: Vera Gaserow

Dritte Folge der Serie am Samstag: „Man kann nur abwarten und hoffen.“