Angst vor der eigenen Courage

■ Die US-Demokraten und die Sprache des Klassenkampfes DEBATTE

Präsident Bush ist kaum ein Mensch mit ausgeprägten inneren Überzeugungen oder gefestigten Charakterzügen. Kein Wunder also, daß ihm die Meinungsumfragen Sorge bereiten. In den letzten Wochen verzeichnen sie einen plötzlichen Einbruch in der öffentlichen Hochschätzung des Präsidenten. Er genoß zwar nie tiefe, aber doch einst recht breite Unterstützung; nun scheint sie mit wachsender Geschwindigkeit abzubröckeln. Die Demokraten spüren, daß sie bei den Wahlen am 6. November gut abschneiden könnten: vielleicht ein oder zwei Sitze mehr im Senat und eine Verbesserung im Repräsentantenhaus. Immerhin wird ein Drittel des Senats und das gesamte Repräsentantenhaus neu gewählt. Nicht weniger bedeutsam sind die großen Hoffnungen, die sie in die wichtigen Wahlkämpfe um Gouverneursposten in großen Unionsstaaten setzen: Kalifornien, Florida, Illinois, Minnesota, Texas. Sollten sich ihre Hoffnungen erfüllen, sagen sie, kommen sie in eine gute Position, um im Jahr 1992 Bush aus dem Weißen Haus zu vertreiben und ihn durch einen Demokraten zu ersetzen. Sie argumentieren, die Öffentlichkeit sei durch die jüngste Hinwendung der öffentlichen Meinung zu Fragen der ökonomischen Gerechtigkeit und der Steuereintreibung wieder zu den einst wichtigsten Themen der amerikanischen Politik zurückgekehrt. Die Demokraten sind die Partei einfacher, arbeitender Amerikaner, die Republikaner vertreten die wohlhabenderen Teile der Mittelklasse, die Rentiers sowie das Kapital.

Stimmt dies, und erlebt der politische Diskurs in den USA eine Wiederkehr der Klassensprache? Und wenn ja — welche politischen Folgen lassen sich daraus ableiten? Und wie könnte all dies mit den unentwirrbaren und emotionalen Fragen von Kultur und Ethnizität in der amerikanischen Politik und mit der Zukunft des amerikanischen Imperiums verknüpft werden, welche die Entsendung Hunderttausender Soldaten in die saudische Wüste in diesem Sommer so eindeutig gestellt hat?

Die Schwierigkeiten begannen für Bush im Sommer, als er sich während der Haushaltsverhandlungen mit den Demokraten (die in beiden Häusern des Kongresses die Mehrheit halten) über sein eigenes Versprechen hinwegsetzte, Steuererhöhungen niemals zuzustimmen. Dieses Versprechen war natürlich in jeder Beziehung ein Betrug. Steuern konnten indirekt erhöht werden, und Kürzungen der Bundeshilfe für die Unionsstaaten bedeuteten Steuererhöhungen für die Bürger vieler Staaten. Das Versprechen mobilisierte die neue republikanische Allianz von Ignoranz, Ressentiment und Egoismus.

Kongreß und Präsident haben sich nun nach vielerlei Streit und Konfrontation auf einen Bundeshaushalt geeinigt. Er beinhaltet einige unwesentliche Kürzungen bei den Rüstungsausgaben (aber längst nicht soviel, wie es das Ende des Kalten Krieges rechtfertigen würde), einige Steuernachlässe für weniger reiche Steuerzahler (die sich auch auf wachsende Arbeitslosigkeit einstellen müssen und daher möglicherweise sowieso kein Geld zum Steuerzahlen haben werden), und etwas größere Strenge gegenüber den Superreichen — aber nicht sehr viel.

Die Demokraten finden sich zu ihrer eigenen Überraschung plötzlich als Vorkämpfer der Durchschnittsamerikaner wieder. Gegenwärtig erleben wir aber weniger eine Rückkehr der Demokraten zu ihren Traditionen als das Auseinanderbrechen der republikanischen Koalition. Wirtschaftlich konnte Bush nicht gleichzeitig dem Kapital und der Mittel- und Arbeiterklasse dienen, die ihn gemeinsam zum Präsidenten gemacht hatten — und so mußte er das demokratische Bild von ihm als Vorkämpfer der Reichen akzeptieren.

Die Demokraten haben sich in eine Position drängen lassen, in der sie mit aller gebotenen Zurückhaltung die Tatsache anprangern können, daß es in unserer Gesellschaft große Einkommens- und Wohlstandsunterschiede gibt — aber vor jedem Projekt, das diese Unterschiede auf institutionellem Wege zu verändern suchen könnte, weichen sie zurück. Statt dessen versuchen sie, das allgemeinste und am wenigsten reflektierte aller Motive zu mobilisieren: das unmittelbare ökonomische Interesse, ohne Verbindung zu irgendeiner Ideologie der gesellschaftlichen Solidarität oder eines langfristigen Transformationsprojektes. Im Vergleich zu den Demokraten von heute war die Partei Franklin Roosevelts 1936 fast revolutionär.

Will der geschwächte Bush am Golf seine politische Fortune wiedergewinnen?

Wie hängt dies mit der Expedition an den Golf zusammen und mit der Möglichkeit, daß Bush — gegen den Willen seiner Verbündeten und den unübersehbaren Unmut im Kongreß und gegen die amerikanische Verfassung — einen Angriff auf den Irak befehlen wird? Zwei Theorien stoßen hier aufeinander. Eine ist, daß ein verzweifelter und geschwächter Bush seine politische Fortüne durch ein tollkühnes Spiel wiederherstellen will und so einen Angriff durchführen wird. Die andere ist, daß seine eigenen Berater (insbesondere Außenminister Baker) zu dem Schluß kommen werden, zusätzlich zu den unkalkulierbaren Risiken und Unwägbarkeiten eines Angriffs im Nahen Osten selbst bestehe jetzt auch die Möglichkeit einer größeren inneren Opposition. Daher werden sie auf Vorsicht plädieren. Selbst das Pentagon ist gespalten. Unsere Nahostpolitik ist in jedem Fall hoffnungslos verfahren — denn das Bündnis mit Israel steht einer gleichzeitigen Allianz mit den „moderaten“ Arabern und langfristig sogar mit Klientelstaaten wie Ägypten im Wege.

Unter diesen Umständen könnte man meinen, daß die Demokraten als Oppositionspartei einen starken Angriff aus der Opposition starten würden. Manche Demokraten sind in diesen Sachen recht wortreich (so der „Black Caucus“ im Kongreß, aus dem evidenten Grund, daß Schwarze in unseren Kampfeinheiten überproportional vertreten sind, die Neu- England-Patrizier Claiborne Pell und Edward Kennedy, und Senator Kerry aus Nebraska, der als Offizier in Vietnam ein Bein verlor). Doch viele drücken sich um eine Stellungnahme. Die Präsidenten von Repräsentantenhaus und Senat, Thomas Foley und Goerge Mitchell, haben lediglich gesagt, daß sie den Kongreß zu einer Debatte zusammenrufen werden, falls Bush in den Krieg zieht — kaum ein resoluter Standpunkt. Tatsache ist, daß sich viele Demokraten zur Unbeweglichkeit verurteilt haben: durch ihre eigene imperiale Ideologie, durch die Furcht, als Schwächlinge zu erscheinen, durch die Servilität der Demokraten gegenüber der Israel-Lobby.

Die öffentliche Stimmung wird von einer zornigen Passivität bestimmt

Gegenwärtig erleben wir in unserer Politik weniger einen Prozeß des Machtwechsels als einen allumfassenden und fortschreitenden Zerfall. Die inneren Widersprüche des amerikanischen Kapitalismus und insbesondere der Mangel an Weisheit und Realismus unserer politischen Eliten hat in die gegenwärtige politische Debatte nur bruchstückhaft und zufällig Eingang gefunden. Man erinnere sich: die Hälfte unserer Wählerschaft geht nicht zu den Wahlurnen. Viele Bürger hegen Mißtrauen und Zynismus gegenüber jeglicher Politik und sind unfähig, an Organisation zur Verteidigung der eigenen Interessen auch nur zu denken — oder auf primitive Parolen und billige Propaganda zu reagieren. Die öffentliche Stimmung wird von einer zornigen Passivität beherrscht. Die Haushaltsdebatte, weit entfernt davon, einen Richtungswechsel nach links in der amerikanischen Politik aufzuzeigen, hat die Kluft zwischen der herrschenden Ideologie und der wirtschaftlichen und sozialen Wirklichkeit deutlich gemacht. Und in einer Demokratie bleibt es dem Präsidenten überlassen, Entscheidungen über Krieg und Frieden in einem kleinen Kreis von Beratern zu fällen, unter Mißachtung unserer Verfassung, die das Recht auf Kriegserklärung dem Kongreß vorbehält. Der Zerfall unserer Politik geht weiter — und keiner kann sagen, wo er enden wird. Norman Birnbaum

Der Autor ist Professor an der Georgetown-Universität in Washington und zählt zu den linken Demokraten.