Ist Gott Linkshänder?

Wie ein Mikrobiologe der Linkslastigkeit in der Natur auf die Spur kam und durch das Linksregime der DDR behindert wurde — Siegfried Wachtels Forschungs- und Erfahrungsbericht über „Das Linksphänomen“  ■ Von Mathias Bröckers

Ich glaube nicht“, schrieb der berühmte Physiker Wolfgang Pauli 1957, „daß Gott ein schwacher Linkshänder ist, und ich bin bereit eine große Summe darauf zu verwetten, daß die Experimente Resultate liefern werden, die das Vorhandensein einer Symmetrie belegen“. Das „schwach“ bezog sich auf die Wechselwirkung der schwachen Kernkraft, von der zwei Physiker kurz zuvor behauptet hatten, daß sie, im Unterschied zur starken Kernkraft, zwischen rechts und links unterscheiden könnte.

Wenige Tage nach Paulis Wette führte die Physikerin Chien-Sung Wu an der Columbia-Universität die Experimente durch und erbrachte den Nachweis, daß von radioaktiven Kernen ausgestrahlte Beta-Teilchen eine deutliche Asymmetrie aufweisen: bei ihrem Zerfall entstehen 30 Prozent mehr links- als rechtshändige Elektronen. Für die Physik eine Sensation, bis dahin war man überall von einem Gleichgewicht zwischen links- und rechtsdrehenden Elementarteilchen ausgegangen, wie es bei der starken Wechselwirkung innerhalb des Atoms der Fall ist. Als die Ergebnisse von weiteren Experimenten bestätigt wurde, zeigte sich Pauli konsterniert: „Ich bin weniger davon erschüttert, daß Gott die linke Hand bevorzugt, als davon, daß er als Linkshänder die Symmetrie zwischen rechts und links beibehält, wenn er sich stark gibt.“ Sein indischer Kollege Abdus Salam meinte: „Meines Erachtens haben wir jetzt entdeckt, daß der Weltraum ein schwacher, nur linksäugiger Riese ist.“

Siegfried Wachtel bemerkte diese „Linksäugigkeit“ zum ersten Mal als Junge beim Skilauf im Erzgebirge: Linkskurven fielen ihm wesentlich leichter als Rechtskurven. Er führte das Problem auf seine Rechtshändigkeit zurück und begann Rechtskurven zu trainieren, doch die Leichtigkeit der Linkskurve wollte sich nie einstellen.

Einige Jahre, als diese Episode zufällig zur Sprache kam, bestätigten ihm Freunde, daß es ihnen mit Schlittschuhen, Fahrrädern und Autos ebenso erging und als Wachtel, mittlerweile Medizinstudent in Berlin, in seinem Garten beobachtete, daß die Vögel ihr Futterhäuschen ausschließlich in Linkskurven anflogen und verließen, begann er das „Linksphänomen“ genauer zu studieren — un stieß auf Erstaunliches.

Die Robben im Zoo wenden, am Beckenrand angekommen, in einer Linkskurve, Raubvögel drehen ihre Kreise nach links, bevor sie zum Sturzflug ansetzen, und alle Zirkustiere laufen, wie ihm ein Dompteur berichtet, immer nur links herum: „Rechts herum schlagen die Pferde aus und die Raubkatzen beißen.“

In der wissenschaftlichen Literatur zur Rechts-Links-Thematik fand Siegfried Wachtel überwältigende Beweise für den Linksdrall der Natur, doch seltsamerweise kaum Erklärungen des Phänomens — dort, wo es für ihn spannend wurde, bei den Bewegungsformen, hörten die meisten Abhandlungen zur Assymetrie auf. Wie die Menschen bevorzugen auch viele Tiere Dreh- und Wendebewegung in die Richtung, in der auch Schneckenhäuser, Schraubenbakterien und Windpflanzen wachsen und in der auch der Speicher des menschlichen Gen-Codes, die DNS-Spirale, dreht — nach links. Doch eine fachübergreifende Wahrnehmung der Rechts-Links-Thematik, die Philosophen, Naturwissenschaftler und Kulturhistoriker seit der Antike beschäftigt, gab es ebensowenig wie Versuche, diesen Links-Effekt praktisch zu nutzen.

Zwei Plattenspieler und dreißig Bohnensamen

Mit zwei Plattenspieler-Motoren, drei Pflanzschalen und dreißig Bohnensamen startete Wachtel eine erstes Experiment: eine Schale wurde während der Keimphase rechts herum, die andere linksherum gedreht und die dritte stand auf dem Tisch. Das Ergebnis nach einer Woche war verblüffend: die ruhenden Sprossen wiesen eine Durchschnitts- Länge von 11 cm, die linksgedrehten waren 15 cm und die rechtsgedrehten 25 cm lang. Um den Zufall auszuschalten, wurde das Experiment mehrfach wiederholt, auch mit anderen Pflanzen-Samen und menschlichen Amnion-Zellen, die dasselbe Ergebnis erbrachten. „Obwohl die Resultate unsere Erwartungen bei weitem übertrafen, blieben sie für mich zunächst in einer Hinsicht unbefriedigend. Ich war ja davon ausgegangen, daß gerade die linkesbetonte Bewegung dem Organismus ,entgegenkommt‘. Die Untersuchungsergebnisse hingegen belegten eine Wachstumsbeschleunigung durch Rechtsdrehen. Im Verlaufe weiterer Experimente gelangten wir zu der Hypothese, daß man, nach dem Prinzip Actio = Reactio, organische Substanzen offenbar durch die ihrer Chiralität (Händigkeit) entgegengesetzte Kreisbewegung zu stärkerem Wachstum anregen kann, die von Natur aus linksspiralig wachsenden Bohnenkeimlinge also durch Rechtsdrehung.“

Bis dahin waren Wachtels Untersuchungen über die Linksdrehung bei Vorgesetzten, Akademien und naturwissenschaftlichen Dienststellen auf Skepsis und taube Ohren gestoßen — vielen genügte schon die Bezeichnung „Linksphänomen“, um die Idee unter den Verdacht der Metaphysik und des Verstoßes gegen das parteitagsgemäße materialistische Weltbild geraten zu lassen. Eine Fernsehdokumentation über die Linksdrehung — von der tibetanischen Gebetsmühle über die römischen Wagenrennen bis zum typischen Linksbogen am Ende der Schlange in „sozialistischen Wartegemeinschaften“ — bei der Wachtels Entdeckung im Mittelpunkt stehen sollte, wurde kurz vor der Fertigstellung gestoppt.

Besuch von der Stasi

Das Verhalten offizieller Stellen änderte sich schlagartig, als der Forscher und ein Kollege daran gingen, die Entdeckung beim Patentamt anzumelden. Sie erhielten Besuch von der Stasi, das Projekt wurde unter höchste Geheimhaltung gestellt, eine wissenschaftliche Publikation verboten — doch die „Anwendungspartner“, mit denen man Wachtel zur Auswertung und Nutzung seiner Entdeckung zusammenbrachte, erwiesen sich eher als Hemmnis denn als Förderer seiner Arbeit. Auf die Ursache der merkwürdigen Verschleppungen und Behinderungen stieß der Forscher erst, als sich sein Sachbearbeiter beim Patentamt verplapperte — eine Auseinandersetzung über die ersten Experimente zur Wachstumshemmung von Krebszellen, brach er mit dem Hinweis ab: „Lassen sie doch endlich die verdammte Krebsgeschichte aus dem Spiel, die Verteidigungsproblematik hat Vorrang.“

Siegfried Wachtels Buch „Das Linksphänomen“, das er mit Unterstützung des Publizisten Andrej Jendrusch verfaßte, wirft nicht nur ein erstes Licht auf ein unentdecktes und ungenutztes Naturverhalten, dessen weitere Erforschung ungeahnte Möglichkeiten zu versprechen scheint, es ist, außer einem spannenden Wissenschaftsreport, auch ein bezeichnendes Dokument aus dem Wissenschaftsbetrieb der ehemaligen DDR. Um den Dreheffekt von Isomeren — chemischen Verbindungen wie etwa die links- oder rechtsdrehende Milchsäure — auf Tumor- Gewebe von Mäusen zu testen, mußten Gurken-Gläser aus der Universitätskantine als Käfig herhalten. Trotz positiver Ergebnisse — die Behandlung mit links drehender Milchsäure verlangsamte das Wachstum des Krebs-Gewebes — scheiterte eine statistische Erhärtung der Tests an simpelsten Materialkosten. Von den Vorstellungen ihrer Gesprächspartner über eine mögliche militärische Verwendbarkeit der Entdeckung erfuhren Wachtel und seine Kollegen unter Berufung auf die Geheimhaltung nichts — ihre Fortsetzung der Erforschung unterdessen wurde nur noch geduldet und 1981 dann verboten. Das Institut für Biochemie in Halle, so wurde das Verbot begründet, hätte bei drei Versuchsreihen nur einmal die behaupteten Wachstumseffekte erzielt — Wachtels Einwand, daß nur diese Reihe ohne Nährstoff-Zusätze gelaufen sei, welche bei den beiden anderen Versuchen die Ergebnisse verfälscht hätte, fruchtete nichts. „Die Mehrheit der Tagungsteilnehmer“, resümiert Wachtel die entscheidende Sitzung des Forschungsrats, „gelangte zu der Auffassung, daß die von uns beobachteten Effekte in keinem kausalen Zusammenhang mit naturwissenschaftlichen Tatsachen stünden. Weitere Versuche würden einen sehr hohen geistigen und materiell-technischen Aufwand fordern ... der an anderer Stelle nicht zu vertreten wäre.“

Die Linksphänomenologen mußten ihre Arbeit einstellen, zumal auch Manfred von Ardenne, dessen unabhängiges Forschungsinstitut ihnen als letzte Zufucht schien, kein Interesse zeigte — die Rechts-Links- Problematik sei für ihn hinlänglich erschlossen, vorallem insofern, als zwischen beiden nicht fundamental, ohne Bezugspunkt, unterschieden werden könnte, erklärte der prominente Wissenschaftler.

Linksgewunden, aber rechtsgeschraubt

In der Tat, die banalste Unterscheidung der Welt, erweist sich bei näherem Hinsehen als subtiles Problem — so erklären sich beispielsweise Techniker und Naturwissenschaftler außerstande, die Richtungszuweisungen rechts/links an Bewohner einer unbekannten Galaxie zu übermitteln. Auch zwischen Zoologen und Botanikern kam es bei der Festlegung von Spiral- und Schraubbewegungen immer wieder zu Meinungsverschiedheiten, bis man den salomonischen Kompromiß fand, die bevorzugte Wachstumsrichtung der Schlingpflanzen als linksgewunden aber rechtsgeschraubt zu definieren. Dieses Paradox durchzieht sämtliche Wissenschaftsgebiete.

So gilt etwa die Spirale eines Schneckenhaus allgemein als Rechtswinder, aber nur weil man sie von unten betrachtet — von oben, also in Wachstumsrichtung betrachtet, ist das Schneckenhaus ein eindeutiges Linksphänomen. Ein Definitionskapitel — „Was ist links?“ — geht der nur scheinbar simplen Frage in diesem Buch nach.

Ob Siegfried Wachtels Entdeckung des Linksdralls in der Natur hält, was die ersten Experimente versprechen, können nur weitere Versuche zeigen, die nach dem 3. Oktober jedenfalls nicht mehr durch sozialistische Staatsparanoia blockiert werden. Wenn die weitere Erforschung dennoch ins Stocken geraten sollte, dann wegen der Hemnisse, die unkonventionellen, neuen Ideen eben nicht nur von östlicher Bürokratie, sondern auch von westlicher Ignoranz entgegengebracht werden. Zumal wenn sie den konventionellen Rahmen der Naturgesetze überschreiten — denn welches Naturgesetz für schnelleres oder langsameres Wachstum bei entsprechender Drehung sorgt, davon hat auch Siegrfried Wachtel eingestandenermaßen keine Ahnung.

Dafür, daß es ein solches, noch unbekanntes Gesetz geben könnte, bringt sein Bericht allerdings überzeugende Argumente — auch wenn sich der Rezensent außerstande sieht, ein halbwegs objektives Schlußurteil abzugeben. Als ehemaliger Skifahrer ist er von der Stichhaltigkeit des Phänomens völlig überzeugt — links herum ging es bald wie Toni Sailer, rechts herum trotz jahrelangen Trainings immer nur wie „Mathias Bröckers.

P. S.: Das Erscheinen des Buchs im Links-Druck Verlag hat nichts mit dem Phänomen als solchen, sondern mit dem Namen des Verlegers zu tun: Christoph Links gründete mit zwei Kollegen am 1. Dezember den ersten Privatverlag nach Aufhebung der Zensur in der DDR.

Siegfried Wachtel/Andrej Jendrusch: „Das Linksphänomen — Eine Entdeckung und ihr Schicksal“, Links-Druck Verlag Berlin, 150 Seiten, 22 DM