„Unsinn, du siegst“

Das „Deutsche Tagebuch“ des Kommunisten Alfred Kantorowicz wiedergelesen  ■ Von Reinhard Mohr

Mit dem Abschied von der guten, bösen Bundesrepublik und dem realsozialistischen Gesamtkunstwerk DDR vollzieht sich auf vergleichsweise harmlose Weise das Ende eines Dramas, das spätestens mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 seinen Lauf nahm. Die meisten, die an ihm teilhatten, leben nicht mehr; Kommunisten, Sozialdemokraten, unabhängige Intellektuelle, Arbeiter und „Bürgerliche“, die den Traum von einem demokratischen, freien und sozialistischen Deutschland verfolgten und ihm nicht selten bis in den Tod die Treue hielten: Carl von Ossietzky, Kurt Tucholsky, Egon Erwin Kisch, Hanns Eisler und Bertolt Brecht, Rudolf Breitscheid, Max Braun und Alfred Döblin, Ernst Toller, Erich Mühsam, Walter Benjamin, Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann und Thomas Mann, Arthur Koestler, Erich Weinert und Arnold Zweig und andere mehr.

Alfred Kantorowicz kannte die Genannten alle. Mit den meisten war er befreundet, denn sie teilten mit ihm die politische Biographie des zwanzigsten Jahrhunderts. Brecht und Benjamin, Erich Mühsam und Heinrich Mann waren tot, als er am 22.August 1957, zwei Tage nach seiner überstürzten Flucht aus der DDR, im „Sender Freies Berlin“ sagte: „Nein, ich konnte nicht mehr die Augen verschließen vor dem fast mythischen Phänomen, daß, während wir gläubig für Freiheit und Recht gegen die faschistische Barbarei gekämpft hatten, Faschismus und Barbarei hinter uns wieder auferstanden waren in Wort und Tat und Ungeist in den Amtsstuben der Apparatschiks.“

In den Jahren 1959 und 1961 erschien das zweibändige Deutsche Tagebuch (1945—1957) des überzeugten Kommunisten Alfred Kantorowicz, der über Nacht zum „Verräter“, „Kapitalistenknecht“, zum englischen oder amerikanischen Agenten, jedenfalls zum „Renegaten“ par excellence wurde, wie frühere „Kampfgefährten“ pflichtschuldigst und voller Abscheu bekundeten. Er nahm es ihnen nicht übel, wurden sie doch von Ulbricht, dem ersten Sekretär des ZK der SED, und seiner Clique dazu gezwungen — diesen „Spitzeln, Denunzianten, Lügnern, Folterknechten, Rechtsbeugern, den Lakaien des Unrechts und der Gewalt, die ihr Leben lang aus den Bürostuben geschoben, gehetzt, verleumdet, nach oben gebuckelt und nach unten getreten haben“.

Warum er es inmitten dieser SED- Gesellschaft so lange ausgehalten, warum er so lange — wider besseres Wissen — gehofft und gekämpft hat — darüber führte er ein 1.400 Seiten umfassendes „Selbstgespräch“ in der Niederschrift seiner Tagebücher, die inzwischen längst vergriffen sind.

Wer es dieser Tage (wieder) liest, sieht das große Panorama des historischen Kampfes vorüberziehen, den die „Internationale“ des zwanzigsten Jahrhunderts über zwei Generationen beflügelt hat. Am Tage, da zwei Deutsche namens Schäuble und Krause den tausendseitigen „Einigungsvertrag“ paraphieren, fällt der Blick auf das Ende des zweiten Bandes. „Mir scheint kein Licht, die Fackel ist verglommen/ Die ich durch diese Finsternis einst trug/ Als einz'ger Freund wär mit der Tod willkommen/ Mit seiner Botschaft: Nun ist es genug.“

Alfred Kantorowicz wurde am 12.August 1899 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Berlin geboren. Als „vaterländisch begeisterter Freiwilliger“ nahm er am Ersten Weltkrieg teil, wo er 1918 mit dem „Eisernen Kreuz“ ausgezeichnet wurde. Nach Kriegsende und dem Scheitern der deutschen „Novemberrevolution“ studierte er Rechtswissenschaften und Literaturgeschichte in Berlin, Freiburg, München und Erlangen, lernte dabei Bloch, Brecht und Feuchtwanger kennen. Mit 24 Jahren frischgebackener Dr.jur., schrieb er für das Feuilleton der berühmten 'Vossischen Zeitung‘ in Berlin. Die Jahre der „politisierenden und radikalisierenden inneren Unrast“ begannen. Wie viele Intellektuelle wurde auch er von jenem Strom erfaßt, der auf dem Weg zur Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zur Befreiung von kapitalistischer Lebensnot und autoritärer Klassenherrschaft führen sollte.

1928 ging er als Kulturkorrespondent der 'Vossischen Zeitung‘ und der 'Ullstein-Blätter‘ nach Paris, wo er Kurt Tucholsky „ablöste“. Kantorowicz' Nachfolger in Paris wurde 1929 der 24jährige, „glänzend begabte Publizist“ Arthur Koestler, der zehn Jahre später seine persönliche Abrechnung mit dem Parteikommunismus verfaßte: den antistalinistischen SchlüsselromanSonnenfinsternis.

Zurück in Berlin, beschleunigte sich die Radikalisierung mit der Zuspitzung der gesellschaftlichen Konfrontation. Ein Schockerlebnis war die Verurteilung des Herausgebers der 'Weltbühne‘, Carl von Ossietzky, zu 18 Monaten Gefängnis wegen „Landesverrats“ im Jahre 1931. „Der Notstand war eingetreten und belebte den Geist des Widerstandes gegen die heraufkommende Terrorherrschaft“: Alfred Kantorowicz, der 1929 ein Studentenschauspiel unter dem Motto Deutschland — das ist eine Minderheit geschrieben hatte (1931 wurde es verboten), trat in die KPD ein.

In der Parteizelle des „Künstlerblocks“ am Laubenheimerplatz in Berlin-Wilmersdorf war die „rote Intelligenz“ versammelt. Auch noch nach dem 30.Januar 1933, als Berlin in einem Meer von Hakenkreuzfahnen versank, trotzten die „streitbaren Kommunisten“ der alles überwältigenden neuen Macht. Bis zum Reichstagsbrand, eine Woche vor den letzten Wahlen am 5.März 1933, schlugen sie zurück: „Rückten die SA-Stürme an, so waren wir vorbereitet, sie zu empfangen. Vierhundert von den rund tausend Bewohnern der drei Blocks waren im antifaschistischen Kampfbund Künstlerkolonie vereinigt. Drohten die Nazis mit Waffengewalt, nun wohl, auch wir konnten schießen.“

Danach begann die Finsternis, das „kampflose Rette-sich-wer-kann“, das die KPD-Führung als „planmäßige, erfolgreich durchgeführte Maßnahme“ feierte, die die deutsche Arbeiterbewegung auf ihrem unfehlbaren Weg zum Sieg weiter gestärkt habe. Doch die Zweifel an der Weisheit dieser „Garnitur von Bankrotteuren“ wurden — nicht zum letzten Mal — von der unmittelbaren faschistischen Bedrohung in den Hintergrund gedrängt. Kantorowicz floh, wie viele andere, nach Paris.

Das „Herzasthma des Exils“ (Thomas Mann) trieb Kantorowicz auch dort zu ratloser Tätigkeit. 1934 — die Nazis hatten ihn gerade ausgebürgert — gründete er die „Bibliothek der verbrannten Bücher“, arbeitete an der Herausgabe des Braunbuchs über Reichstagsbrand und Naziterror (Auflage: 600.000) mit, war Generalsekretär des „Schutzverbandes deutscher Schriftsteller im Exil“, schrieb Artikel, Aufsätze und Essays, hielt Reden vor Versammlungen und im Rundfunk. Der Titel seines 1936 erschienenen Essaybandes In unserem Lager ist Deutschland war Wunsch und Programm aller Bemühungen. Doch selbst in der Emigration, ja gerade dort, herrschten die allmächtigen Funktionäre der Partei. Über Walter Ulbricht, der aus seinem Moskauer Komintern-Büro nach Paris kam, um — nach einem ideologischen Schwenk — den zuvor als „Lakai der Bourgeoisie“ verdammten Heinrich Mann zu bewegen, sich einer deutschen Volksfront im Exil als „geistiges Oberhaupt“ zur Verfügung zu stellen, urteilte der Autor des Romans Der Untertan: „Ich kann mich nicht mit einem Mann an einen Tisch setzen, der plötzlich behauptet, der Tisch, an dem wir sitzen, sei kein Tisch, sondern ein Ententeich, und der mich zwingen will, dem zuzustimmen.“

Die „Volksfront“ unter dem Diktat der Kommunisten scheiterte, und so zerschlug Ulbricht 1937 folgerichtig sämtliche überparteilichen Exilinstitutionen einschließlich des Schriftstellerverbandes und der Hilfs- und Solidaritätskomitees. Das „andere Deutschland“ sollte schon damals ein richtiges Lager sein. „Wahrhaftig, wer uns damals vorausgesagt hätte, daß im Kern dieselben Leute, die uns 1933 in den Abgrund geführt hatten, fünfundzwanzig Jahre später, nach hundert anderen Dummheiten, Versagern, politischen und moralischen Unzulänglichkeiten, immer noch an der Macht gehalten werden, den hätten wir für einen pathologischen Schwarzseher gehalten“, schreibt Kantorowicz 1959.

Bevor aber aus der „Todfeindschaft gegen jede Art und Form der Parteibürokratie“ Konsequenzen gezogen werden konnten, rief der Faschismus seine Todfeinde ein weiteres Mal zu den Fahnen. Im Sommer 1936 meldete sich Kantorowicz, wie 5.000 andere deutsche Antifaschisten, freiwillig zum Kampf gegen Francos Truppen, die der spanischen Republik den Garaus machen wollten. Mit der 13.Internationalen Brigade lag er an der „Südfront“ von Pozoblanco im Angesicht des „Feindes aller freien Völker“. In der Einführung seines 1948 erschienenen Spanischen Kriegstagebuchs, das erst 1966 in der Bundesrepublik neu herausgegeben wurde, wird deutlich, daß dieser Internationalismus auch nationale Wurzeln hatte: „Der Kampf geht weiter, und man wird uns Spanienkämpfer immer wieder an der Volksfront dieses Kampfes für das neu zu erbauende Deutschland finden.“

Zur gleichen Zeit wütete schon ein Teil dieses „neuen Deutschland“ auf die alte Weise. Erich Mielke, verdienter Staatssicherheitsminister der DDR, führte schon 1936/37 im Auftrage der Moskauer Parteizentrale „Vernehmungen“, Folterungen und Erschießungen hinter der Front durch. Obwohl dies den Soldaten an der Front, auch dem Offizier Kantorowicz, erst später bekannt wurde, sorgte das Verhalten der stalinistischen Politkommissare insgesamt für „schmerzhafteste Zweifel“. Während eines Spaziergangs am Strand von Benicasim, südlich von Barcelona, der eine gerade aus dem Feldlazarett entlasssen, der andere von den Stellungen bei Teruel kommend und mit gebrochenem Fuß, den er sich bei seiner „Landung in Australien“ geholt hatte, reden Alfred Kantorowicz und Egon Erwin Kisch über den bohrenden inneren Zwiespalt: „Die Bitterkeit drückte Kisch das Herz ab. Ächzend ließ er sich auf einen Stein nieder, zeichnete, vor sich hinbrütend, mit seinem Stock Schnörkel in den Sand, sah dann auf, sah mir in die Augen und sagte: ,Weh uns, wenn wir gesiegt haben!‘“

Sie siegten nicht, und so kehrten sie, geschlagen und zumeist verwundet, 1938/39 über die Pyrenäen zurück nach Frankreich. In Paris warteten schon die Abgesandten Ulbrichts, um auf Parteiversammlungen „die Linie frisch zu lackieren“: „Armlose, Beinlose, Schüttler, Kopfverletzte, alle bedrückt, gehetzt, entnervt. Da sitzen die armen Jungen mit ihren zerschossenen Knochen und müssen sich ein Referat über den Trotzkismus anhören.“

Während Arthur Koestler, kaum war er aus der Gefangenschaft General Francos befreit, 1938 endgültig mit der kommunistischen Partei brach, schrieb Alfred Kantorowicz noch am Dialog mit sich selbst: „Kann man gegen den Faschismus kämpfen, wenn Geist und Seele gefesselt sind, eingeschüchtert in Zwangsjacken der eigenen Parteibürokratie?“ Wiederum war der Faschismus schneller als die philosophische Antwort. Nach der französischen Kriegserklärung an Hitler wurde er in „Les Milles“ interniert, floh während eines Eisenbahntransports, versteckte sich in Marseille, wo er abermals von den französischen Behörden verhaftet wurde. Die deutschen Truppen hatten inzwischen den größten Teil Frankreichs besetzt. Nach vielen Irrungen und mit Glück konnte er Ende März 1941 im Laderaum des Frachters „Paul Lemerle“ Frankreich in Richtung Amerika verlassen — zusammen mit zweihundert anderen Flüchtlingen aus ganz Europa, unter ihnen auch André Breton und Anna Seghers. Nach einer weiteren vierwöchigen Zwangsinternierung auf Martinique betrat er schließlich am 18.Juni 1941 in New York amerikanischen Boden. Zwei Tage später überfielen Hitlers Truppen die Sowjetunion.

Bis Oktober 1946 arbeitete Kantorowicz als Reporter, schließlich als Leiter einer Nachrichtensendung der CBS in New York. Voller Hoffen und Bangen kehrte er im Dezember 1946 nach Deutschland zurück, wo er seinen „Pltz wieder einnehmen“ wollte, um „die Ideen, für die ich in den vergangenen zwei Jahrzehnten gekämpft habe, verwirklichen zu helfen“.

Seine erste Begegnung mit Johannes R. Becher, dem alten Genossen, der jetzt Präsident des Kulturbundes war und in der stacheldrahtbewehrten Funktionärssiedlung am Rande Pankows in unmittelbarer Nähe der SED-Gewaltigen Ulbricht, Pieck, Grotewohl und Dahlem residierte, zeigte dem parteitreuen Emigranten und Spätheimkehrer, daß die wichtigsten Plätze schon besetzt waren — von der „Gruppe Ulbricht“, die von Moskau aus die Fäden gezogen hatte. Das Wiedersehen wurde zu einer „tiefen, fast schockartigen Enttäuschung“. „Fand einen bösartigen Parteigeheimrat“, schrieb Kantorowicz ins Tagebuch, „selbst sein Zynismus war humorlos geworden.“

Gleichwohl erlebte er den Beginn des Jahres 1947 als politische „Flitterwochen“: Das Wiedersehen überlebender Genossen und Freunde stärkte immer wieder den selbstverfertigten Enthusiasmus. Gegen den Widerstand der SED, dafür mit Unterstützung der sowjetischen Militärverwaltung, gründete er im Juni seine Zeitschrift 'Ost und West‘. Der beabsichtigte „Brückenschlag“ stand zwar von Anfang an auf wackligen Füßen; die amerikanische Militärverwaltung verweigerte ihm die ersehnte „Doppellizenz“, nachdem große US-Zeitungen ihn als „bolschewistischen Top-Spion“ „entlarvt“ hatten. Aber schließlich bekam er sein Medium, um „politische und kulturelle Fragen“ des ganzen Deutschlands jenseits der ideologischen Blocklogik zu behandeln — getreu seiner Maxime: „Nur der Geist kann die Wunden heilen, die die Politik geschlagen hat.“

Bei Fichte findet er das Zitat für die nächste Ausgabe seiner Zeitschrift, die 1947/48 die erstaunliche Auflage von 150.000 Exemplaren erreichte: „Das edelste Vorrecht und das heiligste Amt des Schriftstellers ist dies, seine Nation zu versammeln und mit ihr über ihre wichtigsten Angelegenheiten zu beratschlagen.“

Es ist kein Zufall, daß der Kommunist Kantorowicz jenes Marx-Zitat über alles liebt, in dem sich die Dialektik des historischen Materialismus mit dem humanistischen Pathos des deutschen Idealismus kreuzt: „Aber die Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift.“

In der maßlosen Überschätzung der „Macht des Geistes“, die Fluchtpunkt und Projektionsfläche des intellektuellen Dauerdiskurses der zwanziger und dreißiger Jahre war, äußert sich ein exemplarisches, revolutionär gewendetes Mißverständnis. Entgegen anderslautender Rhetorik von Kampf und Bewegung, ist der Begriff der „Gesellschaft“ durch den des „Bewußtseins“, des Geistes, ersetzt, auf dem allein die Anstrengung der Vernunft lastet. Auch der Begriff einer — womöglich sozialistischen — Demokratie verschwindet in der Entgegensetzung von „bedingungsloser Mehrheitsherrschaft“ und jener Bewegung des Geistes, deren Utopie die Erlösung durch das ewig Gute war.

Zehn Jahre nach Auschwitz und Hisroshima, am 18.Oktober 1955, trägt Alfred Kantorowicz in sein Tagebuch ein: „Heute Mittagessen mit Beissner aus Tübingen, der morgen seinen Hölderlin-Vortrag bei uns halten wird. Gestern abend zur Premiere von Hauptmanns Vor Sonnenuntergang. Er hat darin die Managerwelt, in der wir leben, vorweggenommen (ob geschäftlich, ob politisch, bleibt sich gleich). Der Humanist, der Bildungsbürger des 19.Jahrhunderts, muß in dieser Welt untergehen.“

1947 lebt der „Bildungsbürger“ noch ganz im Abenteuer des realsozialistischen Alltags. In alptraumhaften, häufig kafkaesken Bemühungen kämpft er um Parteizuteilungen für 'Ost und West‘, ficht mit Verve für das Projekt eines Ossietzky-Buches, das die Partei hintertreibt, zensuriert gewissenhaft und eigenhändig sein Spanisches Kriegstagebuch, um es — 1948 — überhaupt veröffentlichen zu können, und rennt gegen die Windmühlenflügel der „SED-Kulturfeldwebel“, die „Theobald Tiger“ für einen unbegabten zeitgenössischen Kabarettautor halten, dessen Gedicht sie mit der Bemerkung zurückschicken: „Unkünstlerisch. Muß von einem Schriftsteller noch überarbeitet werden.“

Das Jahr 1949 markierte für Alfred Kantorwowicz, den ewig und pflichtbewußt Hoffenden, eine Zäsur. Exakt vier Wochen nach Gründung der DDR bereitete die SED seiner Zeitschrift ein plötzliches Ende. Die neue sozialistische Staatssouveränität vertrug sich nicht mehr mit dem schwärmerischen Humanismus eines Mannes, dem die Partei schon 1948 untersagt hatte, zum hundertjährigen Revolutionsjubiläum in der Frankfurter Paulskirche einen Festvortrag zu halten, in dem er darauf hinweisen wollte, daß es „das geistige Deutschland“ sei, das „noch Kredit in der Welt genieße“.

Trotz seiner parteiinternen Kritik am von Otto Grotewohl referierten „Kulturplan“ der SED, in dem er nichts erkennen konnte, außer einem „Lehrplan für brave Musterschüler“, ernannte man ihn zum Professor für neue deutsche Literatur an der Berliner Humboldt-Universität. Zum fünfzigsten Geburtstag ließ gar der greise Präsident Wilhelm Pieck ein Glückwunschschreiben überbringen, in dem er Kantorowicz' Spanienbuch als „ein bleibendes Dokumentarwerk vom heldenmütigen Kampf der Interbrigaden“ lobte. Kantorowicz bedankte sich postwendend: „Euer Mitkämpfer war ich in den vergangenen zwanzig Jahren; euer Mitkämpfer werde ich in den kommenden Jahren bleiben — in meiner, wie es bisweilen scheinen mag, eigenwilligen Art.“ Eigenwillig war auch die Partei: Zwei Jahre später untersagte das Politbüro der SED eine zweite Auflage des Buches in der „Bibliothek Fortschrittlicher Deutscher Schriftsteller“ — der Rest wurde eingestampft — mit der Begründung: „Es ist nicht das Spanienbuch, was wir brauchen“; es sei „vom Gesichtspunkt der Intellektuellen aus geschrieben“ und lasse „den Parteistandpunkt vermissen“.

Man ließ Kantorowicz nicht „mitkämpfen“, der selber nichts sehnlicher wünschte, als mit seiner Partei versöhnt zu werden. Noch nach der Liquidierung der Zeitschrift durch die SED, in deren letzter Ausgabe er zum siebzigsten Geburtstag des großen Führers der KPdSU eine Apologie mit dem bizarren TitelStalin, der Humanist verfaßt hatte, kam für ihn ein Wechsel nach Westdeutschland nicht in Frage. Obwohl er die Feierlichkeiten der DDR-Gründung mit der Nazi-Ästhetik verglich, sah er in der Bundesrepublik den wahren Hort eines nazistischen Lebensgefühls, in dem ein antifaschistischer Emigrant und Spanienkämpfer, dazu Schriftsteller und Jude, „von vornherein diskriminiert“ wäre. Lieber ließ er sich von Arnold Zweig zum „Durchhalten“ ermuntern; eine Alternative zu immanenten Veränderungsversuchen gebe es nicht.

So begab er sich in den „Elfenbeinturm“ des Germanistischen Instituts, wo er seinen Studenten mit Wort und Tat zur Seite stand, wenn die Parteikommissare, zuweilen in Begleitung „proletarischer“ Schlägertrupps, „die Linie“ auffrischen wollten. Erst später erfuhr er, daß einer seiner Assistenten, „ein gewisser Hermann Kant, vom Hochschulsekretariat des SED-Apparats als Spitzel auf mich angesetzt“ war.

Während er — nach dem Tod des Dichters — das Heinrich-Mann-Archiv aufbaut und seine Vorlesungen vorbereitet, flüchtet er vor den absurden Monstrositäten der „Ulbricht-Clique“ und ihrer „im Kielschweiß“ der Macht schwimmenden „neubyzantinischen“ Hofdichter Becher, Kuba, Hermlin und Marchwitza in den Schoß des guten Wortes, das er selbst bei Stalin findet. In dessen letzter Schrift Der Marxismus und die Frage der Sprachwissenschaft liest er voller Begeisterung: „Es ist allgemein anerkannt, daß keine Wissenschaft ohne Kampf der Meinung, ohne Freiheit der Kritik sich entwickeln und gedeihen kann.“

Wenige Monate später sind sämtliche Veröffentlichungen Kantorowicz' verboten. Die Luft wird immer dünner. Am 30.November 1952 druckt die SED-Zeitung 'Neues Deutschland‘ den Brief des Sohnes von Ludvik Freijka, dem gemeinsam mit dem früheren KP-Chef der CSSR, Slansky, in Prag der Prozeß gemacht wird: „Ich verlange für meinen Vater die Todesstrafe. Erst jetzt sehe ich, daß diese Kreatur, die man nicht einen Menschen nennen kann, mein größter und erbittertster Feind war. Als ergebener Kommunist weiß ich, daß mein Haß gegen alle Feinde, besonders gegen jene, die unser stets reicher und freudiger werdendes Leben vernichten wollen, mich stets in meinem Kampf für die kommunistische Zukunft unseres Volkes stärken wird.“

Das war der Ton, der zu den Aufständen am 17.Juni 1953 in Berlin und 1956 in Ungarn führte — und sie überdauerte. Der kurze Zeit wankende Ulbricht ging aus beiden Ereignissen gestärkt hervor. „Die Arbeiter- und Bauernmacht in Ungarn hat, in proletarischer Solidarität durch die Sowjetunion unterstützt, die Banden der Konterrevolution zusammengeschlagen“, meldete ZK- Sekretär Hermann Axen stolz am 26.Oktober 1956 im 'Neuen Deutschland‘. Zwei Tage später schreibt Alfred Kantorowicz ins Tagebuch: „Während in Ungarn die Tibor Dery, Julius Hay und offenbar alle anderen Schriftsteller sich im Vertrauen ihres Volkes bewähren und als seine Sprecher hervortreten, tun sich einige unserer Schriftsteller auf ihre Weise unter den Augen ihres Schirmherrn Ulbricht hervor. Die meisten schweigen zwar erschüttert, aber heute finde ich auf der ersten Seite des 'Neuen Deutschland‘ das Foto und den von der hohen Behörde approbierten Ungarn-Artikel des eisigen Karrieristen Stephan Hermlin.“

Im Gegensatz zu diesem „Commis voyageur des Regimes für Kultur-Propaganda in westlichen Ländern“ verweigert Kantorowicz die Unterschrift unter die „Ungarn-Resolution“ des DDR-Schriftstellerverbandes. Der Rubikon ist überschritten. Als er im August 1957 von einer unmittelbar bevorstehenden Hausdurchsuchung erfährt, rettet er mit Hilfe von Freunden seine Tagebücher und große Teile seiner Bibliothek nach Westberlin, wo er anschließend um politisches Asyl bittet.

„Viel mußte geschehen, viele Erfahrungen mußten gesammelt, viele Enttäuschungen erlitten werden, bis aus der Verfilzung von Für und Wider, von Hoffnung und Zweifel die Erkenntnis sich durchrang, daß die Funktionärsdiktatur nicht ein vorübergehender Zustand, eine zu überwindende ,Kinderkrankheit des Kommunismus‘ war, sondern tatsächlich sein Wesen“, resümierte Kantorowicz in seiner Einführung des ersten Bandes. Daß diese bittere Einsicht noch zwei weitere Generationen lang — bis zum Herbst 1989 — das Privileg einer kleinen Minderheit unter den linken Intellektuellen (und wohlfeiles Bekenntnis der konservativen Mehrheitsmeinung) blieb, verweist auf die Tiefe dieses Jahrhundertdramas. Die langen, sich wiederholenden Meditationen in Kantorowicz' wahrhaft deutschem Tagebuch dokumentieren weder „dialektisches Denken“ noch die Praxis eines widerspruchsvollen Geschichtsprozesses, sondern die nahezu unheimliche Kontinuität einer einmal entwickelten Position. Quer durch alle Brüche eines halben Jahrhunderts — zwei Weltkriege, Faschismus, Exil, Gefangenschaft, Bürgerkrieg, Flucht und „innere Emigration“ — erhielt sich der Glaube ans historische Subjekt, der am Ende freilich nur noch als Eschatologie des „Geistigen“ überlebte. Die parallele Kontinuität, nicht minder zäh, verkörperten jene kommunistischen Funktionäre, die den Brief vom historischen Subjekt ganz wörtlich nahmen: Walter Ulbricht, Erich Mielke und die anderen Exekutoren der jeweils „konkreten Utopie“, deren ebenso brutaler wie wahnwitziger „Geschichtsoptimismus“ den tatsächlichen historischen Raum fast ganz zerstört hat. In ihm war kein Platz für irgendeine Reflexion der Moderne, gesellschaftliche Komplexität und autonome Bedürfnisse. So ist es kein Zufall, daß Kantorowicz stets auf die humanistischen Quellen des 18. und 19.Jahrhunderts zurückgriff, während das Politbüro der SED die Irrtümer und Verbrechen der zwanziger und dreißiger Jahre zum Maßstab des „gesellschaftlichen Fortschritts“ erhob. Je mehr die Partei wütete, desto länger zitierte Kantorowicz Thomas Mann.

Diese Parallelität von Idee und Wirklichkeit, gutem Geist und böser Macht, ist das Erbe des deutschen Idealismus, der sich seine Utopien — trotz oder wegen aller Erfahrungen — bis heute nicht nehmen lassen will. Alfred Kantorowicz, der am 27.März 1979 in Hamburg starb, hat seinen großen Irrtum des Hoffens wider besseres Wissen nicht erklären können. Dennoch war er, dessen Biographie zeigt, daß es Mut und Tapferkeit auch jenseits der Heldenrolle gibt, bis zum Schluß überzeugt: „Der Traum war es wert, geträumt zu werden.“